September 2025

Sergio und Isabella in einem Restaurant. Auf dem tisch stehen verschiedene Tapas und sie haben Rotwein vor sich.

Kapitel 17 – Auf den Spuren der Vergangenheit

Vorspann:
Ein verregneter Nachmittag führt Isabella und Sergio tiefer hinein in die Geschichte seiner Familie. Alte Dokumente und vergilbte Fotos öffnen Türen zu Geheimnissen, die seit Generationen verborgen liegen – und gleichzeitig wächst eine Nähe zwischen den beiden, die niemand vorausgeahnt hätte.

Hier geht es zurück zu Kapitel 16 – Stein und Stille!

Auf den Spuren der Vergangenheit

Es war ein regnerischer Nachmittag, als Sergio sie bat, ihm bei etwas zu helfen, das er schon lange vor sich herschob. Sie saßen in seinem kleinen Arbeitszimmer, das mehr nach einem chaotischen Archiv als einem Büro aussah. Überall lagen alte Papiere, Bücher, und Karten. Der Geruch von Staub und altem Papier hing in der Luft, während draußen der Regen gegen das Fenster trommelte.

„Es geht um meinen Urgroßvater“, begann er, während er eine vergilbte Fotografie aus einer Box holte. Es zeigte einen jungen Mann in einem Anzug, schmal und ernst, mit einem langen, dunklen Bart. „Er verschwand 1947, während des Bürgerkriegs. Niemand weiß, was mit ihm passiert ist.“

Isabella nahm das Bild in die Hand und betrachtete es aufmerksam. „Warum weiß niemand, was passiert ist?“

„Er war in der Armee der Republik, aber seine Einheit wurde aufgelöst, als Franco die Macht übernahm. Danach gibt es keine Aufzeichnungen mehr. Er wurde nie gefunden. Niemand hat ihm nachgetrauert, niemand hat nach ihm gesucht.“ Seine Stimme wurde leiser, als er das letzte Wort sprach.

Isabella sah ihn an und spürte die Schwere seiner Worte. „Das ist… tragisch.“

„Ja“, sagte er und ließ sich auf den Stuhl sinken. „Aber es ist mehr als das. Es ist, als würde ein Teil der Geschichte meiner Familie fehlen, als könnte ich nicht wirklich verstehen, wer ich bin, wenn ich nicht weiß, was mit ihm passiert ist.“

Er schaute sie an, die Augen voller Hoffnung. „Ich habe einige Aufzeichnungen, alte Briefe, militärische Dokumente, aber ich komme nicht weiter. Vielleicht… vielleicht kannst du mir helfen?“

Isabella nickte, ohne zu zögern. „Klar. Wie genau kann ich dir helfen?“

Er holte eine Sammlung von Papieren hervor und breitete sie vor ihr aus. „Ich habe einige alte Adressbücher, die er damals benutzt haben muss, und es gibt ein paar Einträge über seinen Verbleib in einem Archiv in Barcelona. Aber ich komme nicht weiter und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“

„Lass uns das Schritt für Schritt durchgehen“, schlug Isabella vor. Sie hatte nie Interesse an Ahnenforschung gehabt, aber die Idee, etwas so Persönliches und Wichtiges für Sergio herauszufinden, berührte sie tief.

Sie verbrachten den Rest des Nachmittags damit, die alten Dokumente zu sortieren. Sergio half ihr, die spanischen Worte zu verstehen, und sie suchten online nach weiteren Hinweisen. Bei jeder neuen Entdeckung wuchs die Verbindung zwischen ihnen. Die Arbeit an diesem persönlichen Rätsel brachte sie näher zusammen, als Worte es je hätten tun können.

„Was, wenn wir nie herausfinden, was passiert ist?“, fragte sie leise, als sie ein weiteres, hoffnungsloses Archivdokument betrachteten.

„Dann bleibt die Geschichte für immer ein Teil von uns, auch wenn wir die Antworten nicht finden“, antwortete er, ohne sie anzusehen. „Aber ich kann nicht aufhören zu suchen.“

Isabella spürte eine unerklärliche Nähe, als sie über seine Schulter schaute, während er durch die nächsten Seiten blätterte. Sie wusste nicht, ob sie mehr für das Geheimnis seiner Familie empfand oder für Sergio selbst. Es war ein Gefühl, das sie nicht in Worte fassen konnte, aber es war da, zwischen ihnen, spürbar und ungesagt.

„Ich werde dir helfen, Sergio“, sagte sie schließlich und berührte leicht seine Hand. „Egal, wie lange es dauert.“

Er sah sie an, seine Augen weich und dankbar. „Danke. Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet.“

In diesem Moment war es nicht nur die Recherche, die sie zusammenbrachte. Es war das Gefühl, gemeinsam auf etwas Größeres hinzuarbeiten. Etwas, das sie beide verband – nicht nur durch die Geschichte, sondern durch ihre gemeinsame Reise in die Vergangenheit.

Ein gemeinsamer Moment

Es war ein Abend, an dem der Regen nachgelassen hatte, und die Luft draußen war frisch und kühl. Isabella und Sergio hatten sich dazu entschieden, nicht mehr weiter in den Dokumenten zu blättern. Stattdessen hatten sie ein kleines, gemütliches Restaurant in der Nähe ausgewählt, das für seine Tapas bekannt war – eine kleine, aber feine Oase im Herzen der Altstadt.

Sie saßen an einem runden Tisch in der Ecke, das Licht war gedämpft, und die Atmosphäre war entspannt. Isabella hatte das Gefühl, dass der Tag anstrengend gewesen war, aber auf eine gute Weise. Es war eine der ersten Nächte, in denen sie sich wirklich in Spanien angekommen fühlte. Nicht nur in einem neuen Land, sondern auch in einer neuen Lebensphase.

„Ich weiß nicht, ob du es je erwähnen hast, aber was isst du eigentlich am liebsten?“, fragte Isabella, als sie das Menü studierte.

Sergio sah auf, ein kleines Lächeln auf den Lippen. „Du wirst lachen, aber… Paella. Einfach. Nichts dabei.“

„Das ist nicht einfach“, sagte Isabella lachend. „Das ist ein Klassiker!“

„Ja, aber für mich ist es auch irgendwie… Erinnerungen. Als Kind, bei meinen Großeltern. Alles, was mit Paella zu tun hat, hat immer ein Stück meiner Kindheit. Du weißt, der Duft, der durch das Haus zieht. Aber eigentlich…“, er zögerte einen Moment, „eigentlich mag ich auch die einfachen Dinge: Brot, Oliven, Käse. Es muss nicht viel sein.“

Isabella nickte nachdenklich. „Ich verstehe. Ich habe nie viel Wert auf diese kleinen, aber besonderen Dinge gelegt. Vielleicht… habe ich sie nie richtig zu schätzen gewusst.“

Sergio sah sie aufmerksam an, als er das hörte. „Manchmal muss man erst weit weggehen, um das zu verstehen“, sagte er leise.

Kurz darauf brachte der Kellner die ersten Tapas. „Probier mal diese Albóndigas“, sagte Sergio, als er ihr einen kleinen Teller mit Fleischbällchen hinstellte. „Die sind unglaublich.“

Isabella nahm eine und probierte vorsichtig. „Mmmh… du hast recht. Die sind gut.“

Während sie aßen, redeten sie nicht nur über die Reise, sondern auch über alltägliche Dinge. Isabella erzählte von ihren Kollegen, die immer in Hektik lebten und nie wirklich Zeit für sich selbst fanden. Sergio lachte und erzählte von den eigenwilligen Charakteren in seiner Familie, von seinem Onkel, der stets darauf bestand, dass der „alte Weg“ der einzig wahre war, und seiner Tante, die immer mit einem Lächeln davon sprach, „die ganze Welt zu erobern“.

Das Gespräch fließend, begleitet von Lachen, das die Tischdecke füllte. Zwischen den Gängen fühlte sich die Atmosphäre locker an, beinahe so, als ob sie sich schon Jahre lang kannten.

„Es ist schon verrückt“, sagte Isabella nach einer Pause. „Ich habe das Gefühl, als würde ich mich in einem völlig anderen Leben wiederfinden. Als würde ich die letzten Jahre in Deutschland wie durch einen Nebel sehen. Wie ein anderer Mensch.“

Sergio nickte. „Manchmal braucht es einen Ort wie diesen, um wirklich zu verstehen, wer man ist. Oder wer man sein könnte.“

Sie spürte, dass in seinen Worten mehr lag als nur ein oberflächlicher Austausch. Etwas Unausgesprochenes, das sie beide in diesem Moment teilten. Eine Reise, die über das Entdecken von Orten hinausging. Es war eine Reise zu sich selbst, und sie waren einander dabei nicht mehr ganz so fremd.

„Ich glaube, ich habe nicht gewusst, wie viel ich vermisst habe“, sagte sie schließlich. „Wie wenig ich wirklich für mich selbst lebe.“

Sergio sah sie an, und sein Blick war warm, fast fürsorglich. „Es ist nicht zu spät, Isabella. Wir können immer noch lernen, was es bedeutet, wirklich zu leben.“

Sie hielt für einen Moment inne, dann nickte sie leise, als ob sie den stillen, aber mächtigen Hinweis in seinen Worten begriff. Etwas in ihr schwang mit, als ob sie gerade den ersten Schritt auf einem neuen Weg getan hatte. Die vertrauliche Nähe zwischen ihnen war gewachsen, nicht durch große Gesten oder Worte, sondern durch das stille Verständnis, das sich in diesem Moment zwischen ihnen aufbaute.

Der Abend neigte sich dem Ende zu, und als sie aus dem Restaurant traten, war die Nacht noch jung. Der Himmel war klar, und die Straßen von der feuchten Abendluft glitzernd. Isabella zog die Jacke enger um sich und ging neben Sergio, als sie den sanften Klang ihrer Schritte auf dem Kopfsteinpflaster hörte.

„Ich bin froh, dass wir heute Abend hier sind“, sagte sie, als sie ihn anblickte.

„Ich auch“, sagte er leise. „Vielleicht sind wir hier genau zur richtigen Zeit.“

In diesem Moment, bei dem stillen Erlöschen der Lichter der Stadt, fühlte sich alles richtig an. Es war nicht nur das Essen, nicht nur die Gespräche – es war der Moment, der sie beide verband. Die erste echte Vertrautheit.

Abspann:
Zwischen Archivrecherche und Tapas-Abend entsteht mehr als nur ein gemeinsames Projekt. Isabella und Sergio spüren, dass sie nicht nur nach Antworten in der Vergangenheit suchen – sondern auch nach ihrem Platz im Hier und Jetzt.

Hat Dich dieses Kapitel berührt, irritiert oder neugierig gemacht?
Dann teile Deine Gedanken gern in den Kommentaren. Wenn Du anderen davon erzählen möchtest, hilfst Du Encina Alta dabei, sich weiter zu entfalten – durch ein Like, einen Repost oder einen Hinweis an Freund:innen.

Neue Kapitel erscheinen jeden Sonntag.
Folge dem Weg – Schritt für Schritt, Wort für Wort.
Zur Übersicht aller Kapitel →

Ein Strand im Sonnenuntergang, Felsen im Hintergrund, schwarzer Sand und sanfte Brandung

Kapitel 16 – Stein und Stille

Vorspann

Manchmal sind es stille Orte, die mehr bewegen als große Ereignisse. In diesem Kapitel begleite ich Isabella und Sergio zu einer alten Kapelle und weiter ans Meer – zwei Stationen, die für sie zu Wendepunkten werden. Vielleicht entdeckt ihr zwischen den Zeilen, was sich da verändert.

Zurück zu Kapitel 15 – Ein Platz, der nicht mehr leer ist

Stein und Stille

Die Kapelle lag versteckt auf einem Hügel, eingerahmt von wildem Ginster und alten Olivenbäumen. Ein unscheinbarer Bau aus grobem Stein, der sich in die Landschaft schmiegte, als sei er schon immer Teil von ihr gewesen. Der Weg dorthin war steil und schmal, und als sie die letzten Stufen erklommen, blieben beide für einen Moment schweigend stehen.

„Ich war als Kind oft hier“, sagte Sergio leise. „Meine Großmutter brachte mich her, wenn sie betete. Ich verstand nichts davon – aber ich mochte den Geruch. Wachs, Staub, altes Holz.“

Isabella trat vorsichtig ein. Die schwere Tür knarzte und gab den Blick frei auf einen kargen Raum mit einfachen Bänken und einer kleinen Figur der Virgen del Camino, deren Gesicht im Halbschatten lag. Nur ein paar Kerzen brannten. Es war kühl, still, fast ehrfürchtig.

Sie setzten sich nebeneinander in die letzte Reihe. Die Stille war so vollkommen, dass man das eigene Atmen hörte.

„Ich bin nicht religiös“, flüsterte Isabella.

„Ich auch nicht wirklich. Aber… manchmal glaube ich, Orte tragen Erinnerungen. Auch für die, die sie nicht selbst erlebt haben.“

Isabella fuhr mit der Hand über die raue Holzlehne der Bank. Sie dachte an das graue Büro, an die Neonlichter, an die Abende vor dem Fernseher. Und daran, wie weit das alles plötzlich entfernt schien.

„Es fühlt sich an wie… eine Schwelle“, sagte sie schließlich. „Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Zwischen hier und nirgendwo.“

Sergio nickte. „Vielleicht genau deshalb komme ich her. Um nicht ganz zu verschwinden.“

Sie sah zur Madonna. Ihre Züge waren schlicht, aber nicht hart. Es lag eine stille Güte darin, etwas Trostspendendes.

Isabella schloss die Augen. Und für einen Moment spürte sie etwas, das sie nicht benennen konnte – nicht Glaube, nicht Hoffnung. Aber Nähe. Als würde ein Teil von ihr, den sie lange nicht gespürt hatte, plötzlich aufatmen.

Als sie die Kapelle später verließen, war das Licht weicher geworden. Der Wind hatte sich gelegt. Und obwohl sie kein einziges Gebet gesprochen hatten, fühlte es sich an, als wäre etwas in Bewegung geraten.

Der Weg zum Meer

Am frühen Morgen brachen sie auf. Sergio hatte vorgeschlagen, ans Meer zu fahren – ein kleiner Ort, nicht in den Reiseführern, eine Bucht mit schwarzem Sand und kantigen Felsen, „wie aus einer anderen Welt“, hatte er gesagt.

Sie saßen in seinem alten Wagen, das Fenster auf seiner Seite halb geöffnet, Musik leise aus den Lautsprechern – etwas Spanisches, das sich für Isabella melancholisch und lebendig zugleich anfühlte. Die Straße wand sich durch Wälder und Hügel, und mit jedem Kilometer schien der Alltag weiter hinter ihr zu verschwinden.

„Warst du schon oft dort?“, fragte sie.

„Nur ein paar Mal. Aber jedes Mal denke ich: Ich muss zurück. Vielleicht, weil ich dort niemandem etwas beweisen muss.“

„Auch nicht dir selbst?“

Er lächelte kurz, ohne zu antworten.

Als sie ankamen, lag die Bucht verlassen unter einem graublauen Himmel. Das Meer atmete ruhig, in langen, rollenden Wellen. Keine Touristen, nur ein paar Möwen, die sich gegen den Wind stemmten.

Sie gingen nebeneinander am Wasser entlang. Isabella zog die Schuhe aus, tauchte ihre Füße ins kalte Meer und schrie leise auf, lachte dann – das erste freie Lachen, das Sergio von ihr hörte.

Später saßen sie auf einer flachen Felsplatte, teilten Brot, Oliven und Käse, den sie unterwegs gekauft hatten. Ihre Beine berührten sich flüchtig, ein fast zufälliger Kontakt – aber keiner von beiden wich zurück.

„Ich frage mich oft, ob ich zu viel laufe“, sagte Sergio irgendwann. „Ob es eine Grenze gibt zwischen Suchen und Fliehen.“

Isabella sah hinaus auf die glitzernde Wasseroberfläche. „Vielleicht ist es nur Flucht, wenn man gar nicht weiß, was man sucht.“

Er sah sie an, länger als nötig. „Und du? Was suchst du?“

„Ich weiß es noch nicht“, sagte sie ehrlich. „Aber ich glaube, ich fange gerade erst an.“

Ein Windstoß fuhr über das Wasser und ließ ihr Haar tanzen. Sergio hob die Hand, strich eine Strähne aus ihrem Gesicht – langsam, zögerlich. Und in diesem Moment war die Nähe nicht mehr zufällig, sondern gewollt.

Der Nachmittag verging wie im Flug. Als sie zurückfuhren, sagte keiner von beiden viel. Aber als Isabella am Abend in ihrem Zimmer die Salzkruste auf ihrer Haut spürte, wusste sie: Etwas hatte sich verändert.

Abspann

Zwischen Stein und Wasser, Stille und Bewegung, hat sich etwas gelöst. Noch ohne Namen, doch wie ein Versprechen, das im nächsten Kapitel weiterklingen wird.

Hat Dich dieses Kapitel berührt, irritiert oder neugierig gemacht?
Dann teile Deine Gedanken gern in den Kommentaren. Wenn Du anderen davon erzählen möchtest, hilfst Du Encina Alta dabei, sich weiter zu entfalten – durch ein Like, einen Repost oder einen Hinweis an Freund:innen.

Neue Kapitel erscheinen jeden Sonntag.
Folge dem Weg – Schritt für Schritt, Wort für Wort.
Zur Übersicht aller Kapitel →

Ein Haus in Oviedo. Auf den Platz davor steht ein Stuhl, keine Menschen zu sehen.

Kapitel 15 – Ein Platz, der nicht mehr leer ist

Vorspann:

Oviedo im Licht eines stillen Vormittags.
Alte Balkone, flatternde Tücher, das Echo früherer Schritte.
Isabella und Sergio schweigen mehr, als sie sprechen –
und doch rückt etwas näher, das lange fern war:
ein Gefühl von Vertrautheit,
ein Schatten von Erinnerung,
ein Platz, der nicht mehr leer ist.

Zurück zu Kapitel 14 – Zögernde Schritte

Pflastersteine und erste Worte

Die Altstadt von Oviedo wirkte wie aus einem anderen Jahrhundert. Kopfsteinpflaster, das bei jedem Schritt unter Isabellas Schuhen leise klackte, Häuser mit schmiedeeisernen Balkonen, an denen bunte Wäsche flatterte. Die Straßen waren eng, aber voller Leben: Alte Männer spielten Domino vor Cafés, ein Straßenmusiker zupfte eine melancholische Melodie auf seiner Gitarre, irgendwo roch es nach gerösteten Maronen.

Sergio ging neben ihr, in entspanntem Tempo. Immer wieder zeigte er auf etwas – eine geschnitzte Tür, eine winzige Bäckerei mit seit Generationen unverändertem Schaufenster – und erzählte kleine Anekdoten. Mal auf Englisch, mal auf Spanisch, während Isabella versuchte, die Bruchstücke zu verstehen. Sie fragte nach, manchmal nur mit einem Blick, einem Stirnrunzeln – und er wiederholte geduldig, mit Händen, mit Lächeln.

„Diese Straße hier“, sagte er und zeigte auf eine besonders verwinkelte Gasse, „ist wie mein Gedächtnis. Ungeordnet, manchmal verloren, aber voller Geschichten.“

Isabella schwieg. Nicht, weil ihr nichts einfiel, sondern weil sie das Gefühl hatte, er meinte damit mehr als nur die Straße.
„Hast du schon Orte gefunden, die dich… erinnern?“ fragte sie vorsichtig.

Er zuckte mit den Schultern. „Ein paar. Oder vielleicht bilde ich es mir ein. Manchmal weiß man nicht, ob man etwas erkennt – oder ob man es sich nur wünscht.“

Sie nickte. Diese Art von Suche war ihr nicht fremd, nur hatte sie sie lange ignoriert.

Einige Minuten gingen sie schweigend weiter. Dann fragte er: „Und du? Wie ist deine Stadt?“

Isabella schnaubte leise. „Grau. Flach. Und die Menschen schauen selten nach oben.“
Sergio lachte. „Dann passt du nicht dorthin. Du schaust oft nach oben.“

Sie errötete, überrascht, dass er das bemerkt hatte.

Als sie später vor einer kleinen Kapelle standen und Sergio ihr erklärte, dass sie aus dem 9. Jahrhundert stammte, berührte Isabella zum ersten Mal eine der rauen Steinmauern. Sie schloss kurz die Augen, fühlte die Kühle unter ihren Fingern, die Geschichte. Neben ihr schwieg Sergio, und sie hatte das Gefühl, dass er genau verstand, was sie in diesem Moment suchte.

Es war kein spektakulärer Spaziergang. Keine großen Offenbarungen. Aber es war ein Anfang – auf alten Wegen, mit vorsichtigen Worten, getragen von einer Stille, die kein Unbehagen bedeutete.

Geschichten in der Nachmittagssonne

Sie saßen auf einer kleinen Steinmauer oberhalb der Altstadt, mit Blick auf die hügelige Landschaft Asturiens. Die Nachmittagssonne lag warm auf den roten Dächern, während unten in der Ferne die Glocken der Kathedrale läuteten. Es war ruhig. Nur ab und zu wehte eine Brise herüber und spielte mit einer Haarsträhne in Isabellas Gesicht. Sergio beobachtete sie kurz, sagte aber nichts.

„Ich habe lange gedacht, dass mein Leben so bleiben muss, wie es ist“, begann sie schließlich, leise. „Gelsenkirchen, Bürojob, allein. Kein Drama. Kein Aufbruch. Einfach… durchhalten.“

Sergio antwortete nicht sofort. Stattdessen reichte er ihr eine Feige, die er auf dem Markt gekauft hatte. Sie nahm sie, biss hinein. Sie schmeckte süß, weich, überraschend.

„Und warum nicht mehr?“ fragte er dann.

„Weil niemand mir je gesagt hat, dass mehr möglich ist. Oder dass ich es darf.“
Sie schaute auf ihre Hände. „Bis ich deinen Blog gelesen habe.“

Er sah sie an, ernst. „Das war nie meine Absicht. Ich wollte nur… verstehen, woher ich komme.“

Sie nickte. „Aber genau das hat mich berührt. Du bist auf der Suche. Nicht nur nach einem Ort, sondern nach einer Geschichte. Nach einer Wahrheit.“

Sergio lächelte flüchtig. „Mein Urgroßvater ist 1947 verschwunden. Einfach nicht mehr zurückgekehrt. Niemand sprach darüber. Aber ich habe als Kind gespürt, dass da etwas Ungesagtes war. Etwas, das fehlt. Und irgendwie glaube ich, dass der Wald damals in Galicien… dass er mehr wusste als ich.“

Isabella sah ihn erstaunt an.
„Der Wald?“

„Ja“, sagte Sergio. „Er war neblig, still. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich nicht allein war. Als wäre mein Uropa da. Nicht sichtbar, aber irgendwie… fühlbar.“

Eine Weile schwiegen sie. Nur das entfernte Kreischen einer Möwe war zu hören.

„Ich habe niemanden verloren“, sagte Isabella dann. „Aber ich habe mich selbst irgendwann verlegt. Zwischen Excel-Tabellen, SAP und Kaffeetassen.“

„Und jetzt?“

Sie sah ihn an.
„Jetzt versuche ich, mich wiederzufinden. Vielleicht auf demselben Weg, den du gehst. Oder einem ganz anderen.“

Sergio nickte langsam. „Vielleicht treffen sich Wege manchmal. Für einen Moment. Und das reicht.“

Sie spürte, wie sich etwas in ihr verschob – eine Art innerer Platz, der bisher leer gewesen war. Nicht vollständig gefüllt, aber nicht mehr leer. Sie blickte in den Himmel. Keine Gewissheit. Aber ein Anfang.

Abspann:

Manchmal verändert sich nichts –
und doch ist danach alles anders.
Ein Gespräch, ein Blick, ein geteiltes Schweigen.
Die Stadt bleibt dieselbe.
Aber der Platz in uns beginnt, sich zu füllen.

Hat Dich dieses Kapitel berührt, irritiert oder neugierig gemacht?
Dann teile Deine Gedanken gern in den Kommentaren. Wenn Du anderen davon erzählen möchtest, hilfst Du Encina Alta dabei, sich weiter zu entfalten – durch ein Like, einen Repost oder einen Hinweis an Freund:innen.

Neue Kapitel erscheinen jeden Sonntag.
Folge dem Weg – Schritt für Schritt, Wort für Wort.
Zur Übersicht aller Kapitel →

Spanische Marktszene im Sonnenschein: Stände mit Tomaten, Orangen, Paprika und Bananen, Menschen im Gespräch, im Vordergrund Isabella und Sergio, die einander zum ersten Mal begegnen.

Kapitel 14 – Zögernde Schritte

📖 Vorspann:
„Ankommen heißt noch nicht Zuhause sein. Doch zwischen Marktständen, Straßenmusik und vorsichtigen Gesten begegnen Isabella und Sergio einander wirklich.“

Kapitel 13 verpasst? Hier entlang!

Ankunft im Licht

Als das Flugzeug zur Landung ansetzte, wurde der Horizont klar. Die Wolkendecke war aufgerissen, und darunter erstreckte sich eine Landschaft, die in sattem Grün und weichen Hügeln leuchtete. Wälder, Felder, winzige Dörfer mit Terrakotta-Dächern – alles schien in sanftes Licht getaucht, als wolle es die Fremde willkommen heißen.

Isabella hielt den Atem an. Es war, als hätte sie ein Gemälde betreten.

Der Flughafen von Santander war klein und übersichtlich. Kaum hatte sie das Terminal verlassen, roch sie das Meer – salzig, frisch, mit einem Hauch von Algen und etwas, das sie nicht benennen konnte. Vielleicht war es die Freiheit.

Sie hatte nur einen kleinen Koffer dabei. Der Bus ins Stadtzentrum ruckelte über enge Straßen, vorbei an Palmen, alten Mauern und Häusern mit verwaschenen Fassaden, die Geschichten zu erzählen schienen. Die Fenster standen offen, das Licht fiel weich durch weiße Vorhänge. Menschen saßen draußen in Cafés, tranken Kaffee, lachten. Kein hektisches Drängen, kein grauer Trott.

Die Farben waren anders hier. Das Blau des Himmels wirkte tiefer, das Grün lebendiger. Selbst der Wind fühlte sich weich an.

Isabella stieg am zentralen Platz aus, ihre Knie noch etwas wacklig vom Flug. Ein Platz mit alten Kastanienbäumen, Kopfsteinpflaster, ein Brunnen in der Mitte. Kinder spielten, ein Straßenmusiker spielte Gitarre.

Sie blieb stehen und ließ den Moment in sich sinken.

Ich bin hier, dachte sie. Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich – nicht sicher, aber wach.

Dann zog sie ihr Handy aus der Tasche und schrieb eine kurze Nachricht:
„Bin angekommen. Alles fühlt sich echter an.“

Sergios Antwort kam nur wenige Minuten später:
„Willkommen. Ich zeig dir morgen mein Lieblingscafé. Wir treffen uns um 11 Uhr auf dem Markt.“

Isabella lächelte.
Der erste Tag war noch nicht vorbei – und es fühlte sich schon an wie der Anfang eines neuen Lebens.

Zwischen Ständen und Worten

Der Wochenmarkt lag auf einem kleinen Platz zwischen alten Steinhäusern. Schon von Weitem hörte Isabella das Stimmengewirr, das Rufen der Händler, das Krachen von Obstkisten. Die Luft war erfüllt vom Duft reifer Orangen, von gebratenem Fisch, frisch gebackenem Brot und der leichten Schärfe von Manchego-Käse. Menschen schoben sich dicht aneinander vorbei, es war lebendig, chaotisch, und doch wirkte alles harmonisch – ein gewachsener Rhythmus, zu dem sie noch keinen Zugang hatte.

Sie trug ihren Rucksack locker über der Schulter, das Handy in der Hand. „Ich bin gleich da“, hatte Sergio geschrieben. Ihr Herz klopfte schneller, als sie sich zwischen den Ständen bewegte, als suchte sie nach einem versteckten Signal.

Und dann sah sie ihn.

Er stand an einem Obststand, die Sonnenbrille in die Haare geschoben, ein Netz mit Zitronen in der Hand, das Handy lässig in der anderen. Kein Zweifel: Sergio Menéndez Clavero, der Mann von den Fotos. Nur wirkte er in echt noch etwas schlaksiger, lebendiger, wärmer. Seine Bewegungen waren ruhig, fast langsam – jemand, der sich Zeit nahm.

Isabella blieb kurz stehen.
Dann hob er den Blick – und erkannte sie sofort.

Ein Lächeln zog sich über sein Gesicht, offen, ohne Zögern. Er kam auf sie zu.
„Isabella?“ fragte er mit weichem Akzent.

„Ja…“ Ihre Stimme war leiser, als sie es geplant hatte. Sie lächelte zurück, ein bisschen unbeholfen.

Ein kurzer Moment, in dem beide nicht genau wussten, wie man sich begrüßt, wenn man sich eigentlich längst kennt, aber doch fremd ist. Schließlich gab er ihr einfach die Hand – seine warm, fest, ehrlich.

„Du bist wirklich gekommen.“

„Ich konnte nicht anders.“

Er lachte leise, fast überrascht. „Dann zeig ich dir jetzt meinen Lieblingsmarkt.“

Sie gingen nebeneinanderher, zwischen den Ständen. Er deutete auf getrocknete Tomaten, auf einen Stand mit alten Olivensorten, erklärte, wie man „pimientos de padrón“ richtig brät. Isabella hörte mehr als sie sprach – die Wörter klangen weich, rollten anders durch den Raum. Und dazwischen spürte sie etwas: Neugier, vorsichtige Vertrautheit. Keine Romantik, noch nicht – aber die Ahnung von etwas, das wachsen könnte.

Als sie schließlich gemeinsam auf einer kleinen Mauer saßen und Churros aßen, sagte Sergio, ohne sie anzusehen:
„Ich wusste nicht, ob du wirklich kommst. Aber ich bin froh, dass du’s getan hast.“

Isabella nickte. „Ich auch.“

In diesem Moment schien sogar der Lärm des Markts für einen Augenblick still zu stehen.

Zögernde Schritte

Isabella spürte ihre eigenen Hände zu deutlich, als sie nebeneinander durch die engen Gassen liefen. Jeder Schritt hallte leicht auf dem Pflaster wider, begleitet vom Summen der Stadt – Gesprächsfetzen, ein bellender Hund, irgendwo das metallene Klappern eines Rollladens. Sergio schien ebenfalls nicht ganz bei sich. Er nestelte an seinem Rucksackriemen, streifte sich immer wieder die Haare aus der Stirn, obwohl der Wind das längst erledigt hatte.

„Ich spreche kein Deutsch. Es ist seltsam, jetzt… mit dir zu sprechen“, sagte er schließlich auf Englisch. Sein Blick war kurz, fast scheu, aber freundlich.

„Dein Englisch ist besser als mein Spanisch“, entgegnete Isabella und lachte leise. Dann schob sie rasch ein „Gracias“ hinterher – ihr erster Versuch, mutig, unbeholfen.

Sergio lächelte schief. „Muy bien.“
Sie lächelte zurück, ein bisschen erleichtert.

Es war diese seltsame Zwischenzeit: nicht mehr anonym, aber noch keine Freunde. Sie wussten viel übereinander und doch war alles neu. Wie seine Stimme klang, wenn er ganz leise sprach. Wie sie an ihrem Ohrläppchen zupfte, wenn sie verlegen war.

„Ich weiß nicht genau, was du dir von dieser Reise erhoffst“, sagte er irgendwann, während sie an einer kleinen Kirche vorbeikamen, deren Türen offenstanden.
„Ich auch nicht“, gab sie ehrlich zurück. „Nur, dass ich da sein wollte, wo du warst.“

Er blieb stehen. Schaute sie an. Keine großen Worte. Nur ein Nicken, langsam. Dann gingen sie weiter. Zwei Menschen auf zögernden Schritten, nervös – aber mit einem kleinen, wachsenden Funken im Herzen: Neugier. Vielleicht auch etwas mehr.

📎 Abspann:
„Manchmal beginnt Nähe nicht mit großen Worten, sondern mit kleinen Gesten im Lärm einer fremden Stadt.“

Hat Dich dieses Kapitel berührt, irritiert oder neugierig gemacht?
Dann teile Deine Gedanken gern in den Kommentaren. Wenn Du anderen davon erzählen möchtest, hilfst Du Encina Alta dabei, sich weiter zu entfalten – durch ein Like, einen Repost oder einen Hinweis an Freund:innen.

Neue Kapitel erscheinen jeden Sonntag.
Folge dem Weg – Schritt für Schritt, Wort für Wort.
Zur Übersicht aller Kapitel →

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner