Oktober 2025

Gedankensplitter – Sergio

Gedankensplitter aus dem Off – diesmal von Sergio.


Er sagt wenig. Und wenn, dann charmant, ironisch, manchmal sogar klug. Aber was denkt er, wenn keiner hinsieht? Dieser Text ist ein Versuch, seinem Schweigen eine Stimme zu geben – jenseits von Hashtags, Likes und perfekten Bildern.

Er wollte nie lügen.
Aber wer hört zu, wenn man nicht glänzt?
Wer bleibt, wenn es bröckelt?

Die Fassade funktioniert. Meistens.
Draußen lacht er, drinnen ringt er.
Und keiner soll es merken.
Nicht seine Follower, nicht sein Bruder.
Schon gar nicht sie.

Manchmal sieht er sich selbst –
nicht im Spiegel, sondern im dunklen Bildschirm.
Das Gesicht, das ihm da entgegenblickt,
hat keine Filter. Keine Pose. Kein Skript.
Nur diesen Blick:
verloren, verletzt, verlegen.

Er wollte nie lügen.
Aber das mit der Wahrheit –
das übt er noch.

Ein einfaches Mahl bei Verwandten für André und Marta

Kapitel 21 – Ein Stück Heimat

Vorspann

Manchmal findet man die Wurzeln nicht dort, wo man sie vermutet.
Sergio besucht Verwandte, die er kaum kennt – und entdeckt in den stillen Gesten, den vertrauten Gerüchen und den Erinnerungen anderer ein Stück seiner eigenen Geschichte.

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Ein Stück Heimat

Es war ein warmer Tag, die Sonne hing hoch am Himmel und tauchte die malerische Landschaft von Nordspanien in ein goldenes Licht. Isabella und Sergio fuhren auf einer schmalen, gewundenen Landstraße, die sich an Hügeln und Weiden entlang schlängelte. Die Straßen waren leer, nur vereinzelt fuhren sie an kleinen Dörfern vorbei, in denen die Häuser dicht aneinandergebaut waren, als wollten sie sich gegenseitig wärmen.

„Ich hoffe, sie sind zu Hause“, sagte Sergio, seine Stimme klang ein wenig angespannt. „Meine Verwandten wohnen hier in der Nähe. Es sind Menschen, die ich nur sehr selten sehe. Sie haben mir nie viel über die Familie erzählt. Ich weiß nicht, ob sie sich noch an mich erinnern.“

Isabella nickte, obwohl sie wusste, dass er sie wahrscheinlich mehr für seine eigene Unsicherheit als für sie selbst beruhigte. Sie hatte gelernt, dass er nicht nur auf der Suche nach den Spuren seines Urgroßvaters war, sondern auch nach Verbindungen zu den Menschen, die er auf seinem Weg verloren hatte.

Als sie an einem kleinen, mit Efeu überwucherten Haus anhielten, zögerte Sergio kurz, bevor er die Tür öffnete und klopfte. Es dauerte nicht lange, bis ein älterer Mann mit silbernem Haar und einem warmen, aber skeptischen Blick öffnete. „Sergio? Der Junge aus Barcelona?“ Der Mann schien überrascht, aber auch erfreut, ihn zu sehen.

„Ja, Onkel Andrés“, sagte Sergio und umarmte den Mann. „Ich dachte, es wäre schön, euch wieder einmal zu sehen. Ich habe lange nicht mehr vorbeigeschaut.“

Der Onkel trat zur Seite, um sie eintreten zu lassen. „Du bist also der junge Mann, der aus der Ferne gekommen ist, um nach seinen Wurzeln zu suchen“, sagte er mit einem Lächeln. „Komm rein, kommt rein. Deine Tante Marta ist drinnen und wird sich freuen, dich zu sehen.“

Isabella folgte Sergio hinein und blickte sich in der alten, mit rustikalen Möbeln eingerichteten Wohnung um. Der Raum roch nach Holz und Gewürzen, und an den Wänden hingen Bilder von Familie und vergangenen Zeiten. Es war wie ein Fenster in eine Welt, die sie nur aus Erzählungen kannte. Die Menschen hier waren einfach, aber ihre Wärme war spürbar, auch wenn es eine ruhige, fast zurückhaltende Wärme war.

Tante Marta, eine Frau in den späten Sechzigern mit grauem Haar und einem freundlichen, aber etwas fragenden Blick, begrüßte sie herzlich. Sie ließ Isabella Platz an einem Tisch, der mit einem einfachen Mittagessen gedeckt war – frisches Brot, Käse, Oliven und ein paar gegrillte Würstchen. Es war kein festliches Mahl, aber es fühlte sich dennoch wie ein Moment der Verbindung an.

„Ich habe oft von dir gehört, aber dich noch nie gesehen“, sagte Tante Marta zu Sergio, während sie ihm eine Tasse Kaffee einschenkte. „Dein Urgroßvater war ein stolzer Mann. Wir haben nicht viel über ihn gesprochen, aber er hat uns immer von seinen Reisen erzählt. Du weißt, wie das damals war… In den 40er Jahren war nicht viel Platz für große Träume.“

Isabella lauschte interessiert, als sie spürte, dass diese Gespräche hier etwas anderes bedeuteten. Für Sergio war dies mehr als nur ein Besuch bei Verwandten – es war ein Teil seiner Reise, ein Versuch, die Lücken in der Geschichte seiner Familie zu füllen. Doch für Isabella war es ebenso eine Reise, und sie fühlte sich irgendwie wie eine stille Beobachterin, die in das Leben eines anderen eintauchte, während sie gleichzeitig nach ihrem eigenen Platz suchte.

Der Nachmittag verging in entspannten Gesprächen über alte Zeiten, Geschichten von der Gegend und von der Familie, die sie über die Jahre hinweg verloren hatten. Sergio stellte viele Fragen, und Tante Marta und Onkel Andrés antworteten geduldig, manchmal mit einem Lächeln, das ihre Erinnerungen auflebte. Es war, als ob all die Jahre der Abwesenheit plötzlich unbedeutend wurden. In diesem Raum, bei diesen Menschen, fühlte sich alles richtig an.

„Wir sind alle ein Stück von dem, was war“, sagte Onkel Andrés nach einer Weile. „Manchmal ist es schwer, das zu erkennen, wenn man die Menschen nicht mehr sieht. Aber es ist immer noch da, in uns.“

Isabella spürte, wie sich etwas in ihr regte. Es war das Gefühl von Zugehörigkeit, das sie in den letzten Monaten immer mehr entdeckt hatte. Die Menschen, mit denen sie jetzt zusammen war, fühlten sich auf eine Art wie ihre Familie an, ohne dass sie je den gleichen Ursprung teilen mussten. Es war nicht nur die gemeinsame Zeit, sondern das stille Verständnis, das sie verband.

Als sie sich verabschiedeten, bedankte sich Sergio für den Besuch. Tante Marta drückte ihm fest die Hand und sah ihm tief in die Augen. „Wir sehen uns nicht oft, aber du bist immer willkommen, Sergio. Die Türen hier sind immer für dich offen.“

Isabella konnte sehen, wie wichtig dieser Moment für Sergio war, wie viel er von diesen kurzen Begegnungen mit seiner Familie erhoffte. Doch auch sie selbst fühlte eine leise Berührung der Verbundenheit, nicht nur mit den Menschen hier, sondern mit der Welt, die sich vor ihr ausbreitete.

Als sie sich auf den Rückweg machten, sagte sie leise: „Ich habe das Gefühl, dass du ein Stück deiner Geschichte hier gefunden hast.“

Sergio nickte, doch seine Augen waren nachdenklich. „Ja“, sagte er. „Aber ich weiß noch nicht, ob das genug ist. Vielleicht ist die Geschichte nicht nur das, was uns verbindet, sondern auch das, was wir daraus machen.“

Isabella spürte eine leise Ergriffenheit, als sie gemeinsam durch die sanften Hügel fuhren. Es war nicht nur seine Reise, auf die sie ihn begleitet hatte. Es war auch ihre eigene Reise, die sie Schritt für Schritt, Tag für Tag, immer mehr verstand. Und vielleicht, dachte sie, war das der wahre Beginn von allem.

Abspann

Zwischen Brot, Kaffee und alten Familiengeschichten entsteht etwas, das bleibt: das Gefühl, dazuzugehören, auch wenn man längst fortgegangen ist.
Für Isabella wird deutlich, dass Heimat kein Ort ist – sondern die Menschen, die uns einen Platz in ihrer Erinnerung geben.

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Isabella sitzt am Meer auf einer niedrigen mauer und blickt auf das Meer hinaus. Neben ihr steht ein halbvolles Glas Rotwein

Kapitel 20 – Heimat in der Ferne

Vorspann

Nach den langen Tagen der Suche und des Zweifelns findet Isabella in der Ferne etwas, das sie nicht erwartet hat – eine leise, wachsende Vertrautheit. Zwischen Küstenwind, Terrakotta und dem Duft von Kaffee beginnt sie zu begreifen, was es wirklich heißt, anzukommen.

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Heimat in der Ferne

Die ersten Tage in Spanien waren ein bunter Mix aus Staunen und Unsicherheit gewesen. Isabella hatte sich verloren gefühlt in der fremden Sprache, in den unbekannten Gerüchen, in der neuen, fast überwältigenden Schönheit der Landschaft. Aber langsam, ganz langsam, begann sich etwas zu verändern. Es war ein langsames Einpendeln, ein Sich-Hineinfinden, das sie noch nie zuvor in ihrem Leben so intensiv erlebt hatte.

Der Ort, in dem sie sich jetzt befand, war klein und versteckt, eine verschlafene Ecke der nordspanischen Küste. Die Häuser, die sich an die Hügel schmiegten, hatten die warme Farbe von Terrakotta, und die Dächer glänzten im Sonnenlicht, das manchmal durch die Wolken brach und die Welt in goldene Töne tauchte. In den engen Gassen konnte man noch den Hauch der Geschichte spüren – alte, verwitterte Türen, geschnitzte Fensterrahmen und die flimmernden Schatten der Bäume, die die Straßen säumten.

Isabella hatte sich in den letzten Tagen mit den Gegebenheiten des Lebens dort angefreundet. Jeden Morgen stand sie früh auf und ging in das kleine Café an der Ecke, das einen herrlichen Blick auf das Meer hatte. Der Geruch von frisch gebackenem Brot und starkem Kaffee empfing sie dort immer, und sie fand Trost in der vertrauten Routine. Es war nicht die gleiche bleierne Monotonie wie in ihrer Heimatstadt. Es war lebendig. In der Stille der Morgenstunden schien sie sich mit der Umgebung zu verbinden, als gehörte sie hierher.

In den Nächten, wenn der Wind von der Küste her wehte und das Rauschen der Wellen das einzige Geräusch war, das die Stille durchbrach, fühlte sie sich plötzlich nicht mehr wie eine Fremde. Sie hatte das Gefühl, dass dieser Ort ein Teil von ihr geworden war, als ob er schon immer in ihr gewesen war, irgendwo tief in ihrer Seele.

Isabella erkannte, dass sie sich auf dieser Reise nicht nur mit der spanischen Landschaft, sondern auch mit sich selbst versöhnte. Die Menschen in dem kleinen Ort, in dem sie sich nun aufhielt, waren freundlich, aber sie spürte eine gewisse Distanz, die sie selbst nicht überbrücken konnte. Sie war hier nicht für sie, sondern für sich selbst. Und das war der Unterschied.

Jeden Tag unternahm sie kleine Erkundungstouren, setzte sich auf Bänke und sah den Menschen zu, die ihren täglichen Pflichten nachgingen. Die Frauen, die den Markt überfluteten, die Männer, die den Staub der Straße fegten, die Kinder, die in den Gassen spielten – sie alle trugen etwas mit sich, das Isabella wie ein stilles Band miteinander verband. Sie fühlte sich inmitten all dieser Fremden weniger allein.

Besonders an den Nachmittagen, wenn die Sonne den Himmel in zarten Rosa- und Orangetönen färbte, ging Isabella auf die kleinen Hügel rund um das Dorf. Von dort aus konnte sie das Meer sehen, das in der Ferne wie ein flimmerndes Band wirkte. An diesen Momenten fühlte sie eine tiefere Verbundenheit zu der Landschaft, eine leise Sehnsucht, die sie nie gekannt hatte.

„Ich fühle mich hier zuhause“, sagte sie eines Abends zu Sergio, als sie zusammen in einem kleinen Restaurant saßen, das mit seinen bunten Fliesen und holzvertäfelten Wänden die Atmosphäre eines gemütlichen Heimathafens versprühte.

Sergio sah sie mit einem fast nachdenklichen Blick an. „Echt? Das ist… schön. Aber es ist auch etwas, das Zeit braucht, oder?“

„Ja, sicher“, antwortete Isabella. „Es war nicht sofort da, aber es hat sich entwickelt. Jeden Tag ein bisschen mehr. Irgendwann merkt man, dass man nicht nur im Land lebt, sondern dass dieses Land auch in einem lebt.“

„Das ist poetisch“, sagte Sergio, lächelte dann jedoch leicht und lehnte sich zurück. „Vielleicht gibt es hier tatsächlich eine Art von Magie. Ein Stück von uns, das wir in den Orten finden, an denen wir uns verlieren.“

„Und manchmal“, sagte Isabella, „findet man sich selbst wieder, nicht nur in der Welt, sondern auch in einem anderen Land, an einem anderen Ort. Hier habe ich etwas entdeckt, das in mir geschlummert hat.“

Sergio nickte nachdenklich, dann strahlte er einen Moment lang, als hätte er in ihren Worten etwas erkannt, das er selbst gesucht hatte. Es war eine Art Anerkennung – nicht nur für den Ort, sondern auch für die Reise, die sie beide auf eine Art und Weise gemeinsam unternahmen, auch wenn ihre Wege sich immer wieder trennten.

In diesen Momenten, wenn sie miteinander sprachen oder einfach nebeneinander saßen, hatte Isabella das Gefühl, dass sie nicht nur in Spanien, sondern auch in ihrem Leben endlich den Ort gefunden hatte, an dem sie wirklich war. Es war nicht nur der physische Ort, sondern der Platz, den sie in ihrem eigenen Herzen eingenommen hatte – ein Platz, an dem sie sich selbst finden konnte, fernab von all den Erwartungen und der Monotonie, die sie zurückgelassen hatte.

Und so, während der Wind über das Meer strich und die Sonne langsam hinter den Hügeln versank, wusste Isabella: Sie hatte endlich ihren Platz gefunden, einen Ort, an dem sie sich zuhause fühlte – und in diesem Zuhause war sie mehr sie selbst als je zuvor.

Abspann

Es ist kein spektakulärer Neubeginn, sondern ein stilles Heimischwerden – nicht an einem Ort, sondern in sich selbst. Während der Abend über das Meer sinkt, erkennt Isabella, dass Zugehörigkeit kein Ziel ist, sondern ein Zustand des Herzens.

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Sergio und Isabella stehen vor dem verfallenen Haus von Sergios Urgroßvater. Die Wände sind von Efeu überwuchert. Die Stimmung ist bedrückend.

Kapitel 19 – Das Haus der Erinnerungen

Vorspann

Der Weg führt Isabella und Sergio zu einem Ort, der mehr als nur Steine und Mauern birgt. In den Schatten eines alten Hauses begegnet Sergio nicht nur der Geschichte seiner Familie – sondern auch der eigenen.

Hier geht es zurück zu Kapitel 18 – Ein Netz aus Stimmen

Das Haus der Erinnerungen

Die Sonne war schon tief hinter den Hügeln verschwunden, als sie das verlassene Dorf hinter sich ließen und einen weiteren schmalen, von Bäumen gesäumten Weg entlanggingen. Der Nebel, der sich langsam von den Hügeln herabzog, verhüllte die Landschaft in ein fast magisches Licht. Sergio führte sie an der Hand, den Blick fest auf den Boden gerichtet, als ob er dem nächsten Schritt eine besondere Bedeutung beimessen wollte.

„Es ist nur noch ein Stück weiter“, sagte er, seine Stimme klang leise, aber entschlossen. „Ich spüre es.“

Isabella nickte, ohne ein Wort zu sagen. Sie wusste, dass dieser Moment für Sergio mehr war als nur eine Reise zu einem verlassenen Ort. Es war eine Reise zu seinen Wurzeln, eine Suche nach etwas, das er in den Jahren zuvor verloren geglaubt hatte. Und sie wusste, dass sie nicht nur als Beobachterin hier war, sondern als eine stille Begleiterin auf seinem Weg.

Der Pfad führte sie weiter, vorbei an verwitterten Zäunen und zerfallenen Mauern, bis sie schließlich an einem Tor ankamen, das von Efeu überwuchert war. Es war alt, fast so alt wie die Erinnerungen, die er suchte. Und als sie es öffneten, standen sie vor einem großen, einst prachtvollen Haus, das jetzt in den Schatten der Zeit getaucht war.

Sergios Atem stockte. Die Augen weiteten sich, als er das Gebäude erblickte, das mehr für ihn bedeutete, als Worte je ausdrücken könnten. Das Haus war von außen gezeichnet von den Jahren des Verfalls, doch in ihm war immer noch die Präsenz der Vergangenheit spürbar. Die großen Fenster waren verschlossen, und die Holztür hing schief in den Angeln. Doch es war immer noch das gleiche Haus, in dem sein Urgroßvater, von dem er nie wirklich etwas erfahren hatte, vielleicht zum letzten Mal gelebt hatte.

„Das ist es“, flüsterte er, fast wie in einem Gebet. „Das war das Haus meiner Familie.“

Isabella spürte die Schwere seiner Worte und trat langsam neben ihn. Sie konnte förmlich die Stille spüren, die das Haus umgab, als ob es selbst auf das wiederkehrende Leben wartete, das es einst beherbergt hatte.

„Es ist… beeindruckend“, sagte Isabella leise, während sie die Fassade betrachtete. „Es hat etwas… altes, aber auch schönes an sich.“

„Ja“, antwortete Sergio, während er einen Schritt nähertrat. „Es ist das letzte Überbleibsel meiner Familie aus dieser Zeit. Alles andere ist verloren gegangen.“

Er legte eine Hand auf das alte Holz der Tür, als wollte er den Kontakt zur Vergangenheit aufnehmen. Der kalte, brüchige Eindruck der Tür war der einzige sichtbare Beweis für die Jahre, die vergangen waren. Aber in Sergio wuchs etwas, das er in sich selbst nie ganz greifen konnte – eine Sehnsucht, die so stark war, dass sie wie eine Welle über ihn hinwegrollte.

„Mein Urgroßvater…“, sagte er, ohne den Blick vom Haus abzuwenden. „Er war ein starker Mann, aber auch ein gebrochener. Ich habe nie wirklich verstanden, was damals passiert ist. Warum er verschwunden ist. Was er durchgemacht hat…“

Isabella spürte, wie sich eine Welle der Trauer in seiner Stimme regte, die sie tief berührte. Sie wollte ihn in diesem Moment nicht unterbrechen. Sie wollte einfach da sein. Es war nicht ihre Aufgabe, Antworten zu finden, sondern ihm den Raum zu geben, seine eigene Wahrheit zu finden.

„Vielleicht war er einfach ein Mann seiner Zeit“, sagte sie schließlich, als sie sich neben ihm stellte. „Ein Mann, der in einem Land lebte, das von so vielen Dunkelheiten geprägt war. Vielleicht hatte er nie die Chance, seine Geschichte zu erzählen.“

Sergio drehte sich zu ihr und sah sie mit einem Blick an, der sowohl Dankbarkeit als auch tiefe Erschöpfung widerspiegelte. „Ich weiß, dass er viele Geheimnisse hatte. Aber jetzt, an diesem Ort, kann ich… vielleicht ein kleines Stück von ihm begreifen.“

Er trat weiter vor und öffnete vorsichtig die Tür, die mit einem Knarren nachgab. Es war, als öffnete sich ein Kapitel der Vergangenheit, das so lange verschlossen gewesen war. Isabella folgte ihm, als er in das dunkle Innere des Hauses trat. Der Staub und die vergilbten Möbelstücke ließen den Raum noch mehr wie ein Relikt der Vergangenheit wirken, als hätten sich die Dinge nicht verändert, nur die Zeit selbst sei stillgestanden.

Sergio ging langsam durch die Räume, die sich in Dunkelheit hüllten. In einem der Zimmer fand er alte Möbel, die in einem staubigen Dämmerlicht standen, ihre Konturen von der Zeit verwischt. Doch er schien sich nicht zu stören. Langsam ging er auf den Kamin zu und legte eine Hand auf den alten Stein, als würde er ein längst vergessenes Geheimnis fühlen.

„Hier…“, sagte er, „hier ist er gewesen. Mein Urgroßvater. Wahrscheinlich hat er hier gesessen, das Feuer beobachtet, die Stille ertragen.“

Isabella konnte den Schmerz und die Erleichterung in seiner Stimme hören. Es war, als würde er in diesem Moment die Jahre der Ungewissheit und das Schweigen seiner Familie in einem einzigen Atemzug loslassen.

„Vielleicht habe ich nie die richtigen Antworten gefunden“, sagte er leise, „aber vielleicht reicht es, den Ort zu finden, an dem er seine letzten Jahre verbracht hat. Hier kann ich ihm wenigstens ein Stück näherkommen.“

Er atmete tief ein, als ob er einen Teil von sich selbst in diesem Raum zurückließ. Isabella trat vorsichtig an ihn heran und legte ihre Hand auf seinen Arm.

„Du bist hier, Sergio“, sagte sie leise. „Das ist, was zählt. Du hast ihn nicht vergessen.“

Sergio nickte, doch es war, als würde ihm erst jetzt klar werden, dass er hier nicht nur etwas über seinen Urgroßvater erfahren hatte, sondern auch über sich selbst. In diesem alten Haus fand er nicht nur die Spuren der Vergangenheit, sondern auch die Bedeutung seiner eigenen Reise. Und vielleicht, dachte er, war das die Antwort, die er gesucht hatte – nicht nur auf die Fragen zu seiner Familie, sondern auch auf die Frage, wer er wirklich war.

Es war der Beginn von etwas, das er nicht sofort verstehen konnte, aber in diesem Moment wusste er, dass er auf dem richtigen Weg war.

„Es fühlt sich gut an, hier zu sein“, sagte er schließlich, als er den Raum ein letztes Mal absuchte. „Es fühlt sich an, als ob ich wieder ein Stück von mir selbst gefunden habe.“

Isabella nickte, verstand, und gemeinsam verließen sie das alte Haus. Doch es war nicht nur das Verlassen eines Gebäudes. Es war der Abschluss eines Kapitels und der Beginn eines neuen.

Die Rastlosigkeit

Die Sonne war mittlerweile hinter den Hügeln verschwunden, und die letzten Reste des Tageslichts verschwammen zu einem tiefen Blau. Der Nebel, der an diesem Abend auf den Hügeln lag, schien die Welt in eine sanfte, fast unwirkliche Stille zu hüllen. Isabella und Sergio standen in einem kleinen Café in einem abgelegenen Dorf, die Tassen vor sich dampfend, doch das Gespräch zwischen ihnen war spürbar nicht so leicht und unbeschwert wie sonst. Etwas lag in der Luft, etwas, das Isabella nicht länger ignorieren konnte.

Sergio hatte einen langen Tag hinter sich. Der Besuch des alten Hauses seiner Familie hatte ihn emotional aufgewühlt, und trotz seiner Erleichterung war die rastlose Unruhe in ihm noch immer präsent. Es war diese Unruhe, die Isabella seit Tagen beobachtet hatte – ein ständiges Hin- und Her, ein Suchen, das niemals zu einem Ziel schien zu führen. Es war, als ob er niemals ankommen konnte. Sie hatte ihm bisher nie direkt die Frage gestellt, die ihr immer wieder durch den Kopf ging. Doch heute, in diesem Moment, konnte sie es nicht mehr länger für sich behalten.

„Sergio“, begann sie vorsichtig und ließ ihre Tasse stehen, „ich habe etwas bemerkt…“

Er sah sie an, seine Augen ein bisschen müde, aber auch aufmerksam. „Was meinst du?“

„Du gehst immer weiter“, sagte sie, ihre Stimme ruhig, aber fest. „Du gehst von einem Ort zum nächsten, von einer Erinnerung zur nächsten, von einer Geschichte zur anderen. Aber immer, wenn du etwas zu finden scheinst, gehst du weiter, ohne wirklich zu bleiben. Es ist, als ob du nie irgendwo ankommen willst.“

Sergio starrte auf seine Tasse, die er jetzt in seinen Händen drehte, als könnte er die Antwort in der dampfenden Oberfläche des Tees finden. „Ich…“, begann er, doch die Worte zögerten. „Ich weiß nicht. Es gibt so viele Dinge, die ich nicht verstehe. Und je mehr ich versuche, sie zu verstehen, desto mehr fühle ich mich verloren. Aber es ist… es ist diese Unruhe, diese… rastlose Suche, die mich antreibt. Vielleicht finde ich irgendwann einen Ort, an dem ich mich wirklich zu Hause fühlen kann, aber bis dahin… bleibe ich in Bewegung.“

Isabella lehnte sich leicht vor, ihre Hände auf dem Tisch gefaltet. „Aber vielleicht ist das das Problem, Sergio“, sagte sie leise. „Vielleicht bist du die ganze Zeit auf der Flucht vor etwas, das du wirklich fühlen müsstest. Du suchst Antworten, aber du gibst dir selbst keine Zeit, sie zu finden. Du lässt dich nicht auf die Orte, die Menschen und die Geschichten ein, mit denen du dich beschäftigst. Du bewegst dich immer weiter, immer schneller, aber…“

„Was?“, unterbrach er sie, und seine Stimme klang rauer, als er beabsichtigt hatte.

„Vielleicht bist du einfach zu ängstlich, wirklich anzukommen“, sagte sie mit einem Blick, der ihn durchdrang. „Zu ängstlich, dich auf das einzulassen, was du findest, weil du Angst hast, dass es nicht genug ist. Oder vielleicht, weil du dir nicht erlaubst, dich selbst in dem zu sehen, was du suchst.“

Sergio schwieg. Er starrte auf seine Tasse, doch die Worte, die Isabella gesagt hatte, hallten in ihm nach, wie ein Echo, das er nicht mehr ignorieren konnte. Sie hatte recht – er hatte sich nie wirklich mit dem, was er gefunden hatte, auseinandergesetzt. Er hatte immer weitergesucht, ohne je wirklich zu bleiben, aus Angst, dass die Antworten nicht ausreichten, um den leeren Raum in ihm zu füllen.

„Vielleicht hast du recht“, sagte er schließlich, seine Stimme kaum hörbar. „Ich… ich habe nie wirklich die Zeit genommen, mich mit den Dingen auseinanderzusetzen. Ich bin immer weitergezogen, ohne wirklich zu bleiben.“

„Warum?“ fragte Isabella, ihre Stimme sanft. „Warum hast du nie innegehalten?“

Er seufzte tief, und als er den Blick hob, lag etwas in seinen Augen, das sie noch nie zuvor gesehen hatte – ein Moment der Verletzlichkeit, der ihn entblößte, als er in die Weite des Raums sah.

„Weil ich nicht wusste, wie ich mit all dem umgehen soll“, sagte er, fast entschuldigend. „Mit all den Geschichten, die mich belasten. Mit den Erinnerungen, die sich in mir festgesetzt haben, ohne dass ich sie jemals wirklich verstehen konnte. Ich habe immer geglaubt, dass ich nur weiter gehen muss, dass es irgendwann einen Moment geben wird, in dem alles einen Sinn macht. Aber vielleicht ist das nicht der Weg. Vielleicht muss ich mal anhalten. Vielleicht muss ich mich mit dem auseinandersetzen, was ich gefunden habe. Und vielleicht… vielleicht muss ich mir selbst erlauben, nicht mehr auf der Flucht zu sein.“

Isabella sah ihn an, ihre Augen weich und verständnisvoll. Sie hatte ihn nie zuvor so offen und verletzlich gesehen. Es war, als hätte er endlich einen Teil von sich selbst erkannt, der lange im Schatten verborgen war. Vielleicht war es der erste Schritt in eine Richtung, die er immer vermieden hatte.

„Und was ist, wenn du ankommst, Sergio? Was ist, wenn du dir erlaubst, zu bleiben?“ fragte sie leise.

Er sah sie an, und für einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen. Doch es war keine unangenehme Stille – es war eine Stille der Erkenntnis. Vielleicht war es der Moment, in dem er sich entschloss, nicht mehr zu fliehen.

„Vielleicht“, sagte er schließlich, „ist es Zeit, dass ich wirklich ankomme. In meinem Leben. In meiner Geschichte. Und vielleicht… vielleicht auch bei dir.“

Isabella spürte, wie sich etwas in ihr veränderte, ein kleines, aber bedeutendes Stück. Der Weg, den sie beide gemeinsam eingeschlagen hatten, war noch nicht zu Ende, doch in diesem Augenblick schien es, als ob sie zum ersten Mal in all der Zeit, in der sie einander begegnet waren, einen Moment des wirklichen Verstehens fanden.

Abspann

Zwischen Vergangenheit und Gegenwart öffnet sich für Sergio ein neuer Raum der Erkenntnis. Die Rastlosigkeit weicht einem stillen Innehalten, und vielleicht beginnt hier das, was man Ankommen nennt.

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Sergio und Isabella auf einem Waldweg. Er geht vor, trägt einen kleinen Rucksack. Sie folgt ihm in geringem Abstand.

Kapitel 18 – Ein Netz aus Stimmen

Vorspann
Das Dorf lebt nicht nur in seinen Häusern, Gassen und Plätzen – es lebt in den Stimmen, die durch die Luft getragen werden. Worte wie Funken, die sich festsetzen, Gerüchte wie Fäden, die Menschen miteinander verknüpfen. Zwischen Wahrheit und Erfindung entsteht ein unsichtbares Netz, das jede und jeden in Sanluz de Montarroyo umfängt.

Zurück zu Kapitel 17 – Auf den Spuren der Vergangenheit

Nächtliches Gespräch unter Sternen

Es war spät in der Nacht, als Isabella und Sergio einen kleinen Hügel in der Nähe der Stadt hinaufstiegen. Die Luft war kühl, aber nicht unangenehm, und der Himmel war so klar, dass es schien, als ob die Sterne nur darauf warteten, gesehen zu werden. Sie hatten den Tag in der Altstadt von Oviedo verbracht und sich von den schmalen, verwinkelten Gassen und den historischen Gebäuden verzaubern lassen. Doch jetzt, unter dem weiten, sternenübersäten Himmel, war alles still. Der Tag, die Gespräche, die Entdeckungen – sie fühlten sich fern an, als wären sie in einer anderen Welt.

„Ich habe es nie gemocht, nachts unterwegs zu sein“, gestand Isabella, als sie sich auf einen Felsen setzte, der den höchsten Punkt des Hügels markierte. Sie zog die Jacke enger um sich und schaute nach oben, wo der Himmel von zahllosen Sternen erleuchtet war. „Es gibt etwas an der Dunkelheit, das mich immer nervös gemacht hat.“

Sergio setzte sich neben sie, seine Hände in den Taschen vergraben. „Es gibt immer diese Angst, nicht zu wissen, was kommt. Aber vielleicht ist das gerade das, was den Moment so besonders macht. Es gibt uns Raum, um zu atmen, ohne dass uns etwas an die Vergangenheit bindet.“

Isabella nickte, doch in ihrem Inneren spürte sie eine Unruhe, die sie nicht ganz ablegen konnte. „Ich frage mich oft, ob ich jemals wirklich etwas in meinem Leben geändert habe. Vielleicht bin ich einfach zu sehr auf Sicherheit bedacht. Immer in meiner Komfortzone. In diesem kleinen, vorhersehbaren Leben. Aber dann bin ich hier, und alles fühlt sich anders an. Ich fühle mich fast… verloren, als ob ich nicht mehr weiß, wer ich bin.“

Sergio schaute sie nachdenklich an. Die Sterne schienen sein Gesicht zu erleuchten, und in seinem Blick lag etwas, das Isabella an die Weite der Nacht erinnerte – unendlich, tief und doch irgendwie tröstlich.

„Du bist nicht verloren, Isabella“, sagte er leise. „Es ist normal, sich manchmal so zu fühlen, vor allem, wenn man sich selbst von allem trennt, was man kennt. Aber die Wahrheit ist: Du musst dich nicht finden. Du darfst dich immer wieder neu erschaffen. Und dafür braucht es keinen perfekten Plan. Nur den Mut, weiterzugehen. Die Angst ist nur ein Teil des Prozesses.“

Isabella schloss die Augen für einen Moment, ließ die kalte Luft ihre Wangen berühren, spürte, wie der Wind durch ihre Haare strich. Sie hatte nie viel über Mut nachgedacht – immer nur über Sicherheit, den klaren Plan, den nächsten Schritt. Doch hier, unter den Sternen, mit Sergio an ihrer Seite, fühlte sie sich nicht mehr so festgefahren.

„Was ist mit dir?“, fragte sie nach einer Weile. „Hast du keine Angst?“

Sergio seufzte leise, als ob er die Frage schon lange erwartet hatte. „Natürlich habe ich Angst. Aber das Problem ist, dass ich immer vor dieser Angst weggelaufen bin. In meine Reisen, in die Geschichten meiner Familie. Ich dachte, wenn ich nur genug über die Vergangenheit herausfinde, würde ich wissen, wer ich bin. Aber die Wahrheit ist, dass ich nie wirklich angekommen bin. Ich suche immer weiter, immer tiefer. Aber manchmal frage ich mich, ob ich mich jemals wirklich finden kann.“

Isabella spürte, wie sich die Worte in ihr vergruben. Sie sah die Wahrheit in seinem Blick – die gleiche Unsicherheit, die sie selbst kannte, aber auf eine andere Art. Vielleicht war ihre Reise nicht nur eine nach Spanien, sondern auch eine nach innen, zu Dingen, die sie lange übersehen hatte.

„Es ist verrückt, oder?“, sagte sie schließlich, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Wir reisen, wir suchen, wir finden Dinge, aber am Ende… sind wir immer noch wir selbst. Die Ängste bleiben. Vielleicht kann man sie nicht einfach ablegen.“

„Vielleicht nicht“, stimmte Sergio zu. „Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht versuchen können, mit ihnen zu leben. Und vielleicht ist es genau das, was uns wirklich verändert. Die Akzeptanz, dass wir nie alles unter Kontrolle haben.“

Isabella sah zu ihm hinüber, und in der Dunkelheit war es schwer zu sagen, ob er wirklich ruhig war oder ob auch er in diesem Moment genauso unsicher war wie sie. Doch in diesem Augenblick schien es, als ob sie sich beide gerade auf die gleiche Reise begeben hatten – nicht nach außen, sondern nach innen, zu den wahren Ängsten, die sie noch nicht verstanden hatten.

„Ich glaube, ich habe nie wirklich zugelassen, dass ich mich verliere“, sagte sie leise. „Ich habe immer versucht, die Kontrolle zu behalten. Aber jetzt… vielleicht ist es okay, nicht immer alles zu wissen. Vielleicht muss ich einfach anfangen, den Moment zu leben.“

Sergio nickte langsam, als er ihre Worte verstand. „Vielleicht müssen wir uns zuerst selbst vertrauen, um in der Lage zu sein, uns von allem zu befreien. Ich habe das nie getan. Und vielleicht… vielleicht ist das der nächste Schritt.“

Für einen Moment saßen sie schweigend nebeneinander, die Stille der Nacht umhüllte sie wie ein sanfter Mantel. Sie fühlte sich weniger allein, weniger in der Dunkelheit verloren. Es war, als ob sie in diesem Gespräch, unter dem Sternenhimmel, einen Teil von sich selbst wiedergefunden hatte. Sie waren sich so nah, dass sie den Geruch seiner Haut wahrnahm, Patschuli, Erde und Vanille.

„Wir werden sehen, wohin uns das führt“, sagte sie schließlich, ein kleines, fast schüchternes Lächeln auf ihren Lippen.

Sergio sah sie an, seine Augen im Schein der Sterne sanft und warm. „Ja. Aber was auch immer passiert, wir müssen weitergehen. Wir haben noch viel vor uns.“

Wiedererkennung

Der Wind blies kühl und frisch durch die Hügel von Galicien, als Isabella und Sergio einen abgelegenen Wanderweg entlanggingen, der sich durch das verlassene Dorf schlängelte. Es war ein Ort, der der Zeit entrückt schien: Die Häuser standen leer, die Fenster blickten mit leeren Augen in die Landschaft, und das Gras hatte sich wie ein weiches Kissen über die zerfallenen Mauern gelegt. Es war, als ob dieser Ort sich selbst vergessen hatte, ein Ort, an dem selbst die Erinnerung an die Menschen, die hier einst lebten, langsam zu verblassen begann.

Isabella trat vorsichtig durch das hohe Gras und blickte sich um. Die Stille war fast greifbar. Nur das Rauschen des Windes in den Bäumen und das entfernte Zwitschern eines Vogels durchbrachen die Ruhe. Es war ein Ort, an dem man sich leicht verlieren konnte, an dem die Zeit stillzustehen schien.

„Es ist seltsam“, sagte sie schließlich, „dieser Ort fühlt sich fast… lebendig an. Als ob er noch immer seine eigene Geschichte erzählt, aber wir sie nicht mehr verstehen.“

Sergio nickte, doch seine Augen waren auf einen schmalen Pfad in der Nähe gerichtet, der sich wie ein schmaler, moosbedeckter Tunnel durch das Dickicht zog. Der Pfad war nur schwach erkennbar, fast als ob die Natur ihn in ihrer ruhigen Weise in den Boden gezeichnet hatte. Sergio blieb plötzlich stehen, sein Blick fest auf den Weg gerichtet. Er hob eine Hand und berührte vorsichtig das Moos, das sich üppig über den Boden legte, als wollte er etwas spüren – etwas, das er schon einmal gesehen hatte.

„Das… das ist der Pfad“, murmelte er fast unhörbar.

Isabella drehte sich zu ihm um. „Welcher Pfad?“

„Der aus meinem Blog“, erklärte Sergio, seine Stimme war leiser, als er es beabsichtigt hatte, als ob er sich nicht ganz sicher war, ob er sich irrte. „Der Waldweg aus Galicien. Dieser Pfad… es ist, als würde ich ihn wiedererkennen. Der Nebel, das Moos, die Bäume…“

Er ließ die Hand wieder sinken und trat einen Schritt vor. Isabella sah ihn an, ein wenig verwirrt, doch auch fasziniert von der Intensität in seinem Blick. Sie folgte ihm, ohne ein Wort zu sagen, und gemeinsam gingen sie den schmalen Pfad entlang, der sich in den Wald hinein wandt.

Der Weg war von dichtem Moos bedeckt, und der Duft der feuchten Erde stieg ihnen in die Nase. Alles wirkte vertraut und zugleich neu, als ob sie auf einem unsichtbaren Band zwischen der Gegenwart und einer anderen Zeit wanderten. Die Bäume standen wie alte Wächter beiderseits des Pfades, ihre Äste knarrten im Wind, und das Rauschen des Waldes klang beinahe wie ein Flüstern, das Isabella nicht ganz entschlüsseln konnte.

Sergio ging langsamer, berührte immer wieder das Moos, das den Boden bedeckte, und schloss für einen Moment die Augen, als wolle er in den alten Erinnerungen versinken, die dieser Ort in ihm hervorrief. Isabella stand still hinter ihm und wartete, unsicher, ob sie ihn stören sollte.

„Es ist, als ob ich hier schon einmal war“, sagte er schließlich, seine Stimme war fast ein Flüstern. „Der Nebel, der Weg… es fühlt sich an, als würde alles an einen bestimmten Moment erinnern. An etwas, das ich nicht ganz begreifen kann.“

Er atmete tief ein, als würde er die Luft in sich aufnehmen wollen, die ihm so vertraut war und doch so fremd. Für einen Moment war es still zwischen ihnen. Der Pfad führte weiter, aber Sergio schien nicht weitergehen zu wollen. Er stand einfach da, seine Hand noch immer auf dem Moos, seine Augen geschlossen.

Isabella trat einen Schritt näher und berührte sanft seinen Arm. „Bist du sicher, dass es dieser Pfad ist?“

„Ich weiß es nicht ganz sicher“, antwortete er, öffnete die Augen und sah sie an, „aber es fühlt sich so an, als ob er mich ruft. Als ob ich hierhergehöre. Als ob ich diesen Weg schon einmal gegangen bin, bevor ich überhaupt wusste, dass er existiert.“

Isabella nickte. Sie verstand, dass es nicht nur der physische Weg war, den er meinte. Es war mehr. Der Pfad in seinen Gedanken, die Erinnerungen an die Vergangenheit, die wie ein gelebter Traum auf ihn wirkten, hatten jetzt eine Form angenommen. Ein unsichtbarer Faden verband ihn mit diesem Ort, und Isabella konnte den tiefen Eindruck spüren, den er hinterließ.

„Vielleicht“ sagte sie leise, „ist es ein Ort, an dem man Antworten findet. Oder Fragen, die man nie gestellt hat.“

Sergio blickte einen Moment lang nachdenklich auf den Pfad, der sich vor ihnen erstreckte, und dann wieder hinauf zu den Bäumen, die wie stille Zeugen die Geschichte der Vergangenheit bewahrten. Er nickte langsam.

„Vielleicht ist das der Weg, den ich gehen musste, um zu verstehen, wer ich wirklich bin. Vielleicht ist dieser Pfad der Schlüssel.“

Der Nebel begann sich langsam zu senken, und eine kühle Brise strich durch die Bäume. Der Wald war voller Leben, aber auch voller Geheimnisse, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden. Sergio schien einen Teil von sich selbst gefunden zu haben, und in diesem Moment wusste Isabella, dass auch sie auf ihrer eigenen Reise einen Schritt weitergekommen war.

Der Pfad vor ihnen war offen, doch sie wussten beide, dass die Antworten nicht immer einfach zu finden waren. Manchmal musste man warten, auf das richtige Timing, auf den richtigen Moment. Und vielleicht war dieser Moment genau jetzt.

Mit einem letzten Blick auf den Pfad, der so vertraut und doch so fremd war, ging Sergio weiter, und Isabella folgte ihm, bereit, die nächste Etappe ihrer eigenen Reise zu gehen.

Abspann
Kapitel um Kapitel wächst dieses Netz weiter – manchmal sanft und tröstlich, manchmal scharf und verletzend. Doch wer genau hinhört, entdeckt darin nicht nur das Getuschel der Nachbarn, sondern auch die Geschichten, die das Dorf zusammenhalten. Und wie jede Erzählung in Encina Alta führen sie uns tiefer hinein, Schritt für Schritt.

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