Vorspann:
Isabella hat begonnen, einen fremden Lebensweg zu entdecken – noch sitzt sie in Gelsenkirchen fest, doch ihr Herz gerät aus dem Takt. Dieses Kapitel erzählt, wie Sehnsucht zwischen grauen Häusern Wurzeln schlägt.
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Und in diesem Moment, ohne es wirklich zu begreifen, wusste Isabella, dass sie auf diesem Weg selbst mehr finden würde.
Sie klickte sich tiefer in den Blog – und las weiter. Sie fand ein anderes Foto von ihm, das ihn auf einem Felsvorsprung stehend zeigte. Es war Sommer, unter ihm ein Flusstal. Er stand da mit nacktem Oberkörper, in Jeans und Bergstiefeln, neben ihm lag ein Rucksack. Die Hände waren in den Hosentaschen vergraben. Der Wind spielte mit seinem Haar. Es war das Bild eines Mannes, der um seine Aura wusste. Sie war sich sicher, dass er das Bild ganz bewusst veröffentlich hatte. Aber wer hatte ihn fotografiert?
Der Arbeitstag war wie immer zäh und zermürbend gewesen. Die letzten Stunden schlichen dahin, als hätte die Zeit sich selbst in einen grauen Nebel gehüllt, der sie daran hinderte, voranzukommen. Als der Computer schließlich heruntergefahren wurde, fühlte Isabella sich wie eine Marionette, deren Fäden nach und nach gesenkt wurden. Sie stand auf, strich sich unbewusst über ihre Haare und packte ihre Sachen in die Tasche. Die meisten Kollegen waren schon verschwunden, die meisten Gespräche waren längst verstummt. Nur noch der Klang der entfernten Tastaturen und der flimmernde Lichtschein der Deckenlampe erinnerten daran, dass der Arbeitstag nicht wirklich zu Ende war.
Der Heimweg begann in der Straßenbahn – einem erneuten, bekannten Strom von Gesichtern, der sich in die gleichen, grauen Muster einfügte. Es war der gleiche Pendelverkehr wie jeden Abend, die gleiche Mischung aus Müdigkeit, Gedanken und der kurzen Hoffnung, dass vielleicht etwas anderes kommen würde. Sie stieg ein, fand einen freien Platz und starrte aus dem Fenster. Der Regen hatte aufgehört, doch der Himmel war immer noch von einem trüben Grau, das wie eine dicke Decke über der Stadt lag. Ein paar Lichter flimmerten durch die nassen Fenster, und der Nebel, der den Tag über tief gehangen hatte, schien sich nun auch auf den Straßen auszubreiten.
Isabella lehnte ihren Kopf an das kalte Fenster und schloss für einen Moment die Augen. Ihre Gedanken flogen zurück zu dem, was sie nachmittags entdeckt hatte: Sergio Menendez Clavero, der Reiseblogger, der sie mit einem einzigen Bild und einem einzigen Satz aus ihrer gewohnten Bahn geworfen hatte. Der Wald, der Nebel, der schmale Pfad – sie konnte die Bilder förmlich vor sich sehen, als wären sie in ihren Kopf eingebrannt. Was hatte es mit diesem Wald auf sich? Was hatte Sergio dort verloren, und was suchte er in der Geschichte seiner Familie?
Sie nahm ihr Handy aus der Tasche, die noch immer in ihrem Schoß lag, und öffnete den Instagram-Account von Sergio erneut. Noch immer war sie unsicher, was genau sie daran fesselte. War es das Bild selbst? Der geheimnisvolle, neblige Wald? Oder war es die leise, fast schüchterne Art, wie er seine Gedanken niedergeschrieben hatte? Es war, als würde dieser einfache Waldweg zu einem Symbol für all das werden, was sie selbst vermisste – ein Ziel, ein Ausbruch, eine Reise, die sie nie unternommen hatte.
Isabella scrollte weiter durch seinen Feed, las weitere Beiträge. Einige waren von seinen Reisen in entlegene Gegenden Spaniens, andere erzählten von Familiengeschichten und den Erinnerungen, die er immer wieder suchte. Sie entdeckte Fotos von ihm selbst. Er war ein Mann von etwa Ende 30, groß, schlank mit stolzer, aufrechter Haltung. Er trug das dunkelbraune, wellige Haar etwa kinnlang und schien sich einige Tage nicht rasiert zu haben. Sein Blick schien sich direkt an sie zu wenden. Sie fühlte sich fast ein bisschen wie ein Eindringling, der an jemandes intimen Gedanken teilnahm. Doch es gab keinen Weg zurück. Ihre Neugier hatte längst die Oberhand gewonnen. Sie wollte mehr wissen, wollte wissen, was ihn antreibt, warum er immer wieder zurückkehrte zu den Orten seiner Kindheit, zu den verlorenen Geschichten seines Urgroßvaters.
Die Straßenbahn bremste abrupt, und Isabella stieß fast mit ihrem Ellbogen gegen die Scheibe. Ein älterer Mann, der auf der anderen Seite des Wagens stand, grinste sie freundlich an, doch sie hatte ihn kaum bemerkt. Ihre Augen waren weiterhin auf das Handy gerichtet. Ihr Finger strich über den Bildschirm, als suchte sie etwas, das sie nicht ganz benennen konnte. Ein Gefühl von Vertrautheit, ein unbestimmtes Bedürfnis, mehr zu erfahren.
Der nächste Halt kam, und Isabella stieg aus, ließ die anderen Fahrgäste hinter sich. Ihr Heimweg führte sie durch die grauen Straßen, die sich im Dämmerlicht der späteren Stunde immer mehr in einem dunklen Schleier verloren. Ihre Gedanken waren bei Sergio, bei den Wörtern, die sie in seinem Blog gelesen hatte, bei den Erinnerungen, die in ihm wachgerufen wurden. Was hatte sie eigentlich über ihre eigene Familie gewusst? Was wusste sie über sich selbst? Ihre Mutter schwieg sich zu dem Thema aus.
Sie ging den gewohnten Weg zu ihrer Wohnung, doch heute fühlte sich alles anders an. Der Nebel, der draußen in den Straßen schwebte, schien sich auch in ihrem Kopf festzusetzen. Er verschwand nicht, sondern breitete sich aus, zog die Gedanken in eine Richtung, die sie nicht verstand. Etwas an diesem Blogger, an den Bildern und den Geschichten, hatte sie berührt. Etwas, das sie schon lange nicht mehr gespürt hatte – ein Aufbruch, eine Sehnsucht, die sie nicht wirklich erklären konnte.
Als sie ihre Wohnungstür öffnete, ging sie direkt ins Wohnzimmer, stellte ihre Tasche ab und ließ sich auf die Couch sinken. Die Stille um sie herum fühlte sich fast unangenehm an. Ihre Wohnung war leer – es gab keine Stimmen, keine Geräusche. Der einzige Begleiter war das monotone Ticken der Wanduhr, die sie sich gekauft hatte. Sie griff wieder nach ihrem Handy, öffnete erneut den Blog von Sergio und begann zu lesen.
„Wald der Kindheit“ – die Worte, die er gewählt hatte, schienen sich in ihr zu verankern. Was bedeutete dieser Wald für ihn? Was suchte er dort? Und, viel wichtiger: Was würde sie dort finden, wenn sie ihm folgte?
Isabella konnte nicht sagen, wie lange sie noch auf dem Sofa saß und las. Die Zeit schien sich um sie herum zu verlieren, als stünde sie außerhalb der Welt, die sie gekannt hatte. Der Tag war endgültig zu Ende, und trotzdem wusste sie, dass dies der Beginn von etwas war. Vielleicht einer Reise, vielleicht einer Veränderung. Sie hatte keine Ahnung, was sie suchte, aber sie wusste, dass es etwas gab, das sie finden musste.
🌿 Ausblick:
Nächsten Sonntag: Isabella wird zum ersten Mal laut aussprechen, dass sie fortwill. Noch nicht vor allen – aber vor jemandem, der sie daran erinnern wird, dass Träume Opfer brauchen.
Wenn ein Satz hängen geblieben ist,
wenn etwas in dir nachhallt,
dann schreib es gern hier unten.
Keine Pflicht. Nur, wenn du magst.
Die nächsten Kapitel kommen
immer sonntags, wenn der Nebel noch tief hängt.
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