Isabella am chaotischen Schreibtisch, ein Glas Wein

Vorspann:

Isabella klickt. Nur ein Video. Dann noch eins.
Was als beiläufige Suche beginnt, wird zu einer Reise ins Innere – und der Moment, in dem sich zum ersten Mal etwas verändert.
Ein Mann spricht über seinen Großvater.
Ein Bild flackert über den Bildschirm.
Und plötzlich ist da ein Ziehen, ein Kloß im Hals – ein Anfang.

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Sie griff zur Fernbedienung, schaltete den Fernseher aus, stand auf und setzte sich an den kleinen Schreibtisch in der Ecke ihres Wohnzimmers. Der Laptop erwachte mit einem sachten Surren zum Leben, und bald glühte das vertraute Weiß der Suchmaschine über den Bildschirm.

„Sergio Menendez Clavero“, tippte sie ein.

Die ersten Treffer kannte sie bereits: sein Instagram-Profil, der Blog, einige Fotobeiträge in Reiseportalen. Doch dann fiel ihr Blick auf einen Link zu YouTube – „Menendez Viajero – Offizieller Kanal“. Ein Hauch von Neugier zog ihr die Schultern straff – was würde sie auf diesem Kanal wohl entdecken? Für einen Moment hielt sie inne, erinnerte sich an das verschwommene Foto aus dem Blog, an das Gefühl, das sie beim Lesen von Sergios Worten nicht losgelassen hatte. Vielleicht würde sie in den Videos mehr über ihn und seine Geschichte erfahren, vielleicht Antworten finden, die sie gar nicht gesucht hatte. Mit klopfendem Herzen klickte sie auf den Link.

Das Kanalbild zeigte ihn an einem Berghang, die Kamera in der Hand, hinter ihm ein weiter Horizont, durchzogen von Licht und Wolken. Sie klickte auf das neueste Video. Es begann mit einer ruhigen Kamerafahrt durch einen nebligen Wald – der gleiche Pfad wie auf dem Foto im Blog, diesmal in Bewegung. Vogelrufe, das sanfte Rascheln von Blättern, das ferne Tropfen von Wasser, und ein feiner Duft von feuchtem Moos lag in der Luft. Ein kühler Windhauch strich über ihre Haut, ließ sie für einen Moment frösteln. Seine Stimme aus dem Off war ruhig, leicht rau, mit einem weichen kastilischen Akzent.

Sie verstand kein Spanisch, aber sie las die Untertitel. Obwohl sie kein Spanisch verstand, halfen ihr die sorgfältig geschriebenen Untertitel, dem Inhalt zu folgen und die Bedeutung der Worte zu erfassen.

Während sie das Video betrachtete, spürte sie, wie die Ruhe des Waldes langsam auf sie überging und ihr Herz einen Moment lang leichter wurde.

„Ich war sieben, als ich zum ersten Mal diesen Weg entlangging. Mein Großvater hatte mir Geschichten erzählt, aber es war mein Urgroßvater, der in diesen Wäldern verschwand. Franco, der Krieg… vieles wurde nicht gesagt. Nur Schweigen. Ich gehe heute für ihn – vielleicht auch für mich.“

Isabella spürte, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle bildete. Sie lehnte sich zurück, starrte auf den Bildschirm, als könnte sie durch das Glas hindurch einen Teil dieser Geschichte begreifen. Das Bild wechselte: ein altes Schwarzweißfoto eines jungen Mannes in Uniform, eingeblendet über dem rauschenden Wald. Dann ein Blick über ein Tal in Galicien, Wolken, die sich an den Hängen verfingen, wie Gedanken, die nicht zu fassen waren.

Das Video endete still – keine Musik, kein Abspann. Nur Nebel. Und sein letzter Satz:

„Ich will wissen, woher ich komme. Vielleicht finde ich so heraus, wohin ich gehe.“

Isabella starrte noch eine Weile auf das dunkle Fenster, in dem gerade eben noch seine Stimme erklungen war. Dann klickte sie auf das nächste Video, und das nächste. Die Zeit verlor sich. Und zum ersten Mal seit langer Zeit spürte sie etwas, das wie ein leises Ziehen an ihrer Seele wirkte – nicht laut, nicht bedrohlich, sondern wie der erste Atemzug nach einem langen, grauen Winter.

Die Stunden verstrichen unbemerkt.

Isabella saß wie festgewachsen an ihrem kleinen Schreibtisch, die Lampe über ihr warf ein blasses Licht auf die Tastatur, während der Rest der Wohnung in Dunkelheit versank. Draußen war es längst tiefe Nacht geworden, doch in ihr war ein neues Leuchten erwacht – ein fiebriges, ruheloses Licht, das sie durch Links, Videos, Blogeinträge und Bilder trieb wie durch ein Labyrinth aus Stimmen, Erinnerungen und Orten, die nichts mit ihrem Leben zu tun hatten – und doch alles damit.

Sie klickte sich durch Sergios YouTube-Archiv, las seine älteren Blogbeiträge, folgte ihm virtuell durch die schroffen Berge Asturiens, die trockenen Hügel Aragóns und die Nebelwälder Galiciens. Immer wieder tauchte das Motiv auf – ein schmaler Pfad, eingefasst von Moos und nassem Laub, fast wie ein Portal in eine andere Welt. Jedes Bild, jedes Wort, jede kleine Erzählung von Kindheit, Verlust und Suche rührte an etwas in ihr, das sie lange verdrängt hatte.

Sie vergaß, Wasser zu trinken, vergaß, den Laptop an den Strom zu hängen, bis der Bildschirm kurz flackerte und sie hastig das Kabel einstöpselte. Die Welt außerhalb des flimmernden Monitors verlor an Bedeutung. Das Büro, die grauen U-Bahn-Fahrten, die leeren Gespräche, die sterile Wohnung – sie erschienen ihr wie die Kulisse eines fremden Lebens.

In einem älteren Video erzählte Sergio von einem einzigen Foto seines Urgroßvaters – aufgenommen wenige Jahre vor dessen Verschwinden. Die Kamera hielt auf das vergilbte Bild. Der Blick des Mannes war ernst, beinahe wachsam. „Ich frage mich oft,“ sagte Sergio leise, „ob er ahnte, dass er nie zurückkehren würde. Ich frage mich, ob er Angst hatte. Und ob jemand auf ihn gewartet hat.“

Da, ganz unvermittelt, platzte in Isabella etwas auf.

Die Tränen kamen zuerst langsam, beinahe widerwillig – doch dann brach alles hervor. Schluchzen schüttelte ihren Körper, unkontrolliert, hemmungslos. Sie lehnte sich nach vorn, vergrub das Gesicht in den Händen, die Schultern bebten, der Atem stockte. Es war kein gezielter Schmerz, eher ein Strom aus Sehnsucht, Verlust und einer tiefen, stillen Erkenntnis: dass sie selbst nie gewartet hatte. Auf niemanden. Und dass auch niemand auf sie gewartet hatte.

Sie war 28 Jahre alt und hatte es nie geschafft, länger bei jemandem zu bleiben. Immer wieder hatte sie gehofft, diesmal würde es anders werden – dass sie vielleicht endlich genug wäre, dass jemand bleiben wollte. Doch jedes Mal zerbrach etwas, bevor es wirklich ernst werden konnte. Mal hatte man ihr gesagt, sie sei zu langweilig, zu festgefahren in ihren Gewohnheiten, mal war sie angeblich nicht spontan genug. Sogar hässlich oder dick hatte man sie genannt. Jedes dieser Worte brannte sich tief in ihr fest, ließ sie nachts an sich zweifeln und überlegte, ob sie je jemandem wirklich genügen würde. Sie fragte sich oft, ob es an ihr lag, ob sie zu wenig gab oder zu viel verlangte – und manchmal spürte sie, wie sich eine leise Angst in ihr ausbreitete, dass sie nie jemanden finden würde, der bleiben wollte.

Sie erinnerte sich an ihren ersten Freund Stephan. Sie waren nur wenige Monate zusammen gewesen, doch schon früh hatte sich ein Gefühl von Distanz eingeschlichen. Oft hatte sie seine Spontaneität und Rastlosigkeit verunsichert, während er ihre ruhige Art manchmal als Bremse empfand. Als er schließlich ging, war sie 19 Jahre alt. „Ich will keine Freundin, die innerlich eine alte Jungfrau ist. Ich will eine, die das Leben genießen kann“, hatte er gesagt. Seine Worte trafen sie unerwartet hart – als hätte er etwas in ihr offengelegt, das sie selbst kaum benennen konnte. Was meinte er damit? War sie wirklich so zurückhaltend, so anders als andere? Noch Jahre später hallte dieser Satz in ihr nach, tauchte in Momenten der Unsicherheit wieder auf und ließ sie an sich zweifeln. Die Trennung hatte sie damals tief getroffen, nicht nur wegen des Verlusts, sondern auch, weil sie das Gefühl hatte, dass ihr etwas Grundlegendes fehlte – etwas, das sie erst viel später zu suchen begann.

Sie wusste nicht, wie lange sie so saß. Vielleicht Minuten, vielleicht eine Stunde. Irgendwann versiegten die Tränen, hinterließen ein leeres, klares Gefühl – wie nach einem Gewitter. Der Bildschirm zeigte das Ende des Videos. Nebel über Bäumen. Kein Ton. Nur Stille.

Isabella atmete tief ein. Dann schloss sie langsam den Laptop. Der Morgen war nicht mehr fern. Und etwas in ihr war zum ersten Mal in Bewegung geraten.

Isabella saß immer noch an ihrem Schreibtisch, die Handflächen flach auf dem Laptop, aber ihre Gedanken liefen weiter, unaufhaltsam. Sie dachte an all die Orte, die Sergio bereiste, an all die Geschichten, die er erzählte, an das, was er suchte und fand – oder auch nicht. Und plötzlich, inmitten der Stille ihres kleinen, leeren Zimmers, war da dieses Bild in ihrem Kopf, das wie ein unwillkommener, aber faszinierender Gedanke auftauchte.

Was wäre, wenn sie Teil von Sergios Leben wäre?

Der Gedanke kam wie ein Blitz und ließ sie für einen Moment still in der Dunkelheit verharren. Sie stellte sich vor, wie es wäre, gemeinsam durch die nebligen Wälder Galiciens zu gehen, den schweren, feuchten Boden unter ihren Füßen zu spüren, die kühle Luft einzuatmen, die Geschichten zu hören, die er in den leeren Raum zwischen ihnen legte. Vielleicht wären sie zusammen durch diese alten Dörfer gewandert, hätten in den verblassten Gemäuern vergangener Zeiten die Spuren seiner Familie entdeckt. Vielleicht hätte sie sich an seiner Seite verloren und wiedergefunden, genauso wie er selbst es in seiner Suche tat. Vielleicht hätte sie seine Hand gehalten, ohne Worte – nur durch das Teilen der Erinnerung an verlorene Menschen, verlorene Zeiten.

Und dann stellte sie sich vor, wie sie nicht nur eine Freundin von Sergio wäre, sondern die Frau, mit der er sein Leben teilte. Sie hatte die Bilder von ihm gesehen, auf denen er ganz bewusst seinen Körper gezeigt hatte, den muskulösen Oberkörper und auf einem Bild war er beim Schwimmen in einem See zu sehen, nackt im Sonnenschein. Isabella atmete tiefer, als sie an das Bild dachte. Sergio war älter als sie, etwa Ende 30, aber er war attraktiv. Bisher waren die Männer in ihrem Leben anders gewesen, schlaffer, weicher. In Sergio sah sie einen völlig anderen Typus Mann.

In ihrer Vorstellung war sie nicht mehr die Frau, die durch überfüllte U-Bahn-Wagen zu einem sterilen Büro in Gelsenkirchen fuhr, nicht mehr diejenige, die nach Feierabend in einer leeren Wohnung vor einem noch leereren Fernseher saß. Sie war jemand anderes, jemand, der mit ihm in diese fremde Welt eintauchte – eine Welt voller unerzählter Geschichten und längst verblasster Spuren. Gemeinsam gingen sie durch die feuchten Nebel des Waldes, in denen jeder Schritt wie eine Reise ins Unbekannte erschien und der Boden unter ihren Füßen nach nasser Erde roch. Vielleicht begleitete sie ihn nicht nur durch die Nebel, sondern auch durch die Schatten seiner eigenen Vergangenheit, in die er sich so verzweifelt zurückzuwagen schien. Sie spürte seine Unsicherheit – das leise Zögern in seinen Bewegungen, die unausgesprochenen Fragen in seinem Blick – und ein Gedanke formte sich in ihr: Sie wollte ihm Halt geben, wollte jemand sein, bei dem er sich fallenlassen konnte. In diesem Moment, zwischen Nebel und Erinnerung, verband sie mehr als nur das Gehen; es war das stille Versprechen, füreinander da zu sein – auch dann, wenn Worte fehlten.

Wenn ein Satz hängen geblieben ist,
wenn etwas in dir nachhallt,
dann schreib es gern hier unten.
Keine Pflicht. Nur, wenn du magst.

Die nächsten Kapitel kommen
immer sonntags, wenn der Nebel noch tief hängt.

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Von Andrea Baer

Ich lebe in diesem Haus aus Worten und baue es Buchstabe für Buchstabe.

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