Vorspann

Eine Tasse Kaffee, ein Gespräch am Rand, ein Satz, der bleibt. Während draußen der Regen fällt, beginnt in Isabella etwas zu wachsen: die Ahnung, dass Sprache ein Weg sein könnte. Nicht zurück zu Sergio – sondern zu sich selbst.

<<– Zurück zu Kapitel 7-Die Sprache dazwischen

Zuerst hatte sie sich eine Sprachlern-App heruntergeladen. Sie wusste nicht genau, was sie erwartete, aber der Gedanke, Sergio vielleicht besser verstehen zu können – und vielleicht auch sich selbst – hatte sie angetrieben. Anfangs waren es nur ein paar Minuten am Abend, manchmal auch nur während einer Kaffeepause. Aber diese Minuten wurden zu einer Gewohnheit, einer stillen Flucht vor der Stille ihres Alltags.

Die App gab ihr eine Struktur. Jeden Tag gab es neue Lektionen: Vokabeln, einfache Sätze, Grammatikübungen. Isabella kämpfte sich durch das Lernen, oft frustriert, weil die Wörter in ihrem Kopf vermischten und sich nicht so recht ordnen wollten. Es war ein ständiger Kampf gegen die Zweifel: Wird sie es je schaffen, wirklich zu verstehen, was Sergio schreibt? Wird sie eines Tages in der Lage sein, ihm zu antworten, ohne sich dabei hilflos zu fühlen?

Aber es war auch etwas anderes, das sie bei jeder Übung antrieb. Es war die Vorstellung, dass sie ihm eines Tages in seiner Sprache nahe sein könnte, dass sie vielleicht durch diese Sprache ein Stück von dem verstehen würde, was ihn zu dem machte, was er war. Ihr Herz pochte schneller, als sie versuchte, die einfachen Sätze zu sprechen, die sie sich mühsam beibrachte.

„¿Cómo estás?“ – Wie geht es dir?

Jeden Tag wiederholte sie solche Sätze, versuchte, die Worte richtig auszusprechen, auch wenn sie sich selbst seltsam dabei vorkam. Aber mit jeder Wiederholung wuchs ein kleines Gefühl der Sicherheit. Und mit jedem Tag wurde sie ein Stückchen mutiger. Die App gab ihr nicht nur die Sprache, sie gab ihr auch eine neue Perspektive – nicht nur auf Sergio, sondern auf ihr eigenes Leben. Auf die Dinge, die sie in all der Zeit übersehen hatte, auf die Welt jenseits ihrer grauen Routine.

Eines Abends, nach einer besonders langen Sitzung, als sie sich müde, aber zufrieden auf das Sofa fallen ließ, wischte sie durch die Lektionen und stieß auf eine einfache Phrase: „El camino es más importante que el destino“ – Der Weg ist wichtiger als das Ziel. Sie starrte auf die Worte. War das nicht genau das, was sie auf irgendeine Weise in Sergios Blog gelesen hatte? Vielleicht hatte er nie diese Worte so direkt gesagt, aber es war die Botschaft, die er in seinen Erzählungen von seiner Suche durch den Nebel vermittelte.

Isabella hatte plötzlich das Gefühl, dass auch sie auf ihrem eigenen Weg war, wenn auch noch auf einer Reise, die sie sich selbst erst erschaffen musste. Ihre Reise hatte gerade erst begonnen, und obwohl sie sich immer noch in den Anfängen befand, fühlte es sich an, als hätte sie einen entscheidenden Schritt in eine Richtung gemacht, von der sie nie gewusst hätte, dass sie sie gehen würde.

Am nächsten Tag saß sie wieder in ihrem Büro, während die Stunden wie immer zäh verstrichen. Aber in ihrem Inneren wusste sie: Sie war nicht mehr nur die Isabella von gestern. Sie war jemand, der sich verändert hatte – auch wenn es nur durch kleine, unauffällige Schritte war, die sie in ihrer Stille tat.

Es war ein grauer Nachmittag, der in die vertrauten Routinen des Büroalltags einzutauchen schien. Isabella saß in der Kaffeeküche, allein, wie so oft. Die anderen Kollegen schütteten sich ihre Kaffeetassen voll, unterhielten sich in kleinen Grüppchen, lachten über den neuesten Klatsch oder die neuesten Pläne fürs Wochenende. Isabella nahm einen schnellen Schluck aus ihrer Tasse, dann starrte sie eine Weile auf das Kaffeepulver, das sich langsam im Becher absetzte. Ihre Gedanken drifteten, wie so oft, in eine andere Richtung.

Doch an diesem Tag war es anders. Ein Gespräch am anderen Ende der Küche brachte sie zurück in die Gegenwart. Daniela, eine Kollegin, die immer ein wenig lauter und lebendiger war als die anderen, stand mit einer Hand an der Wand und erzählte von ihrem letzten Urlaub in Kroatien.

„Es war einfach traumhaft“, sagte sie, während sie mit einer Hand auf den Becher deutete. „Weißt du, dieses Gefühl, das du hast, wenn du an einem ganz anderen Ort bist, in einer fremden Stadt, einer neuen Kultur. Es ist wie ein Neustart. Du bist für eine Weile nicht mehr die, die du jeden Tag bist, verstehst du?“

Isabella zuckte zusammen, als sie die Worte hörte, als hätten sie einen versteckten Funken in ihr entzündet. Sie hatte sie oft gehört, diese Worte über das Reisen, aber sie hatten nie die gleiche Bedeutung für sie gehabt. Sie hatte nie etwas anderes gesucht, als sich durch die Tage zu schleppen, sich von Aufgabe zu Aufgabe zu hangeln. Aber jetzt… jetzt war etwas anderes in ihr. Ein kleiner Funke.

„Ja“, sagte sie leise und ließ ihre Worte eher ins Leere fallen, als sie wirklich für jemand anderen gedacht waren. „Vielleicht… vielleicht ist das, was ich brauche. Ein Neustart.“

Daniela schaute sie neugierig an. „Ach, du auch? Was hält dich davon ab?“

Isabella zögerte. Eigentlich wusste sie die Antwort. Ihr Leben war so fest und unverrückbar wie der graue Himmel, den sie jeden Morgen vom Fenster ihres Büros aus betrachtete. Reisen – das war für andere, nicht für sie. Sie hatte nie die Gelegenheit dazu gehabt, nie die Freiheit, wirklich zu träumen. Aber irgendetwas in ihr regte sich, als sie diese Frage hörte. Ein flüchtiger Gedanke, ein winziger Impuls.

„Ich… ich weiß nicht“, antwortete sie und versuchte, das Thema mit einem kurzen Lächeln abzuschließen. „Ich glaube, ich habe nie wirklich darüber nachgedacht. Aber es gibt da jemanden, von dem ich immer wieder lese… ein Reiseblogger aus Spanien.“

Daniela blinzelte überrascht. „Oh, wirklich? Was schreibt er?“

„Er… er geht auf eine Reise durch Spanien, sucht nach seiner Familiengeschichte. Es klingt… magisch. Weißt du, er spricht immer davon, wie er in den Nebelwäldern spaziert, auf den Wegen, die seine Vorfahren gegangen sind. Es ist… irgendwie faszinierend, wie er diese Verbindung zu seinem Land findet.“

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Von Andrea Baer

Ich lebe in diesem Haus aus Worten und baue es Buchstabe für Buchstabe.

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