Vorspann:
„Eine E-Mail, schlicht im Betreff – und doch wie ein Schlüssel. Sergios Geschichte öffnet in Isabella einen Raum, der lange verschlossen war.“

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Die Schatten der Vergangenheit

Es war später Abend, als Isabellas Handy leise vibrierte. Sie lag im Bett, umgeben von Dunkelheit und dem blauen Licht ihres Bildschirms. Eine neue E-Mail von Sergio war eingetroffen – der Betreff schlicht: „Algo personal / Etwas Persönliches.“

Mit leicht zitternden Fingern öffnete sie die Nachricht. Ihr Spanisch war noch bruchstückhaft, aber genug, um die Worte zu verstehen – oder zumindest zu fühlen.

„Isabella, du hast mich gefragt, warum ich so viel reise. Warum ich manchmal einfach aufbreche, ohne Ziel. Ich habe lange gezögert, darüber zu schreiben. Aber vielleicht ist jetzt der richtige Moment.

Mein Urgroßvater verschwand in den 1940er Jahren. Während der Franco-Diktatur. Niemand weiß genau, was passiert ist – ob er geflohen ist, verhaftet wurde, oder irgendwo in einem Massengrab liegt. Meine Urgroßmutter sprach nie offen darüber. Nur einmal, als ich sieben war, nahm sie mich mit in ein Waldstück nahe Lugo, wo sie meinte, er früher oft spazieren ging. Sie sagte: ‚Aquí, lo vi por última vez.‘ – Hier habe ich ihn zum letzten Mal gesehen.

Ich erinnere mich an den Nebel, das feuchte Laub unter meinen Schuhen, den stillen Schmerz in ihrem Gesicht. Sie ist schon viele Jahre tot. Seitdem zieht es mich immer wieder dorthin zurück – zu Wegen, die kein Ende haben. Vielleicht, weil ich glaube, dass ich ihn eines Tages finde. Oder wenigstens verstehe, was ihm genommen wurde.

Mein Blog, meine Reisen – sie sind ein Versuch, durch das Gehen zu begreifen. Ich suche nicht nur Orte. Ich suche Spuren. Geschichte. Und vielleicht ein Stück Heimat.“

Isabella hielt die Luft an. Die Worte waren einfach. Ungekünstelt. Und doch trafen sie sie wie ein leiser, tiefer Akkord im Inneren. Es war kein touristischer Post, keine Kulisse, keine Pose. Es war echt. Roh.

Sie las die E-Mail zweimal. Dann noch ein drittes Mal. Der Wald, der Nebel, die Stille – sie konnte es sehen, spüren. Fast, als wäre sie selbst dort gewesen. Als würde sie nun nicht mehr nur einen fremden Mann betrachten, sondern jemanden, der einen Teil von ihr gespiegelt hatte.

Langsam schrieb sie ihm zurück. Nicht viel. Nur:

„Danke. Ich glaube, manche Wege beginnen, bevor man weiß, dass man geht.“

Spiegelungen

Am nächsten Morgen ging Isabella wie gewohnt zur Arbeit, doch etwas war anders. Während sie durch die Straßenbahn drängte, vorbei an dösenden Pendlern, Werbeplakaten und dem tristen Grau des Gelsenkirchener Januars, hallte Sergios E-Mail in ihr nach. Immer wieder.

Sein Schmerz, seine Geschichte, seine Suche – sie hatten etwas in ihr berührt, das sie selbst kaum benennen konnte. Es war nicht bloß Mitleid gewesen. Auch keine bloße Faszination für ein fremdes Leben. Es war das leise, aber erschütternde Erkennen: Er sucht genauso wie ich.

Im Büro zog sie plötzlich alle Blicke auf sich. Thomas, ein Kollege, der sie immer ignoriert hatte, rief ihr ein: “Schick!“ zu.

In der Kantine, während sie lustlos an ihrem Kaffee nippte, sah sie die Kolleginnen lachen, über Familienpläne sprechen, Urlaube im Allgäu. Isabella fühlte sich plötzlich weniger allein – nicht, weil sie jetzt dazugehörte, sondern weil da draußen jemand war, der dieselbe innere Unruhe kannte. Der Weglaufen nicht als Flucht, sondern als Annäherung verstand.

Sergio reiste, um Vergangenes zu berühren. Sie wollte aufbrechen, um ihre Zukunft zu finden. Und in dieser scheinbaren Gegensätzlichkeit lag eine seltsame Nähe. Beide tasteten sich durch Nebel.

In einem unbeobachteten Moment öffnete sie auf dem Bildschirm wieder seinen Blog. Diesmal nicht verstohlen, sondern fast wie zu einem Vertrauten. Ihre Augen blieben an einem Satz hängen, den er in einem älteren Beitrag geschrieben hatte:

„Manchmal beginnt die Reise nicht an einem Ort, sondern mit einer Frage, die niemand sonst stellt.“

Sie atmete tief ein. Ja. Das war es. Eine Frage, die sie selbst kaum in Worte fassen konnte – aber die sie beide verband.

Isabella wusste jetzt: Sie suchte nicht länger nur nach etwas. Sondern auch nach jemandem, der suchte.

Erste Schritte

Etwas hatte sich verändert – kaum merklich, aber spürbar. An diesem Samstagabend stand Isabella zum ersten Mal seit langer Zeit in ihrer Küche und ließ die Tiefkühlpizza im Eisfach liegen. Stattdessen schnitt sie ein Zucchino, rührte eine Tomatensoße zusammen und würzte vorsichtig mit frischem Basilikum aus einem Topf, das sie spontan im Supermarkt gekauft hatte.

Es war kein Festmahl. Die Pasta war etwas zu weich, die Soße zu säuerlich – doch es war das erste selbstgekochte Essen seit Monaten. Sie deckte sogar den Tisch. Kein Fernseher, kein Handy. Nur Kerzenschein. Eine Kleinigkeit. Aber es fühlte sich an wie ein leiser Akt der Selbstachtung. Es schmeckte ihr trotz der Mängel hervorragend.

In den folgenden Tagen griff sie zu einem Buch, das sie vor längerer Zeit gekauft, aber nie aufgeschlagen hatte – ein Reiseroman über das Pilgern in Nordspanien. Abends saß sie eingekuschelt auf dem Sofa, las, notierte Gedanken in ein altes Notizbuch. Es waren keine großen Erkenntnisse, eher Fragen: Was bedeutet Heimat? Was will ich wirklich? Wo wäre ich mutig, wenn niemand zusähe?

Auch in ihrer Wohnung begann sich etwas zu verändern. Eine bunte Decke über dem grauen Sofa. Ein Ausdruck von Sergios Waldpfad-Foto, das sie ausgedruckt und an die Kühlschranktür gepinnt hatte. Und auf dem Fensterbrett stand nun ein kleiner Kaktus. Noch stil Aber lebendig.

Sie sprach noch nicht darüber. Nicht mit ihrer Mutter, nicht mit Daniela, nicht mit sich selbst. Doch irgendwo, tief drinnen, wusste sie: Das hier war der Anfang.

Ein neuer Ton

Es geschah schleichend, fast unbemerkt. Keine plötzliche Veränderung, kein radikaler Bruch – eher ein neues Flimmern in der Luft, ein anderer Ton, der sich unter das gewohnte Grau mischte.

Isabellas Wohnung, einst bloß funktional und still, begann sich zu wandeln. Der kleine Kaktus auf der Fensterbank reckte sich dem Licht entgegen. Ein zweiter Topf gesellte sich dazu – diesmal ein Kräutertopf mit Petersilie, den sie spontan mitgenommen hatte, weil er in Sergios Blog in einer Küche aufgetaucht war.

Sie kochte nun regelmäßig, probierte neue Rezepte aus. Ihr Körper begann sich zu verändern. Sie spürte eine neue Energie in sich und wurde schlanker. Bald schon wurden ihre Hosen und Röcke zu weit. Zum Geburtstag, Anfang Februar, wollte sie sich neu einkleiden.

Ein Foto vom Waldweg, das sie zuvor mit einem Magnet an den Kühlschrank gepinnt hatte, wurde in einen schlichten Rahmen gesetzt und an die Wand gehängt. Darunter stapelte sich eine kleine Auswahl an Büchern – keine Bestseller, sondern Fundstücke aus dem Antiquariat: Reisetagebücher, alte Atlanten, sogar ein abgegriffenes spanisches Wörterbuch.

Auf dem Sofa lag jetzt eine bunte Decke mit Fransen, die sie früher nie gewählt hätte – zu lebendig, zu auffällig. Jetzt wirkte sie wie ein leiser Trotz gegen die Sterilität, die ihr Leben bisher dominiert hatte. Auch das Licht hatte sich verändert. Statt der grellen Deckenlampe brannten nun abends zwei Stehlampen mit dimmbaren LEDs.

Es war noch immer dieselbe Wohnung. Doch plötzlich schien sie zu atmen.

Abspann:
„Manchmal ist es nicht die Antwort, die alles verändert – sondern die Frage, die man endlich zulässt.“

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Von Andrea Baer

Ich lebe in diesem Haus aus Worten und baue es Buchstabe für Buchstabe.

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