📖 Vorspann:
Ein Satz, eine Antwort – und plötzlich bewegt sich etwas. Isabella wagt den ersten unwiderruflichen Schritt hinaus aus ihrem alten Leben.
Zurück zu Kapitel 11 – Karten im Kopf
Ein Lichtstreif im Posteingang
Isabella saß am nächsten Tag noch lange vor dem Bildschirm, obwohl ihre Aufgaben längst erledigt waren. Die Worte von Frau Klenke hallten in ihr nach wie ein Echo, das sich nicht abschütteln ließ. Fehler. Konzentration. Verlässlichkeit. Alles klang wie ein Urteil über ihr ganzes Leben, nicht nur über eine Tabelle.
Und dazwischen blitzten, wie aus einer anderen Welt, noch immer einzelne Bilder von gestern auf – das andalusische Landhaus im Abendlicht, der gedeckte Tisch, das Gelb der Wände.
Sie öffnete einen neuen Tab, fast automatisch. Sergios Blog war wie ein Zufluchtsort geworden – weit entfernt von fluoreszierendem Licht und künstlicher Höflichkeit. Doch heute war selbst sein letzter Beitrag über einen nebligen Morgen in den Bergen Aragoniens nicht genug, um die Unruhe in ihr zu beruhigen.
Nach langem Zögern klickte sie auf „Kontakt“. Eine kleine Nachricht, nur ein paar Sätze:
„Hola Sergio,
Ich wollte nur sagen, dass mich deine Texte in letzter Zeit sehr berühren. Ich habe heute einen dieser Tage, an denen man an allem zweifelt – besonders an sich selbst. Vielleicht kennst du das Gefühl.
Grüße aus dem kalten Gelsenkirchen,
Isabella“
Sie schickte die Nachricht ab, ohne zu erwarten, dass er antworten würde. Vielleicht war es kindisch, vielleicht auch mutig – sie wusste es nicht.
Sergio
Während Isabellas Nachricht ihren Weg durch Kabel und Server nahm, war Sergio in den Ausläufern der Pyrenäen unterwegs. Ein schmaler Pfad zwischen alten Steinmauern, Kies knirschte unter den Stiefeln, die Kamera filmte mit – für die Follower, die sein „authentisches Leben“ sehen wollten.
Später würde er daraus einen Zwei-Minuten-Clip machen: goldener Morgenhimmel, Atemwolken in der Kälte, ein nachdenklicher Satz über das Loslassen. Und darunter würden Kommentare eintrudeln: Herz-Emojis, Fragen nach seiner Jacke, Bitten um Tipps für günstige Flüge nach Spanien.
Er wusste, wie das Spiel lief. Gesponserte Ausrüstung, Werbeverträge mit Outdoor-Marken, Affiliate-Links unter jedem Beitrag. Es reichte für Miete, Kaffee und Wanderkarten – und dafür, Entscheidungen zu vermeiden.
Manchmal, wenn er in den Bergen unterwegs war, kam ihm eine Wanderung in den Sinn, die ihn vor Jahren fast bis an die französische Grenze geführt hatte. Der Pfad war schmal gewesen, gesäumt von Ginster und Wacholder, und endete an kaum noch sichtbaren Ruinen. Grundmauern, halb überwachsen. Terrassenfelder, längst nicht mehr bestellt. Auf einer alten, halb verwaschenen Karte hatte der Ort noch einen Namen getragen: Sanluz de Montarroyo.
Der Zettel mit dieser Karte lag irgendwo in derselben Schublade wie der kleine Messingschlüssel, den er nicht wegwerfen konnte.
Manchmal, spät abends vor dem Laptop, fragte er sich, ob er nicht lieber ein Familienleben hätte. Kein perfektes Bild, sondern Alltag ohne Filter. Aber dann schob er den Gedanken weg wie einen störenden Tab im Browser. Morgen war auch noch ein Tag, um Antworten zu finden.
Am nächsten Morgen, kurz vor Arbeitsbeginn, leuchtete eine neue E-Mail in ihrem Posteingang auf.
„Hola Isabella,
Ich kenne das Gefühl nur zu gut. Zweifel sind wie Nebel – sie machen alles undeutlich, aber manchmal zeigen sie auch, wo das Licht ist. Du bist auf dem Weg, das spürt man zwischen deinen Zeilen. Bleib nicht stehen.
Un abrazo desde el norte,
Sergio“
Isabella las die Zeilen mehrmals. Etwas in ihr verschob sich – leise, aber spürbar. Die Worte trafen einen wunden Punkt und heilten ihn im selben Atemzug.
Der Entschluss
Isabella hatte den ganzen Tag über ihre E-Mails geprüft, die akuten Probleme in der Arbeit beseitigt, die Zahlen abgeglichen und die Berichte fertiggestellt. Doch am Nachmittag, als sie die letzte Mail abschickte und die Zeit auf der Uhr sah, war es, als ob ein unsichtbares Gewicht von ihren Schultern genommen worden wäre.
Sie fuhr ihren PC herunter und lehnte sich zurück. Ihr Blick wanderte zu den grauen Wolken, die sich vor den Fenstern des Büros türmten. Das vertraute Gefühl der Erschöpfung kratzte an ihr, doch diesmal war etwas anders. Der Gedanke an ihre Routine, an das Büro, an den Alltag, der sie immer wieder in seine gewohnten Bahnen zog, konnte ihr nichts mehr nehmen. Sie spürte ein leises, aber immer stärker werdendes Bedürfnis: Etwas musste sich ändern.
Mit zitternden Händen griff sie nach ihrem Handy und öffnete ein Reiseportal. Ihre Finger tanzten über das Display, suchten nach günstigen Flügen nach Spanien. Sie hatte nie viel über Spontanität nachgedacht, hatte sich nie wirklich in den Wind geworfen, den sie immer nur in den Blogs anderer gesehen hatte.
Und doch war es jetzt die einzige Möglichkeit. Die einzige Chance, den leeren, grauen Rahmen ihres Lebens zu verlassen.
Der Bildschirm zeigte ihr günstige Flüge nach Santiago de Compostela – der historische Pilgerort, der in ihren Gedanken immer präsenter geworden war, je mehr sie sich in Sergios Texte vertieft hatte. Ein kleiner Gedanke, eine leise Ahnung: Hier könnte es beginnen. Hier könnte sie in diesem fremden Land, mit all den Fragen und dem Gefühl der Ungewissheit, den ersten Schritt in eine neue Richtung machen.
Mit einem tiefen Atemzug, als wollte sie die ganze Luft der alten Welt hinter sich lassen, klickte sie auf „Buchen“. Zwei Wochen. Sie würde einfach wegfahren. Ganz allein.
Der Flug war in zwei Monaten. Genug Zeit, um sich vorzubereiten, sich von allem zu lösen. Genug Zeit, um ihre Entscheidung zu verarbeiten – und vielleicht die Frage, ob sie überhaupt zurückkommen wollte.
Das Gefühl war wild, unvermittelt, wie ein ungezähmter Sturm, der in ihr tobte. Aber es fühlte sich richtig an.
Der Gedanke, dass sie sich dieser Reise stellen würde, erfüllte sie mit einer seltsamen Mischung aus Nervosität und Erwartung.
Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Zwei Wochen Mut
Es war ein Mittwoch, kurz vor Feierabend, als Isabella in der Teeküche stand und ihre leere Tasse anstarrte. Der Pfefferminzduft war längst verflogen, übrig geblieben war nur der bittere Nachgeschmack ihrer Entscheidungslosigkeit. Die Worte ihrer Chefin von letzter Woche klangen noch nach – als wäre sie jemand, der gerade noch so „funktionierte“, aber innerlich längst abwesend war.
Doch da war auch Sergios letzte Nachricht. Kurz, herzlich, und doch kraftvoll. „Bleib nicht stehen.“ Sie hatte diesen Satz abgeschrieben, auf einen Zettel neben ihrem Bildschirm geklebt. Und nun war er mehr als nur ein Satz.
Zurück am Platz, klickte sie auf das Intranet. Urlaubsanträge. Die Seite war nüchtern, bürokratisch, grau – wie fast alles in diesem Gebäude. Sie hielt kurz inne, ihr Finger schwebte über der Maus. Dann ein Klick. Kalenderansicht. Zwei Wochen im Frühling. Sie wählte die Tage aus, trug den Grund ein: „Privatreise“.
Ein letzter Blick, ein tiefer Atemzug.
„Absenden.“
Ein Fenster erschien: „Ihr Urlaubsantrag wurde erfolgreich übermittelt.“
📎 Abspann:
„Manchmal beginnt eine Reise nicht am Flughafen, sondern in einer einzigen Nachricht.“
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