Vorspann
Manchmal sind es stille Orte, die mehr bewegen als große Ereignisse. In diesem Kapitel begleite ich Isabella und Sergio zu einer alten Kapelle und weiter ans Meer – zwei Stationen, die für sie zu Wendepunkten werden. Vielleicht entdeckt ihr zwischen den Zeilen, was sich da verändert.
Zurück zu Kapitel 15 – Ein Platz, der nicht mehr leer ist
Stein und Stille
Die Kapelle lag versteckt auf einem Hügel, eingerahmt von wildem Ginster und alten Olivenbäumen. Ein unscheinbarer Bau aus grobem Stein, der sich in die Landschaft schmiegte, als sei er schon immer Teil von ihr gewesen. Der Weg dorthin war steil und schmal, und als sie die letzten Stufen erklommen, blieben beide für einen Moment schweigend stehen.
„Ich war als Kind oft hier“, sagte Sergio leise. „Meine Großmutter brachte mich her, wenn sie betete. Ich verstand nichts davon – aber ich mochte den Geruch. Wachs, Staub, altes Holz.“
Isabella trat vorsichtig ein. Die schwere Tür knarzte und gab den Blick frei auf einen kargen Raum mit einfachen Bänken und einer kleinen Figur der Virgen del Camino, deren Gesicht im Halbschatten lag. Nur ein paar Kerzen brannten. Es war kühl, still, fast ehrfürchtig.
Sie setzten sich nebeneinander in die letzte Reihe. Die Stille war so vollkommen, dass man das eigene Atmen hörte.
„Ich bin nicht religiös“, flüsterte Isabella.
„Ich auch nicht wirklich. Aber… manchmal glaube ich, Orte tragen Erinnerungen. Auch für die, die sie nicht selbst erlebt haben.“
Isabella fuhr mit der Hand über die raue Holzlehne der Bank. Sie dachte an das graue Büro, an die Neonlichter, an die Abende vor dem Fernseher. Und daran, wie weit das alles plötzlich entfernt schien.
„Es fühlt sich an wie… eine Schwelle“, sagte sie schließlich. „Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Zwischen hier und nirgendwo.“
Sergio nickte. „Vielleicht genau deshalb komme ich her. Um nicht ganz zu verschwinden.“
Sie sah zur Madonna. Ihre Züge waren schlicht, aber nicht hart. Es lag eine stille Güte darin, etwas Trostspendendes.
Isabella schloss die Augen. Und für einen Moment spürte sie etwas, das sie nicht benennen konnte – nicht Glaube, nicht Hoffnung. Aber Nähe. Als würde ein Teil von ihr, den sie lange nicht gespürt hatte, plötzlich aufatmen.
Als sie die Kapelle später verließen, war das Licht weicher geworden. Der Wind hatte sich gelegt. Und obwohl sie kein einziges Gebet gesprochen hatten, fühlte es sich an, als wäre etwas in Bewegung geraten.
Der Weg zum Meer
Am frühen Morgen brachen sie auf. Sergio hatte vorgeschlagen, ans Meer zu fahren – ein kleiner Ort, nicht in den Reiseführern, eine Bucht mit schwarzem Sand und kantigen Felsen, „wie aus einer anderen Welt“, hatte er gesagt.
Sie saßen in seinem alten Wagen, das Fenster auf seiner Seite halb geöffnet, Musik leise aus den Lautsprechern – etwas Spanisches, das sich für Isabella melancholisch und lebendig zugleich anfühlte. Die Straße wand sich durch Wälder und Hügel, und mit jedem Kilometer schien der Alltag weiter hinter ihr zu verschwinden.
„Warst du schon oft dort?“, fragte sie.
„Nur ein paar Mal. Aber jedes Mal denke ich: Ich muss zurück. Vielleicht, weil ich dort niemandem etwas beweisen muss.“
„Auch nicht dir selbst?“
Er lächelte kurz, ohne zu antworten.
Als sie ankamen, lag die Bucht verlassen unter einem graublauen Himmel. Das Meer atmete ruhig, in langen, rollenden Wellen. Keine Touristen, nur ein paar Möwen, die sich gegen den Wind stemmten.
Sie gingen nebeneinander am Wasser entlang. Isabella zog die Schuhe aus, tauchte ihre Füße ins kalte Meer und schrie leise auf, lachte dann – das erste freie Lachen, das Sergio von ihr hörte.
Später saßen sie auf einer flachen Felsplatte, teilten Brot, Oliven und Käse, den sie unterwegs gekauft hatten. Ihre Beine berührten sich flüchtig, ein fast zufälliger Kontakt – aber keiner von beiden wich zurück.
„Ich frage mich oft, ob ich zu viel laufe“, sagte Sergio irgendwann. „Ob es eine Grenze gibt zwischen Suchen und Fliehen.“
Isabella sah hinaus auf die glitzernde Wasseroberfläche. „Vielleicht ist es nur Flucht, wenn man gar nicht weiß, was man sucht.“
Er sah sie an, länger als nötig. „Und du? Was suchst du?“
„Ich weiß es noch nicht“, sagte sie ehrlich. „Aber ich glaube, ich fange gerade erst an.“
Ein Windstoß fuhr über das Wasser und ließ ihr Haar tanzen. Sergio hob die Hand, strich eine Strähne aus ihrem Gesicht – langsam, zögerlich. Und in diesem Moment war die Nähe nicht mehr zufällig, sondern gewollt.
Der Nachmittag verging wie im Flug. Als sie zurückfuhren, sagte keiner von beiden viel. Aber als Isabella am Abend in ihrem Zimmer die Salzkruste auf ihrer Haut spürte, wusste sie: Etwas hatte sich verändert.
Abspann
Zwischen Stein und Wasser, Stille und Bewegung, hat sich etwas gelöst. Noch ohne Namen, doch wie ein Versprechen, das im nächsten Kapitel weiterklingen wird.
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