Ein einfaches Mahl bei Verwandten für André und Marta
Besuch bei der Familie

Vorspann

Manchmal findet man die Wurzeln nicht dort, wo man sie vermutet.
Sergio besucht Verwandte, die er kaum kennt – und entdeckt in den stillen Gesten, den vertrauten Gerüchen und den Erinnerungen anderer ein Stück seiner eigenen Geschichte.

Zurück zu Kapitel 20 – Heimat in der Ferne

Ein Stück Heimat

Es war ein warmer Tag, die Sonne hing hoch am Himmel und tauchte die malerische Landschaft von Nordspanien in ein goldenes Licht. Isabella und Sergio fuhren auf einer schmalen, gewundenen Landstraße, die sich an Hügeln und Weiden entlang schlängelte. Die Straßen waren leer, nur vereinzelt fuhren sie an kleinen Dörfern vorbei, in denen die Häuser dicht aneinandergebaut waren, als wollten sie sich gegenseitig wärmen.

„Ich hoffe, sie sind zu Hause“, sagte Sergio, seine Stimme klang ein wenig angespannt. „Meine Verwandten wohnen hier in der Nähe. Es sind Menschen, die ich nur sehr selten sehe. Sie haben mir nie viel über die Familie erzählt. Ich weiß nicht, ob sie sich noch an mich erinnern.“

Isabella nickte, obwohl sie wusste, dass er sie wahrscheinlich mehr für seine eigene Unsicherheit als für sie selbst beruhigte. Sie hatte gelernt, dass er nicht nur auf der Suche nach den Spuren seines Urgroßvaters war, sondern auch nach Verbindungen zu den Menschen, die er auf seinem Weg verloren hatte.

Als sie an einem kleinen, mit Efeu überwucherten Haus anhielten, zögerte Sergio kurz, bevor er die Tür öffnete und klopfte. Es dauerte nicht lange, bis ein älterer Mann mit silbernem Haar und einem warmen, aber skeptischen Blick öffnete. „Sergio? Der Junge aus Barcelona?“ Der Mann schien überrascht, aber auch erfreut, ihn zu sehen.

„Ja, Onkel Andrés“, sagte Sergio und umarmte den Mann. „Ich dachte, es wäre schön, euch wieder einmal zu sehen. Ich habe lange nicht mehr vorbeigeschaut.“

Der Onkel trat zur Seite, um sie eintreten zu lassen. „Du bist also der junge Mann, der aus der Ferne gekommen ist, um nach seinen Wurzeln zu suchen“, sagte er mit einem Lächeln. „Komm rein, kommt rein. Deine Tante Marta ist drinnen und wird sich freuen, dich zu sehen.“

Isabella folgte Sergio hinein und blickte sich in der alten, mit rustikalen Möbeln eingerichteten Wohnung um. Der Raum roch nach Holz und Gewürzen, und an den Wänden hingen Bilder von Familie und vergangenen Zeiten. Es war wie ein Fenster in eine Welt, die sie nur aus Erzählungen kannte. Die Menschen hier waren einfach, aber ihre Wärme war spürbar, auch wenn es eine ruhige, fast zurückhaltende Wärme war.

Tante Marta, eine Frau in den späten Sechzigern mit grauem Haar und einem freundlichen, aber etwas fragenden Blick, begrüßte sie herzlich. Sie ließ Isabella Platz an einem Tisch, der mit einem einfachen Mittagessen gedeckt war – frisches Brot, Käse, Oliven und ein paar gegrillte Würstchen. Es war kein festliches Mahl, aber es fühlte sich dennoch wie ein Moment der Verbindung an.

„Ich habe oft von dir gehört, aber dich noch nie gesehen“, sagte Tante Marta zu Sergio, während sie ihm eine Tasse Kaffee einschenkte. „Dein Urgroßvater war ein stolzer Mann. Wir haben nicht viel über ihn gesprochen, aber er hat uns immer von seinen Reisen erzählt. Du weißt, wie das damals war… In den 40er Jahren war nicht viel Platz für große Träume.“

Isabella lauschte interessiert, als sie spürte, dass diese Gespräche hier etwas anderes bedeuteten. Für Sergio war dies mehr als nur ein Besuch bei Verwandten – es war ein Teil seiner Reise, ein Versuch, die Lücken in der Geschichte seiner Familie zu füllen. Doch für Isabella war es ebenso eine Reise, und sie fühlte sich irgendwie wie eine stille Beobachterin, die in das Leben eines anderen eintauchte, während sie gleichzeitig nach ihrem eigenen Platz suchte.

Der Nachmittag verging in entspannten Gesprächen über alte Zeiten, Geschichten von der Gegend und von der Familie, die sie über die Jahre hinweg verloren hatten. Sergio stellte viele Fragen, und Tante Marta und Onkel Andrés antworteten geduldig, manchmal mit einem Lächeln, das ihre Erinnerungen auflebte. Es war, als ob all die Jahre der Abwesenheit plötzlich unbedeutend wurden. In diesem Raum, bei diesen Menschen, fühlte sich alles richtig an.

„Wir sind alle ein Stück von dem, was war“, sagte Onkel Andrés nach einer Weile. „Manchmal ist es schwer, das zu erkennen, wenn man die Menschen nicht mehr sieht. Aber es ist immer noch da, in uns.“

Isabella spürte, wie sich etwas in ihr regte. Es war das Gefühl von Zugehörigkeit, das sie in den letzten Monaten immer mehr entdeckt hatte. Die Menschen, mit denen sie jetzt zusammen war, fühlten sich auf eine Art wie ihre Familie an, ohne dass sie je den gleichen Ursprung teilen mussten. Es war nicht nur die gemeinsame Zeit, sondern das stille Verständnis, das sie verband.

Als sie sich verabschiedeten, bedankte sich Sergio für den Besuch. Tante Marta drückte ihm fest die Hand und sah ihm tief in die Augen. „Wir sehen uns nicht oft, aber du bist immer willkommen, Sergio. Die Türen hier sind immer für dich offen.“

Isabella konnte sehen, wie wichtig dieser Moment für Sergio war, wie viel er von diesen kurzen Begegnungen mit seiner Familie erhoffte. Doch auch sie selbst fühlte eine leise Berührung der Verbundenheit, nicht nur mit den Menschen hier, sondern mit der Welt, die sich vor ihr ausbreitete.

Als sie sich auf den Rückweg machten, sagte sie leise: „Ich habe das Gefühl, dass du ein Stück deiner Geschichte hier gefunden hast.“

Sergio nickte, doch seine Augen waren nachdenklich. „Ja“, sagte er. „Aber ich weiß noch nicht, ob das genug ist. Vielleicht ist die Geschichte nicht nur das, was uns verbindet, sondern auch das, was wir daraus machen.“

Isabella spürte eine leise Ergriffenheit, als sie gemeinsam durch die sanften Hügel fuhren. Es war nicht nur seine Reise, auf die sie ihn begleitet hatte. Es war auch ihre eigene Reise, die sie Schritt für Schritt, Tag für Tag, immer mehr verstand. Und vielleicht, dachte sie, war das der wahre Beginn von allem.

Abspann

Zwischen Brot, Kaffee und alten Familiengeschichten entsteht etwas, das bleibt: das Gefühl, dazuzugehören, auch wenn man längst fortgegangen ist.
Für Isabella wird deutlich, dass Heimat kein Ort ist – sondern die Menschen, die uns einen Platz in ihrer Erinnerung geben.

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Von Andrea Baer

Ich lebe in diesem Haus aus Worten und baue es Buchstabe für Buchstabe.

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