Vorspann
Sergio verliert sich im Nebel von Oviedo, Isabella findet neue Klarheit in Gelsenkirchen. Dieses Kapitel zeigt, wie unterschiedlich zwei Menschen nach dem selben Abschied weitergehen – und wie Veränderungen manchmal im Stillen beginnen.
Hier geht es zurück zu Kapitel 22 – Auf der Kippe
Sergio schloss die Tür des Apartments in Oviedo mit einem dumpfen Laut. Draußen färbte sich der Himmel über Asturien rosa und grau – diese Art von Licht, die jeden Abschied noch schärfer wirken ließ. Isabella war fort. Er war geblieben. Und jetzt war alles still.
Er ließ den Rucksack an der Wand fallen, zog sich den Hoodie über den Kopf und warf ihn achtlos auf das Bett. Seine Kamera lag noch auf dem Tisch, die Linse nach unten gekippt, als hätte sie sich vor etwas verschließen wollen. Der Laptop daneben war noch offen, ein halbfertiger Blogbeitrag im Entwurf. Die letzten Worte flimmerten am unteren Rand des Bildschirms – “… und manchmal verlieren wir uns, obwohl wir glauben, endlich angekommen zu sein.”
Er starrte darauf, aber er las nicht mehr. Stattdessen ging er auf den Balkon, trat barfuß auf die kalten Fliesen. Unten rauschte die Straße, irgendwo rief ein Kind. Leben. Aber in ihm war nur ein Echo.
Er hätte sie halten sollen.
Vielleicht.
Vielleicht nicht.
Denn wie sollte man etwas festhalten, wenn man sich selbst nicht begreifen konnte?
Isabella hatte ihn gesehen. Mehr als jede andere zuvor. Und das machte es unerträglich. Ihre Worte beim Abschied klangen noch immer in ihm nach, sanft, aber unerbittlich: “Du bist immer nur auf dem Sprung. Und irgendwann ist niemand mehr da, der wartet.”
Er hatte nichts erwidert. Nur geschwiegen. Nicht aus Arroganz, sondern aus Angst. Angst davor, dass sie recht hatte.
In der Nacht war er lange wach geblieben. Hatte durch ihr altes Skizzenbuch geblättert, das sie aus Versehen bei ihm vergessen hatte. Kleine Aquarelle, einfache Linien – Szenen aus Spanien, aus ihrer Reise. Ein Pfad im Nebel. Ein Marktplatz. Und einmal: er selbst, inmitten von Grün, halb von Moos verdeckt. Sie war keine talentierte Malerin, aber authentisch.
Sein Herz zog sich zusammen, als er die Zeichnung betrachtete. Wie konnte jemand ihn so sehen – und trotzdem gehen? Oder war es eher: Wie konnte er sich so zeigen – und sie dann nicht festhalten?
Er lehnte sich an das kalte Balkongeländer und sog die feuchte Luft ein. Für einen Moment schien es, als könnte er den Nebel mit den Händen greifen, als wäre es möglich, alles Schwere einfach fortzupusten. Doch unter der Oberfläche blieb die Leere. In seinem Kopf liefen die Erinnerungen wie ein Film in Endlosschleife: gemeinsame Abende am Fluss, Isabellas Lachen, ihr entschlossener Blick, wenn sie Pläne schmiedete. Er fragte sich, ob sie jetzt, in diesem Augenblick, auch an ihn dachte – oder ob sie bereits weitergezogen war, so leicht und selbstverständlich, wie sie es immer behauptet hatte. Trotzdem klammerte er sich an die Hoffnung, dass manche Fäden nicht so schnell reißen, selbst wenn sie dünn geworden sind.
Er ging wieder hinein, machte sich einen starken Kaffee, obwohl es längst Mitternacht war. Am Fenster sah er sein eigenes Spiegelbild. Blass. Müde. Und doch war da etwas in seinem Blick, das er lange nicht gesehen hatte: Verantwortung. Nicht nur für das, was war. Sondern auch für das, was hätte sein können.
Mit dem ersten Schluck Kaffee spürte Sergio, wie sich die Bitternis auf seiner Zunge ausbreitete und ihn wach hielt, während der Tag längst verschwunden war. Er blieb am Fenster stehen, betrachtete die dunklen Silhouetten der Dächer, bis der Gedanke an Isabella langsam verblasste und Platz machte für eine neue Klarheit. Vielleicht war dies der Moment, in dem er sich eingestand, dass Abschiede nicht immer das Ende bedeuten, sondern auch den Anfang von etwas Eigenem. Nach einer Weile setzte er sich an den Laptop. Öffnete ein neues Dokument.
Diesmal schrieb er nicht über Wanderwege. Nicht über Ruinen oder Geschichten von Vermissten. Diesmal schrieb er über sie. Über Isabella. Und über das, was sie in ihm wachgerufen hatte.
Er veröffentlichte es nicht. Noch nicht. Stattdessen öffnete er ihren kleinen Blog, den sie kurz vor der Rückreise eingerichtet hatte. Neue Fotos. Ein paar Texte. Ihr Tonfall war leiser geworden, konzentrierter. Reifer. Sie sprach nicht über ihn. Und doch war er in jeder Zeile spürbar.
Er klickte auf „Folgen“.
Und dann schrieb er ihr. Keine langen Sätze. Kein Pathos.
Nur:
„Bleib auf deinem Weg.“
Dann schaltete er den Computer aus.
Der Morgen dämmerte, Nebel kroch durch die Straßen.
Vielleicht würde er ihn diesmal nicht meiden.
Vielleicht würde er ihm folgen.
Die Rückkehr nach Gelsenkirchen war unspektakulär. Niemand fragte, wie es gewesen war. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Anträge, im Kühlschrank stand noch die alte Marmelade. Nur Isabella selbst war nicht mehr dieselbe.
Sie begann, Spanisch zu lernen – richtig, mit Lehrbuch, Grammatik und Hausaufgaben. Nach Feierabend saß sie zwischen anderen Neuanfängern in einem Volkshochschulraum, während draußen die Straßenbahn klingelte.
Die vertraute Umgebung war zwar geblieben, doch alles fühlte sich anders an. Isabella bemerkte, wie viel sie in den vergangenen Monaten über sich selbst gelernt hatte – über ihre Fähigkeit, sich an fremde Orte anzupassen, über die Kraft, auch ohne klare Antworten weiterzugehen. Sie stellte fest, dass Heimat manchmal weniger ein Ort als ein Gefühl war, das ganz leise in ihr wuchs, sobald sie den Erwartungen anderer nicht mehr hinterherlief. In den ersten Tagen nach ihrer Rückkehr spürte sie oft eine Mischung aus Unsicherheit und Freiheit, als würde sie einen alten Mantel ablegen und noch nicht wissen, was sie anziehen wollte.
Das Lernen tat ihr gut. Es war, als würde sie sich ein Stück ihrer Reise zurückholen, ohne fortzumüssen.
An den Wochenenden renovierte sie ihre Wohnung. Die dunklen Vorhänge verschwanden, an ihre Stelle kamen helle Stoffe, durch die die Sonnenstrahlen tanzten, und überall standen Pflanzen, deren Blätter sich dem Licht entgegenstreckten. Der Duft frischer Erde mischte sich mit der Morgenluft und erfüllte den Raum mit einer leisen Hoffnung. Auch sie selbst veränderte sich: Neue Kleidung, kürzere Haare, ein anderer Blick im Spiegel – keine Kopie mehr von jemand anderem. Mit jedem neuen Morgen spürte sie mehr, wie sie sich selbst näherkam und die Unsicherheit langsam wich.
Nur der Job blieb. Oft dachte sie daran zu kündigen. Doch jedes Mal, wenn sie die Tür zum Büro öffnete, war da dieses dumpfe Ziehen in ihrer Brust – als würde eine unsichtbare Hand sie zurückhalten. Angst vor dem Nichts? Trotz? Beides, vielleicht. Also blieb sie. Machte weiter. Lachte manchmal sogar.
Der Herbst und dann der Winter kam und ging. Im Frühjahr, als die ersten Magnolienknospen aufplatzten, begann sie über Spanien nachzudenken.
Manchmal, wenn sie abends am Fenster saß und die letzten Sonnenstrahlen auf die frisch gestrichenen Wände fielen, dachte Isabella an all die kleinen Veränderungen, die sich fast unmerklich in ihren Alltag eingeschlichen hatten. Es war nicht nur die neue Sprache oder die renovierte Wohnung, sondern auch diese stille Entschlossenheit in ihr, die sie zuvor nie so deutlich gespürt hatte. Zwischen alten Routinen und neuen Gewohnheiten begann sie, sich selbst zu vertrauen – mehr, als sie es je für möglich gehalten hätte.
Nicht wegen Sergio, sagte sie sich, sondern wegen sich selbst.
Sie glaubte es fast.
Während Isabella sich Schritt für Schritt ein neues Leben aufbaute und mit jedem Tag ein wenig mehr Zuversicht gewann, glitt Sergio zurück in sein altes Leben – doch das kam ihm inzwischen vor wie eine bröckelnde Fassade, deren Farbe er jeden Morgen mühsam neu auftragen musste, obwohl darunter schon die ersten Risse und abgeplatzten Stellen sichtbar wurden. Die ständige Anstrengung, diese Oberfläche aufrechtzuerhalten, ließ in ihm eine Müdigkeit wachsen, die er nicht abschütteln konnte.
Er drehte wieder Videos, postete Bilder, flog zu Veranstaltungen, auf denen man ihn umwarb wie ein Produkt. Die Likes kamen, die Sponsoren zahlten, doch der Glanz war stumpf geworden.
Manchmal stand er vor der Kamera und wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Dann lächelte er einfach – dieses perfekte, leere Lächeln, das er sich antrainiert hatte.
So vergingen die Tage, gefüllt mit Auftritten, Selfies und einem Lärm, der kaum noch zu ihm gehörte. Die Wohnung war voller Stimmen, doch in seinem Inneren wurde es immer stiller. Erst spät, wenn das letzte Lachen verklungen war und die Tür ins Schloss fiel, spürte Sergio, wie eine schleichende Leere in ihm wuchs – ein Raum, in dem Erinnerungen wie Schatten an den Wänden tanzten. Er griff dann oft nach dem Skizzenbuch, das er aus Oviedo mitgebracht hatte, und ließ die Finger über die Seiten gleiten, als könnte er so die Zeit zurückdrehen. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er das Handy in die Hand nahm, weil er gehofft hatte, eine Nachricht von Isabella zu finden. Doch die Welt draußen drehte sich weiter: Freunde kamen, verschwanden, neue Gesichter tauchten auf. Das Leben lief wie ein endloser Werbespot. Nur nachts, wenn die Stadt zur Ruhe kam, saß er auf dem Balkon, das Handy in der Hand, scrollte durch alte Aufnahmen: der Waldpfad, das Restaurant, ihr Lachen. Er hatte Isabellas Skizzenbuch aus Oviedo mit nach Madrid genommen. Es lag mit ausgedruckten Fotos im Regal.
Abspann
Manchmal verändern sich Wege, ohne dass man es im ersten Moment bemerkt. Isabella und Sergio gehen jeder für sich weiter – in unterschiedlichem Tempo, mit eigenen Fragen und leisen Hoffnungen. Wohin ihre Schritte führen, zeigt sich erst mit der Zeit.
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