Ein kleiner Bahnhof irgendwo in Galizien

Vorspann
Ein Jahr nach dem Abschied spürt Sergio noch immer die Stille, die Isabella hinterlassen hat. Während er sich einredet, frei zu sein, wächst in ihm eine Leere, die sich nicht abschütteln lässt.
Isabella hingegen kehrt zurück nach Galicien – an jenen kleinen, unscheinbaren Ort, der ihr zum ersten Mal echte Ruhe geschenkt hat. Und während sie die vertrauten Wege erneut betritt, spürt sie, dass sich etwas in ihr verändert hat. Vielleicht beginnt hier ein neuer Abschnitt. Vielleicht beginnt hier ihr eigenes Leben.

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Er redete sich ein, dass es vorbei war, dass er frei war. Doch irgendetwas fehlte. Vielleicht war es die Stille, die nach ihr geblieben war. In dieser Stille, zwischen den Stimmen, die ihn tagsüber umgaben und den Bildern, die er nachts betrachtete, spürte Sergio eine Leere, die sich nicht mit neuen Begegnungen oder flüchtigen Erfolgen füllen ließ. Es war, als ob jeder Tag ihn weiter von dem entfernte, was einmal Bedeutung gehabt hatte. Und während die Welt draußen unaufhaltsam weiterrollte, wurde ihm klar, dass die Erinnerungen zwar blass wurden, aber die Sehnsucht nach etwas Echtem, etwas Tiefem, mit jedem Sonnenuntergang leiser und zugleich stärker in ihm nachhallte. In solchen Momenten, wenn die Stadt im Dunkel versank und das Mondlicht durch die Fenster fiel, spürte er, dass die Geschichte mit Isabella nicht wirklich zu Ende war – nicht in seinen Gedanken, nicht in seinem Herzen. Er wusste, dass er sich noch nicht von dem verabschiedet hatte, was sie für ihn bedeutet hatte, auch wenn er es sich immer wieder einzureden versuchte.

Ein Jahr war vergangen, seit Isabella den Flieger aus Santiago zurück nach Deutschland genommen hatte. Jetzt stand sie wieder dort – auf dem Bahnsteig eines kleinen, sonnenbeschienenen Bahnhofs irgendwo in Galicien. Der Zug war weitergerollt, das metallische Rattern verklang, doch in der Stille hallte noch ein leises Echo nach. Um sie herum nur goldenes Licht, das durch die frisch ergrünten Bäume fiel, der Duft von feuchtem Moos und warmer Erde, vermischt mit einem Hauch von wildem Ginster. In der Ferne zirpten Grillen; ein einzelner Vogel stimmte sein Lied an, während ein schwacher Wind die Blätter rascheln ließ. Die erste Ahnung von Sommer lag in der Luft – nicht nur als Wärme auf der Haut, sondern als ein Versprechen, das jedes Geräusch, jeder Geruch begleiteten. In diesem Moment spürte Isabella eine eigentümliche Ruhe, aber auch ein leises Kribbeln unter der Oberfläche: Was hatte sich in diesem Jahr verändert? Und warum war sie zurückgekehrt?

Und so betrat sie den kleinen Bahnhofsvorplatz, spürte den festen Boden unter den Sohlen und sah, wie das Licht des Nachmittags lange Schatten auf das Pflaster warf. Es war nicht mehr das Gefühl, irgendwo anzukommen, sondern das stille Wissen, angekommen zu sein – in diesem Moment, an diesem Ort, mit sich selbst. Die Stimmen und Geräusche des Dorfes umgaben sie wie ein leiser Chor, vertraut, aber nicht vereinnahmend. Sie blickte auf, sah die Kastanienbäume, das Leben, das weiterging, und merkte, wie sich in ihr eine leise Zuversicht ausbreitete, dass all das, was gewesen war, nun Teil von ihr war – nicht als Last, sondern als Stärke. Der kleine Ort, zu dem sie zurückgekehrt war, war unscheinbar. Ein paar Häuser mit verblassten Fassaden, ein Café, ein Tabakladen, zwei knorrige Kastanienbäume am Kirchplatz. Nichts Besonderes – und doch genau das Richtige. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee mischte sich mit dem süßen Moder des Erdbodens, während von irgendwoher das dumpfe Klacken einer Tür und das Murmeln der Dorfbewohner durch die Luft drang. In diesem Moment, weit weg von Gelsenkirchen, von Excel-Tabellen, Neonlicht und ewiger Wiederholung, hatte sich zum ersten Mal in ihr eine leise Hoffnung auf ein anderes Leben geregt, die sie seitdem nicht mehr losließ.

Sie kannte diesen Ort vom letzten Jahr. Sie war nach der Trennung von Sergio hierhergekommen, ziellos, müde, leer. Damals war alles neu gewesen, fremd und beängstigend. Aber hier hatte sie sich zum ersten Mal getraut, allein zu sein – wirklich allein, nicht einsam. Sie hatte die Namen der Straßenschilder gelernt, das Brotmuster beim Bäcker erkannt, hatte mit Händen und Lächeln kommuniziert. Sie war langsam in das Leben eingetaucht, das leise war, aber echt.

Und jetzt – jetzt kehrte sie zurück. Nicht auf der Flucht. Nicht als Suchende. Sondern als jemand, der gewählt hatte, wohin sie gehören wollte.

Die kleine Pension, in der sie gewohnt hatte, lag noch immer am Ende der holprigen Gasse. Die Inhaberin, Señora Lucinda, erinnerte sich an sie. „Ah, la alemana tranquila – die ruhige Deutsche“, hatte sie beim Empfang gelächelt. Isabella lachte, als sie das hörte. Ja, damals war sie still gewesen. Heute war sie noch immer leise – aber mit innerer Stimme.

Sie bezog das gleiche Zimmer, öffnete die Fensterläden und atmete tief ein. Draußen raschelten die Blätter, in der Ferne bellte ein Hund, und irgendwo, ganz zart, mischte sich ein vertrauter Geruch in die Luft – feuchte Erde, Moos, Wald. Die Luft strich kühl über ihre Haut, vermischt mit einer Spur milder Frühlingswärme, während das goldene Licht der tiefstehenden Sonne durch die Fenster fiel und sanfte Muster auf den Holzboden warf. Ein Gefühl von Heimat durchströmte sie, als sie den vertrauten Duft wahrnahm. Für einen Moment schienen die Farben des Raumes intensiver, das Licht lebendig; alles war zugleich neu und bekannt, und sie spürte, wie Ruhe und ein leises Glück sich in ihr ausbreiteten.

Am Abend machte sie sich auf den Weg. Nicht aus Abenteuerlust. Sondern weil etwas in ihr wusste, wohin die Füße wollten. Der alte Pfad begann hinter der Kirche, dort, wo der Asphalt endete, und das grüne Dickicht begann. Es war derselbe Weg, den sie im Traum so oft gegangen war. Kühle Feuchtigkeit hing in der Luft, leicht und durchscheinend, als würde die Landschaft selbst atmen.

Sie betrat den Weg, der Kies knirschte unter ihren Schuhen, und jedes Geräusch war so klar, dass es fast wie Musik wirkte.

In diesem Moment war da kein Ziel. Kein Plan. Kein Sergio.

Nur sie.
Und der Weg.
Und das stille Gefühl, dass alles noch möglich war.

Abspann
Zwischen alten Wegen und neuen Entscheidungen findet Isabella einen Ort wieder, der längst Teil von ihr geworden ist. Und während Sergio noch versucht, die Stille in sich zu verstehen, beginnt sie, ihr Leben mit eigenen Schritten zu füllen.
Vielleicht kreuzen sich ihre Wege eines Tages erneut. Vielleicht gehen sie weiter auseinander.
Aber für diesen Moment zählt nur eines: Beide bewegen sich – jeder auf seinem eigenen Pfad.

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Von Andrea Baer

Ich lebe in diesem Haus aus Worten und baue es Buchstabe für Buchstabe.

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