Andrea Baer

Sergio und Isabella in einem Restaurant. Auf dem tisch stehen verschiedene Tapas und sie haben Rotwein vor sich.

Kapitel 17 – Auf den Spuren der Vergangenheit

Vorspann:
Ein verregneter Nachmittag führt Isabella und Sergio tiefer hinein in die Geschichte seiner Familie. Alte Dokumente und vergilbte Fotos öffnen Türen zu Geheimnissen, die seit Generationen verborgen liegen – und gleichzeitig wächst eine Nähe zwischen den beiden, die niemand vorausgeahnt hätte.

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Auf den Spuren der Vergangenheit

Es war ein regnerischer Nachmittag, als Sergio sie bat, ihm bei etwas zu helfen, das er schon lange vor sich herschob. Sie saßen in seinem kleinen Arbeitszimmer, das mehr nach einem chaotischen Archiv als einem Büro aussah. Überall lagen alte Papiere, Bücher, und Karten. Der Geruch von Staub und altem Papier hing in der Luft, während draußen der Regen gegen das Fenster trommelte.

„Es geht um meinen Urgroßvater“, begann er, während er eine vergilbte Fotografie aus einer Box holte. Es zeigte einen jungen Mann in einem Anzug, schmal und ernst, mit einem langen, dunklen Bart. „Er verschwand 1947, während des Bürgerkriegs. Niemand weiß, was mit ihm passiert ist.“

Isabella nahm das Bild in die Hand und betrachtete es aufmerksam. „Warum weiß niemand, was passiert ist?“

„Er war in der Armee der Republik, aber seine Einheit wurde aufgelöst, als Franco die Macht übernahm. Danach gibt es keine Aufzeichnungen mehr. Er wurde nie gefunden. Niemand hat ihm nachgetrauert, niemand hat nach ihm gesucht.“ Seine Stimme wurde leiser, als er das letzte Wort sprach.

Isabella sah ihn an und spürte die Schwere seiner Worte. „Das ist… tragisch.“

„Ja“, sagte er und ließ sich auf den Stuhl sinken. „Aber es ist mehr als das. Es ist, als würde ein Teil der Geschichte meiner Familie fehlen, als könnte ich nicht wirklich verstehen, wer ich bin, wenn ich nicht weiß, was mit ihm passiert ist.“

Er schaute sie an, die Augen voller Hoffnung. „Ich habe einige Aufzeichnungen, alte Briefe, militärische Dokumente, aber ich komme nicht weiter. Vielleicht… vielleicht kannst du mir helfen?“

Isabella nickte, ohne zu zögern. „Klar. Wie genau kann ich dir helfen?“

Er holte eine Sammlung von Papieren hervor und breitete sie vor ihr aus. „Ich habe einige alte Adressbücher, die er damals benutzt haben muss, und es gibt ein paar Einträge über seinen Verbleib in einem Archiv in Barcelona. Aber ich komme nicht weiter und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“

„Lass uns das Schritt für Schritt durchgehen“, schlug Isabella vor. Sie hatte nie Interesse an Ahnenforschung gehabt, aber die Idee, etwas so Persönliches und Wichtiges für Sergio herauszufinden, berührte sie tief.

Sie verbrachten den Rest des Nachmittags damit, die alten Dokumente zu sortieren. Sergio half ihr, die spanischen Worte zu verstehen, und sie suchten online nach weiteren Hinweisen. Bei jeder neuen Entdeckung wuchs die Verbindung zwischen ihnen. Die Arbeit an diesem persönlichen Rätsel brachte sie näher zusammen, als Worte es je hätten tun können.

„Was, wenn wir nie herausfinden, was passiert ist?“, fragte sie leise, als sie ein weiteres, hoffnungsloses Archivdokument betrachteten.

„Dann bleibt die Geschichte für immer ein Teil von uns, auch wenn wir die Antworten nicht finden“, antwortete er, ohne sie anzusehen. „Aber ich kann nicht aufhören zu suchen.“

Isabella spürte eine unerklärliche Nähe, als sie über seine Schulter schaute, während er durch die nächsten Seiten blätterte. Sie wusste nicht, ob sie mehr für das Geheimnis seiner Familie empfand oder für Sergio selbst. Es war ein Gefühl, das sie nicht in Worte fassen konnte, aber es war da, zwischen ihnen, spürbar und ungesagt.

„Ich werde dir helfen, Sergio“, sagte sie schließlich und berührte leicht seine Hand. „Egal, wie lange es dauert.“

Er sah sie an, seine Augen weich und dankbar. „Danke. Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet.“

In diesem Moment war es nicht nur die Recherche, die sie zusammenbrachte. Es war das Gefühl, gemeinsam auf etwas Größeres hinzuarbeiten. Etwas, das sie beide verband – nicht nur durch die Geschichte, sondern durch ihre gemeinsame Reise in die Vergangenheit.

Ein gemeinsamer Moment

Es war ein Abend, an dem der Regen nachgelassen hatte, und die Luft draußen war frisch und kühl. Isabella und Sergio hatten sich dazu entschieden, nicht mehr weiter in den Dokumenten zu blättern. Stattdessen hatten sie ein kleines, gemütliches Restaurant in der Nähe ausgewählt, das für seine Tapas bekannt war – eine kleine, aber feine Oase im Herzen der Altstadt.

Sie saßen an einem runden Tisch in der Ecke, das Licht war gedämpft, und die Atmosphäre war entspannt. Isabella hatte das Gefühl, dass der Tag anstrengend gewesen war, aber auf eine gute Weise. Es war eine der ersten Nächte, in denen sie sich wirklich in Spanien angekommen fühlte. Nicht nur in einem neuen Land, sondern auch in einer neuen Lebensphase.

„Ich weiß nicht, ob du es je erwähnen hast, aber was isst du eigentlich am liebsten?“, fragte Isabella, als sie das Menü studierte.

Sergio sah auf, ein kleines Lächeln auf den Lippen. „Du wirst lachen, aber… Paella. Einfach. Nichts dabei.“

„Das ist nicht einfach“, sagte Isabella lachend. „Das ist ein Klassiker!“

„Ja, aber für mich ist es auch irgendwie… Erinnerungen. Als Kind, bei meinen Großeltern. Alles, was mit Paella zu tun hat, hat immer ein Stück meiner Kindheit. Du weißt, der Duft, der durch das Haus zieht. Aber eigentlich…“, er zögerte einen Moment, „eigentlich mag ich auch die einfachen Dinge: Brot, Oliven, Käse. Es muss nicht viel sein.“

Isabella nickte nachdenklich. „Ich verstehe. Ich habe nie viel Wert auf diese kleinen, aber besonderen Dinge gelegt. Vielleicht… habe ich sie nie richtig zu schätzen gewusst.“

Sergio sah sie aufmerksam an, als er das hörte. „Manchmal muss man erst weit weggehen, um das zu verstehen“, sagte er leise.

Kurz darauf brachte der Kellner die ersten Tapas. „Probier mal diese Albóndigas“, sagte Sergio, als er ihr einen kleinen Teller mit Fleischbällchen hinstellte. „Die sind unglaublich.“

Isabella nahm eine und probierte vorsichtig. „Mmmh… du hast recht. Die sind gut.“

Während sie aßen, redeten sie nicht nur über die Reise, sondern auch über alltägliche Dinge. Isabella erzählte von ihren Kollegen, die immer in Hektik lebten und nie wirklich Zeit für sich selbst fanden. Sergio lachte und erzählte von den eigenwilligen Charakteren in seiner Familie, von seinem Onkel, der stets darauf bestand, dass der „alte Weg“ der einzig wahre war, und seiner Tante, die immer mit einem Lächeln davon sprach, „die ganze Welt zu erobern“.

Das Gespräch fließend, begleitet von Lachen, das die Tischdecke füllte. Zwischen den Gängen fühlte sich die Atmosphäre locker an, beinahe so, als ob sie sich schon Jahre lang kannten.

„Es ist schon verrückt“, sagte Isabella nach einer Pause. „Ich habe das Gefühl, als würde ich mich in einem völlig anderen Leben wiederfinden. Als würde ich die letzten Jahre in Deutschland wie durch einen Nebel sehen. Wie ein anderer Mensch.“

Sergio nickte. „Manchmal braucht es einen Ort wie diesen, um wirklich zu verstehen, wer man ist. Oder wer man sein könnte.“

Sie spürte, dass in seinen Worten mehr lag als nur ein oberflächlicher Austausch. Etwas Unausgesprochenes, das sie beide in diesem Moment teilten. Eine Reise, die über das Entdecken von Orten hinausging. Es war eine Reise zu sich selbst, und sie waren einander dabei nicht mehr ganz so fremd.

„Ich glaube, ich habe nicht gewusst, wie viel ich vermisst habe“, sagte sie schließlich. „Wie wenig ich wirklich für mich selbst lebe.“

Sergio sah sie an, und sein Blick war warm, fast fürsorglich. „Es ist nicht zu spät, Isabella. Wir können immer noch lernen, was es bedeutet, wirklich zu leben.“

Sie hielt für einen Moment inne, dann nickte sie leise, als ob sie den stillen, aber mächtigen Hinweis in seinen Worten begriff. Etwas in ihr schwang mit, als ob sie gerade den ersten Schritt auf einem neuen Weg getan hatte. Die vertrauliche Nähe zwischen ihnen war gewachsen, nicht durch große Gesten oder Worte, sondern durch das stille Verständnis, das sich in diesem Moment zwischen ihnen aufbaute.

Der Abend neigte sich dem Ende zu, und als sie aus dem Restaurant traten, war die Nacht noch jung. Der Himmel war klar, und die Straßen von der feuchten Abendluft glitzernd. Isabella zog die Jacke enger um sich und ging neben Sergio, als sie den sanften Klang ihrer Schritte auf dem Kopfsteinpflaster hörte.

„Ich bin froh, dass wir heute Abend hier sind“, sagte sie, als sie ihn anblickte.

„Ich auch“, sagte er leise. „Vielleicht sind wir hier genau zur richtigen Zeit.“

In diesem Moment, bei dem stillen Erlöschen der Lichter der Stadt, fühlte sich alles richtig an. Es war nicht nur das Essen, nicht nur die Gespräche – es war der Moment, der sie beide verband. Die erste echte Vertrautheit.

Abspann:
Zwischen Archivrecherche und Tapas-Abend entsteht mehr als nur ein gemeinsames Projekt. Isabella und Sergio spüren, dass sie nicht nur nach Antworten in der Vergangenheit suchen – sondern auch nach ihrem Platz im Hier und Jetzt.

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Ein Strand im Sonnenuntergang, Felsen im Hintergrund, schwarzer Sand und sanfte Brandung

Kapitel 16 – Stein und Stille

Vorspann

Manchmal sind es stille Orte, die mehr bewegen als große Ereignisse. In diesem Kapitel begleite ich Isabella und Sergio zu einer alten Kapelle und weiter ans Meer – zwei Stationen, die für sie zu Wendepunkten werden. Vielleicht entdeckt ihr zwischen den Zeilen, was sich da verändert.

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Stein und Stille

Die Kapelle lag versteckt auf einem Hügel, eingerahmt von wildem Ginster und alten Olivenbäumen. Ein unscheinbarer Bau aus grobem Stein, der sich in die Landschaft schmiegte, als sei er schon immer Teil von ihr gewesen. Der Weg dorthin war steil und schmal, und als sie die letzten Stufen erklommen, blieben beide für einen Moment schweigend stehen.

„Ich war als Kind oft hier“, sagte Sergio leise. „Meine Großmutter brachte mich her, wenn sie betete. Ich verstand nichts davon – aber ich mochte den Geruch. Wachs, Staub, altes Holz.“

Isabella trat vorsichtig ein. Die schwere Tür knarzte und gab den Blick frei auf einen kargen Raum mit einfachen Bänken und einer kleinen Figur der Virgen del Camino, deren Gesicht im Halbschatten lag. Nur ein paar Kerzen brannten. Es war kühl, still, fast ehrfürchtig.

Sie setzten sich nebeneinander in die letzte Reihe. Die Stille war so vollkommen, dass man das eigene Atmen hörte.

„Ich bin nicht religiös“, flüsterte Isabella.

„Ich auch nicht wirklich. Aber… manchmal glaube ich, Orte tragen Erinnerungen. Auch für die, die sie nicht selbst erlebt haben.“

Isabella fuhr mit der Hand über die raue Holzlehne der Bank. Sie dachte an das graue Büro, an die Neonlichter, an die Abende vor dem Fernseher. Und daran, wie weit das alles plötzlich entfernt schien.

„Es fühlt sich an wie… eine Schwelle“, sagte sie schließlich. „Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Zwischen hier und nirgendwo.“

Sergio nickte. „Vielleicht genau deshalb komme ich her. Um nicht ganz zu verschwinden.“

Sie sah zur Madonna. Ihre Züge waren schlicht, aber nicht hart. Es lag eine stille Güte darin, etwas Trostspendendes.

Isabella schloss die Augen. Und für einen Moment spürte sie etwas, das sie nicht benennen konnte – nicht Glaube, nicht Hoffnung. Aber Nähe. Als würde ein Teil von ihr, den sie lange nicht gespürt hatte, plötzlich aufatmen.

Als sie die Kapelle später verließen, war das Licht weicher geworden. Der Wind hatte sich gelegt. Und obwohl sie kein einziges Gebet gesprochen hatten, fühlte es sich an, als wäre etwas in Bewegung geraten.

Der Weg zum Meer

Am frühen Morgen brachen sie auf. Sergio hatte vorgeschlagen, ans Meer zu fahren – ein kleiner Ort, nicht in den Reiseführern, eine Bucht mit schwarzem Sand und kantigen Felsen, „wie aus einer anderen Welt“, hatte er gesagt.

Sie saßen in seinem alten Wagen, das Fenster auf seiner Seite halb geöffnet, Musik leise aus den Lautsprechern – etwas Spanisches, das sich für Isabella melancholisch und lebendig zugleich anfühlte. Die Straße wand sich durch Wälder und Hügel, und mit jedem Kilometer schien der Alltag weiter hinter ihr zu verschwinden.

„Warst du schon oft dort?“, fragte sie.

„Nur ein paar Mal. Aber jedes Mal denke ich: Ich muss zurück. Vielleicht, weil ich dort niemandem etwas beweisen muss.“

„Auch nicht dir selbst?“

Er lächelte kurz, ohne zu antworten.

Als sie ankamen, lag die Bucht verlassen unter einem graublauen Himmel. Das Meer atmete ruhig, in langen, rollenden Wellen. Keine Touristen, nur ein paar Möwen, die sich gegen den Wind stemmten.

Sie gingen nebeneinander am Wasser entlang. Isabella zog die Schuhe aus, tauchte ihre Füße ins kalte Meer und schrie leise auf, lachte dann – das erste freie Lachen, das Sergio von ihr hörte.

Später saßen sie auf einer flachen Felsplatte, teilten Brot, Oliven und Käse, den sie unterwegs gekauft hatten. Ihre Beine berührten sich flüchtig, ein fast zufälliger Kontakt – aber keiner von beiden wich zurück.

„Ich frage mich oft, ob ich zu viel laufe“, sagte Sergio irgendwann. „Ob es eine Grenze gibt zwischen Suchen und Fliehen.“

Isabella sah hinaus auf die glitzernde Wasseroberfläche. „Vielleicht ist es nur Flucht, wenn man gar nicht weiß, was man sucht.“

Er sah sie an, länger als nötig. „Und du? Was suchst du?“

„Ich weiß es noch nicht“, sagte sie ehrlich. „Aber ich glaube, ich fange gerade erst an.“

Ein Windstoß fuhr über das Wasser und ließ ihr Haar tanzen. Sergio hob die Hand, strich eine Strähne aus ihrem Gesicht – langsam, zögerlich. Und in diesem Moment war die Nähe nicht mehr zufällig, sondern gewollt.

Der Nachmittag verging wie im Flug. Als sie zurückfuhren, sagte keiner von beiden viel. Aber als Isabella am Abend in ihrem Zimmer die Salzkruste auf ihrer Haut spürte, wusste sie: Etwas hatte sich verändert.

Abspann

Zwischen Stein und Wasser, Stille und Bewegung, hat sich etwas gelöst. Noch ohne Namen, doch wie ein Versprechen, das im nächsten Kapitel weiterklingen wird.

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Ein Haus in Oviedo. Auf den Platz davor steht ein Stuhl, keine Menschen zu sehen.

Kapitel 15 – Ein Platz, der nicht mehr leer ist

Vorspann:

Oviedo im Licht eines stillen Vormittags.
Alte Balkone, flatternde Tücher, das Echo früherer Schritte.
Isabella und Sergio schweigen mehr, als sie sprechen –
und doch rückt etwas näher, das lange fern war:
ein Gefühl von Vertrautheit,
ein Schatten von Erinnerung,
ein Platz, der nicht mehr leer ist.

Zurück zu Kapitel 14 – Zögernde Schritte

Pflastersteine und erste Worte

Die Altstadt von Oviedo wirkte wie aus einem anderen Jahrhundert. Kopfsteinpflaster, das bei jedem Schritt unter Isabellas Schuhen leise klackte, Häuser mit schmiedeeisernen Balkonen, an denen bunte Wäsche flatterte. Die Straßen waren eng, aber voller Leben: Alte Männer spielten Domino vor Cafés, ein Straßenmusiker zupfte eine melancholische Melodie auf seiner Gitarre, irgendwo roch es nach gerösteten Maronen.

Sergio ging neben ihr, in entspanntem Tempo. Immer wieder zeigte er auf etwas – eine geschnitzte Tür, eine winzige Bäckerei mit seit Generationen unverändertem Schaufenster – und erzählte kleine Anekdoten. Mal auf Englisch, mal auf Spanisch, während Isabella versuchte, die Bruchstücke zu verstehen. Sie fragte nach, manchmal nur mit einem Blick, einem Stirnrunzeln – und er wiederholte geduldig, mit Händen, mit Lächeln.

„Diese Straße hier“, sagte er und zeigte auf eine besonders verwinkelte Gasse, „ist wie mein Gedächtnis. Ungeordnet, manchmal verloren, aber voller Geschichten.“

Isabella schwieg. Nicht, weil ihr nichts einfiel, sondern weil sie das Gefühl hatte, er meinte damit mehr als nur die Straße.
„Hast du schon Orte gefunden, die dich… erinnern?“ fragte sie vorsichtig.

Er zuckte mit den Schultern. „Ein paar. Oder vielleicht bilde ich es mir ein. Manchmal weiß man nicht, ob man etwas erkennt – oder ob man es sich nur wünscht.“

Sie nickte. Diese Art von Suche war ihr nicht fremd, nur hatte sie sie lange ignoriert.

Einige Minuten gingen sie schweigend weiter. Dann fragte er: „Und du? Wie ist deine Stadt?“

Isabella schnaubte leise. „Grau. Flach. Und die Menschen schauen selten nach oben.“
Sergio lachte. „Dann passt du nicht dorthin. Du schaust oft nach oben.“

Sie errötete, überrascht, dass er das bemerkt hatte.

Als sie später vor einer kleinen Kapelle standen und Sergio ihr erklärte, dass sie aus dem 9. Jahrhundert stammte, berührte Isabella zum ersten Mal eine der rauen Steinmauern. Sie schloss kurz die Augen, fühlte die Kühle unter ihren Fingern, die Geschichte. Neben ihr schwieg Sergio, und sie hatte das Gefühl, dass er genau verstand, was sie in diesem Moment suchte.

Es war kein spektakulärer Spaziergang. Keine großen Offenbarungen. Aber es war ein Anfang – auf alten Wegen, mit vorsichtigen Worten, getragen von einer Stille, die kein Unbehagen bedeutete.

Geschichten in der Nachmittagssonne

Sie saßen auf einer kleinen Steinmauer oberhalb der Altstadt, mit Blick auf die hügelige Landschaft Asturiens. Die Nachmittagssonne lag warm auf den roten Dächern, während unten in der Ferne die Glocken der Kathedrale läuteten. Es war ruhig. Nur ab und zu wehte eine Brise herüber und spielte mit einer Haarsträhne in Isabellas Gesicht. Sergio beobachtete sie kurz, sagte aber nichts.

„Ich habe lange gedacht, dass mein Leben so bleiben muss, wie es ist“, begann sie schließlich, leise. „Gelsenkirchen, Bürojob, allein. Kein Drama. Kein Aufbruch. Einfach… durchhalten.“

Sergio antwortete nicht sofort. Stattdessen reichte er ihr eine Feige, die er auf dem Markt gekauft hatte. Sie nahm sie, biss hinein. Sie schmeckte süß, weich, überraschend.

„Und warum nicht mehr?“ fragte er dann.

„Weil niemand mir je gesagt hat, dass mehr möglich ist. Oder dass ich es darf.“
Sie schaute auf ihre Hände. „Bis ich deinen Blog gelesen habe.“

Er sah sie an, ernst. „Das war nie meine Absicht. Ich wollte nur… verstehen, woher ich komme.“

Sie nickte. „Aber genau das hat mich berührt. Du bist auf der Suche. Nicht nur nach einem Ort, sondern nach einer Geschichte. Nach einer Wahrheit.“

Sergio lächelte flüchtig. „Mein Urgroßvater ist 1947 verschwunden. Einfach nicht mehr zurückgekehrt. Niemand sprach darüber. Aber ich habe als Kind gespürt, dass da etwas Ungesagtes war. Etwas, das fehlt. Und irgendwie glaube ich, dass der Wald damals in Galicien… dass er mehr wusste als ich.“

Isabella sah ihn erstaunt an.
„Der Wald?“

„Ja“, sagte Sergio. „Er war neblig, still. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich nicht allein war. Als wäre mein Uropa da. Nicht sichtbar, aber irgendwie… fühlbar.“

Eine Weile schwiegen sie. Nur das entfernte Kreischen einer Möwe war zu hören.

„Ich habe niemanden verloren“, sagte Isabella dann. „Aber ich habe mich selbst irgendwann verlegt. Zwischen Excel-Tabellen, SAP und Kaffeetassen.“

„Und jetzt?“

Sie sah ihn an.
„Jetzt versuche ich, mich wiederzufinden. Vielleicht auf demselben Weg, den du gehst. Oder einem ganz anderen.“

Sergio nickte langsam. „Vielleicht treffen sich Wege manchmal. Für einen Moment. Und das reicht.“

Sie spürte, wie sich etwas in ihr verschob – eine Art innerer Platz, der bisher leer gewesen war. Nicht vollständig gefüllt, aber nicht mehr leer. Sie blickte in den Himmel. Keine Gewissheit. Aber ein Anfang.

Abspann:

Manchmal verändert sich nichts –
und doch ist danach alles anders.
Ein Gespräch, ein Blick, ein geteiltes Schweigen.
Die Stadt bleibt dieselbe.
Aber der Platz in uns beginnt, sich zu füllen.

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Spanische Marktszene im Sonnenschein: Stände mit Tomaten, Orangen, Paprika und Bananen, Menschen im Gespräch, im Vordergrund Isabella und Sergio, die einander zum ersten Mal begegnen.

Kapitel 14 – Zögernde Schritte

📖 Vorspann:
„Ankommen heißt noch nicht Zuhause sein. Doch zwischen Marktständen, Straßenmusik und vorsichtigen Gesten begegnen Isabella und Sergio einander wirklich.“

Kapitel 13 verpasst? Hier entlang!

Ankunft im Licht

Als das Flugzeug zur Landung ansetzte, wurde der Horizont klar. Die Wolkendecke war aufgerissen, und darunter erstreckte sich eine Landschaft, die in sattem Grün und weichen Hügeln leuchtete. Wälder, Felder, winzige Dörfer mit Terrakotta-Dächern – alles schien in sanftes Licht getaucht, als wolle es die Fremde willkommen heißen.

Isabella hielt den Atem an. Es war, als hätte sie ein Gemälde betreten.

Der Flughafen von Santander war klein und übersichtlich. Kaum hatte sie das Terminal verlassen, roch sie das Meer – salzig, frisch, mit einem Hauch von Algen und etwas, das sie nicht benennen konnte. Vielleicht war es die Freiheit.

Sie hatte nur einen kleinen Koffer dabei. Der Bus ins Stadtzentrum ruckelte über enge Straßen, vorbei an Palmen, alten Mauern und Häusern mit verwaschenen Fassaden, die Geschichten zu erzählen schienen. Die Fenster standen offen, das Licht fiel weich durch weiße Vorhänge. Menschen saßen draußen in Cafés, tranken Kaffee, lachten. Kein hektisches Drängen, kein grauer Trott.

Die Farben waren anders hier. Das Blau des Himmels wirkte tiefer, das Grün lebendiger. Selbst der Wind fühlte sich weich an.

Isabella stieg am zentralen Platz aus, ihre Knie noch etwas wacklig vom Flug. Ein Platz mit alten Kastanienbäumen, Kopfsteinpflaster, ein Brunnen in der Mitte. Kinder spielten, ein Straßenmusiker spielte Gitarre.

Sie blieb stehen und ließ den Moment in sich sinken.

Ich bin hier, dachte sie. Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich – nicht sicher, aber wach.

Dann zog sie ihr Handy aus der Tasche und schrieb eine kurze Nachricht:
„Bin angekommen. Alles fühlt sich echter an.“

Sergios Antwort kam nur wenige Minuten später:
„Willkommen. Ich zeig dir morgen mein Lieblingscafé. Wir treffen uns um 11 Uhr auf dem Markt.“

Isabella lächelte.
Der erste Tag war noch nicht vorbei – und es fühlte sich schon an wie der Anfang eines neuen Lebens.

Zwischen Ständen und Worten

Der Wochenmarkt lag auf einem kleinen Platz zwischen alten Steinhäusern. Schon von Weitem hörte Isabella das Stimmengewirr, das Rufen der Händler, das Krachen von Obstkisten. Die Luft war erfüllt vom Duft reifer Orangen, von gebratenem Fisch, frisch gebackenem Brot und der leichten Schärfe von Manchego-Käse. Menschen schoben sich dicht aneinander vorbei, es war lebendig, chaotisch, und doch wirkte alles harmonisch – ein gewachsener Rhythmus, zu dem sie noch keinen Zugang hatte.

Sie trug ihren Rucksack locker über der Schulter, das Handy in der Hand. „Ich bin gleich da“, hatte Sergio geschrieben. Ihr Herz klopfte schneller, als sie sich zwischen den Ständen bewegte, als suchte sie nach einem versteckten Signal.

Und dann sah sie ihn.

Er stand an einem Obststand, die Sonnenbrille in die Haare geschoben, ein Netz mit Zitronen in der Hand, das Handy lässig in der anderen. Kein Zweifel: Sergio Menéndez Clavero, der Mann von den Fotos. Nur wirkte er in echt noch etwas schlaksiger, lebendiger, wärmer. Seine Bewegungen waren ruhig, fast langsam – jemand, der sich Zeit nahm.

Isabella blieb kurz stehen.
Dann hob er den Blick – und erkannte sie sofort.

Ein Lächeln zog sich über sein Gesicht, offen, ohne Zögern. Er kam auf sie zu.
„Isabella?“ fragte er mit weichem Akzent.

„Ja…“ Ihre Stimme war leiser, als sie es geplant hatte. Sie lächelte zurück, ein bisschen unbeholfen.

Ein kurzer Moment, in dem beide nicht genau wussten, wie man sich begrüßt, wenn man sich eigentlich längst kennt, aber doch fremd ist. Schließlich gab er ihr einfach die Hand – seine warm, fest, ehrlich.

„Du bist wirklich gekommen.“

„Ich konnte nicht anders.“

Er lachte leise, fast überrascht. „Dann zeig ich dir jetzt meinen Lieblingsmarkt.“

Sie gingen nebeneinanderher, zwischen den Ständen. Er deutete auf getrocknete Tomaten, auf einen Stand mit alten Olivensorten, erklärte, wie man „pimientos de padrón“ richtig brät. Isabella hörte mehr als sie sprach – die Wörter klangen weich, rollten anders durch den Raum. Und dazwischen spürte sie etwas: Neugier, vorsichtige Vertrautheit. Keine Romantik, noch nicht – aber die Ahnung von etwas, das wachsen könnte.

Als sie schließlich gemeinsam auf einer kleinen Mauer saßen und Churros aßen, sagte Sergio, ohne sie anzusehen:
„Ich wusste nicht, ob du wirklich kommst. Aber ich bin froh, dass du’s getan hast.“

Isabella nickte. „Ich auch.“

In diesem Moment schien sogar der Lärm des Markts für einen Augenblick still zu stehen.

Zögernde Schritte

Isabella spürte ihre eigenen Hände zu deutlich, als sie nebeneinander durch die engen Gassen liefen. Jeder Schritt hallte leicht auf dem Pflaster wider, begleitet vom Summen der Stadt – Gesprächsfetzen, ein bellender Hund, irgendwo das metallene Klappern eines Rollladens. Sergio schien ebenfalls nicht ganz bei sich. Er nestelte an seinem Rucksackriemen, streifte sich immer wieder die Haare aus der Stirn, obwohl der Wind das längst erledigt hatte.

„Ich spreche kein Deutsch. Es ist seltsam, jetzt… mit dir zu sprechen“, sagte er schließlich auf Englisch. Sein Blick war kurz, fast scheu, aber freundlich.

„Dein Englisch ist besser als mein Spanisch“, entgegnete Isabella und lachte leise. Dann schob sie rasch ein „Gracias“ hinterher – ihr erster Versuch, mutig, unbeholfen.

Sergio lächelte schief. „Muy bien.“
Sie lächelte zurück, ein bisschen erleichtert.

Es war diese seltsame Zwischenzeit: nicht mehr anonym, aber noch keine Freunde. Sie wussten viel übereinander und doch war alles neu. Wie seine Stimme klang, wenn er ganz leise sprach. Wie sie an ihrem Ohrläppchen zupfte, wenn sie verlegen war.

„Ich weiß nicht genau, was du dir von dieser Reise erhoffst“, sagte er irgendwann, während sie an einer kleinen Kirche vorbeikamen, deren Türen offenstanden.
„Ich auch nicht“, gab sie ehrlich zurück. „Nur, dass ich da sein wollte, wo du warst.“

Er blieb stehen. Schaute sie an. Keine großen Worte. Nur ein Nicken, langsam. Dann gingen sie weiter. Zwei Menschen auf zögernden Schritten, nervös – aber mit einem kleinen, wachsenden Funken im Herzen: Neugier. Vielleicht auch etwas mehr.

📎 Abspann:
„Manchmal beginnt Nähe nicht mit großen Worten, sondern mit kleinen Gesten im Lärm einer fremden Stadt.“

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Blick aus dem Flugzeugfenster, die Wolken schimmern im Sonnenlicht

Kapitel 13 – Über den Wolken

📖 Vorspann:
„Ein letzter Kaffee im Büro, ein ehrliches Lächeln, dann der Sprung ins Ungewisse. Isabella steigt ins Flugzeug – und zum ersten Mal beginnt ihre Reise wirklich.“

Hier geht es zurück zu Kapitel 12- Bleib nicht stehen

Kapitel 13

Isabella lehnte sich zurück. Ein stilles Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Es war kein großer Triumph. Niemand hatte applaudiert, niemand hatte es bemerkt. Aber in ihr war etwas in Bewegung geraten. Kein Traum mehr, keine bloße Sehnsucht – sondern ein erster Schritt.

In zwei Monaten würde sie zum ersten Mal allein reisen. Nach Spanien. Nicht zu Sergio, nicht zu einem Ziel, das schon feststand – sondern auf einen Weg, der endlich ihr eigener war.

Abschied in der Kaffeeküche

Der letzte Arbeitstag vor dem Urlaub war überraschend still. Keine Überraschungen, keine Katastrophen, nur das leise Surren der Klimaanlage und das Tippen der Tastaturen. Isabella hatte die Stunden gezählt, nicht weil sie sich langweilte, sondern weil etwas Neues zum Greifen nah war.

In der Kaffeeküche goss sie sich ein letztes Mal für die Woche einen Becher Filterkaffee ein, als Daniela hereinkam. Die Kollegin, mit der sie sich in den letzten Monaten zaghaft angefreundet hatte – über Mittagspausen, geteilte Blicke im Büro, kleine Gespräche über Reisen und Bücher.

„Du siehst anders aus und das liegt nicht nur an deiner Frisur.“, sagte Daniela mit einem prüfenden Blick. „Irgendwie… heller.“

Isabella musste lachen. „Vielleicht liegt’s am Kaffee.“

„Du hast doch Urlaub, oder? Wohin geht’s?“

Isabella zögerte. Sie hatte niemandem genau erzählt, was sie plante. Nicht aus Geheimniskrämerei, sondern weil es sich so fragil angefühlt hatte, wie etwas, das zerbrechen könnte, wenn man zu früh darüber sprach.

Aber jetzt nickte sie.

„Spanien. Zwei Wochen.“

„Allein?“, fragte Daniela überrascht, aber ohne Spott.

„Ja.“ Isabella blickte in ihre Tasse, dann zu Daniela. „Ich muss etwas herausfinden.“

Daniela nickte langsam, als würde sie verstehen, auch wenn sie keine Fragen stellte. „Na dann… ich hoffe, du findest es.“

Ein Lächeln. Ein ehrlicher Moment zwischen zwei Frauen, die beide mehr zu fühlen schienen, als sie aussprachen.

„Pass auf dich auf“, sagte Daniela.

„Mach ich“, antwortete Isabella. Und innerlich fügte sie hinzu: Endlich.

Über den Wolken

Der Flughafen war laut und überfüllt, das Neonlicht grell und unbarmherzig. Menschen hetzten mit Rollkoffern über die glänzenden Böden, Ansagen hallten über Lautsprecher, Stimmen in vielen Sprachen, von fernes Leben, die sich kreuzten und wieder verloren.

Isabella saß am Gate, den Rucksack auf dem Schoß, das Ticket fest in der Hand. Ihre Finger zitterten leicht, obwohl sie es sich nicht eingestehen wollte. Auf dem Bildschirm über ihr stand: Flug EW2516 – Düsseldorf nach Santander – pünktlich.

Zum ersten Mal in ihrem Leben flog sie allein.

Ihr Herz klopfte wie bei einer Prüfung, deren Fragen sie nicht kannte. Was mache ich da eigentlich? flüsterte eine Stimme in ihr. Du gehörst hier nicht hin. Doch sie dachte auch an die Zeilen aus Sergios letztem Blogbeitrag. An den nebligen Pfad, an das Kind, das durch den Wald ging, an das Verschwinden seines Urgroßvaters, das ihn nie losgelassen hatte.

Jetzt verstand sie diesen Nebel ein wenig besser. Angst war nicht das Ende, sondern vielleicht der Anfang.

Als sie durch den Gang zum Flugzeug ging, spürte sie, wie ihr Magen sich zusammenzog. Die letzten Monate blitzten auf wie ein innerer Film: das Büro, die Tränen in der Nacht, das heimliche Spanischlernen, der erste Kommentar, der Traum im Nebel.

Dann hob das Flugzeug ab. Düsseldorf wurde kleiner, die Straßen zu Linien, die Häuser zu Schachteln, und bald verschluckten die Wolken alles.

Isabella blickte aus dem Fenster. Ihr Puls ging schneller, während die Turbinen dröhnten. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete. Aber da war dieses Gefühl – eine zarte Mischung aus Hoffnung und Angst.

Sie atmete tief ein. Ich bin unterwegs.

📎 Abspann:
„Manchmal ist ein Flug mehr als ein Flug – er ist das Versprechen, dass das Alte unten bleibt.“

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Neue Kapitel erscheinen jeden Sonntag.
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Ein startendes Flugzeug im Sonnenuntergang von einem Fenster aus gesehen

Kapitel 12 – Bleib nicht stehen

📖 Vorspann:
Ein Satz, eine Antwort – und plötzlich bewegt sich etwas. Isabella wagt den ersten unwiderruflichen Schritt hinaus aus ihrem alten Leben.

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Ein Lichtstreif im Posteingang

Isabella saß am nächsten Tag noch lange vor dem Bildschirm, obwohl ihre Aufgaben längst erledigt waren. Die Worte von Frau Klenke hallten in ihr nach wie ein Echo, das sich nicht abschütteln ließ. Fehler. Konzentration. Verlässlichkeit. Alles klang wie ein Urteil über ihr ganzes Leben, nicht nur über eine Tabelle.

Und dazwischen blitzten, wie aus einer anderen Welt, noch immer einzelne Bilder von gestern auf – das andalusische Landhaus im Abendlicht, der gedeckte Tisch, das Gelb der Wände.

Sie öffnete einen neuen Tab, fast automatisch. Sergios Blog war wie ein Zufluchtsort geworden – weit entfernt von fluoreszierendem Licht und künstlicher Höflichkeit. Doch heute war selbst sein letzter Beitrag über einen nebligen Morgen in den Bergen Aragoniens nicht genug, um die Unruhe in ihr zu beruhigen.

Nach langem Zögern klickte sie auf „Kontakt“. Eine kleine Nachricht, nur ein paar Sätze:

„Hola Sergio,
Ich wollte nur sagen, dass mich deine Texte in letzter Zeit sehr berühren. Ich habe heute einen dieser Tage, an denen man an allem zweifelt – besonders an sich selbst. Vielleicht kennst du das Gefühl.
Grüße aus dem kalten Gelsenkirchen,
Isabella“

Sie schickte die Nachricht ab, ohne zu erwarten, dass er antworten würde. Vielleicht war es kindisch, vielleicht auch mutig – sie wusste es nicht.

Sergio

Während Isabellas Nachricht ihren Weg durch Kabel und Server nahm, war Sergio in den Ausläufern der Pyrenäen unterwegs. Ein schmaler Pfad zwischen alten Steinmauern, Kies knirschte unter den Stiefeln, die Kamera filmte mit – für die Follower, die sein „authentisches Leben“ sehen wollten.

Später würde er daraus einen Zwei-Minuten-Clip machen: goldener Morgenhimmel, Atemwolken in der Kälte, ein nachdenklicher Satz über das Loslassen. Und darunter würden Kommentare eintrudeln: Herz-Emojis, Fragen nach seiner Jacke, Bitten um Tipps für günstige Flüge nach Spanien.

Er wusste, wie das Spiel lief. Gesponserte Ausrüstung, Werbeverträge mit Outdoor-Marken, Affiliate-Links unter jedem Beitrag. Es reichte für Miete, Kaffee und Wanderkarten – und dafür, Entscheidungen zu vermeiden.

Manchmal, wenn er in den Bergen unterwegs war, kam ihm eine Wanderung in den Sinn, die ihn vor Jahren fast bis an die französische Grenze geführt hatte. Der Pfad war schmal gewesen, gesäumt von Ginster und Wacholder, und endete an kaum noch sichtbaren Ruinen. Grundmauern, halb überwachsen. Terrassenfelder, längst nicht mehr bestellt. Auf einer alten, halb verwaschenen Karte hatte der Ort noch einen Namen getragen: Sanluz de Montarroyo.

Der Zettel mit dieser Karte lag irgendwo in derselben Schublade wie der kleine Messingschlüssel, den er nicht wegwerfen konnte.

Manchmal, spät abends vor dem Laptop, fragte er sich, ob er nicht lieber ein Familienleben hätte. Kein perfektes Bild, sondern Alltag ohne Filter. Aber dann schob er den Gedanken weg wie einen störenden Tab im Browser. Morgen war auch noch ein Tag, um Antworten zu finden.

Am nächsten Morgen, kurz vor Arbeitsbeginn, leuchtete eine neue E-Mail in ihrem Posteingang auf.

„Hola Isabella,
Ich kenne das Gefühl nur zu gut. Zweifel sind wie Nebel – sie machen alles undeutlich, aber manchmal zeigen sie auch, wo das Licht ist. Du bist auf dem Weg, das spürt man zwischen deinen Zeilen. Bleib nicht stehen.
Un abrazo desde el norte,
Sergio“

Isabella las die Zeilen mehrmals. Etwas in ihr verschob sich – leise, aber spürbar. Die Worte trafen einen wunden Punkt und heilten ihn im selben Atemzug.

Der Entschluss

Isabella hatte den ganzen Tag über ihre E-Mails geprüft, die akuten Probleme in der Arbeit beseitigt, die Zahlen abgeglichen und die Berichte fertiggestellt. Doch am Nachmittag, als sie die letzte Mail abschickte und die Zeit auf der Uhr sah, war es, als ob ein unsichtbares Gewicht von ihren Schultern genommen worden wäre.

Sie fuhr ihren PC herunter und lehnte sich zurück. Ihr Blick wanderte zu den grauen Wolken, die sich vor den Fenstern des Büros türmten. Das vertraute Gefühl der Erschöpfung kratzte an ihr, doch diesmal war etwas anders. Der Gedanke an ihre Routine, an das Büro, an den Alltag, der sie immer wieder in seine gewohnten Bahnen zog, konnte ihr nichts mehr nehmen. Sie spürte ein leises, aber immer stärker werdendes Bedürfnis: Etwas musste sich ändern.

Mit zitternden Händen griff sie nach ihrem Handy und öffnete ein Reiseportal. Ihre Finger tanzten über das Display, suchten nach günstigen Flügen nach Spanien. Sie hatte nie viel über Spontanität nachgedacht, hatte sich nie wirklich in den Wind geworfen, den sie immer nur in den Blogs anderer gesehen hatte.

Und doch war es jetzt die einzige Möglichkeit. Die einzige Chance, den leeren, grauen Rahmen ihres Lebens zu verlassen.

Der Bildschirm zeigte ihr günstige Flüge nach Santiago de Compostela – der historische Pilgerort, der in ihren Gedanken immer präsenter geworden war, je mehr sie sich in Sergios Texte vertieft hatte. Ein kleiner Gedanke, eine leise Ahnung: Hier könnte es beginnen. Hier könnte sie in diesem fremden Land, mit all den Fragen und dem Gefühl der Ungewissheit, den ersten Schritt in eine neue Richtung machen.

Mit einem tiefen Atemzug, als wollte sie die ganze Luft der alten Welt hinter sich lassen, klickte sie auf „Buchen“. Zwei Wochen. Sie würde einfach wegfahren. Ganz allein.

Der Flug war in zwei Monaten. Genug Zeit, um sich vorzubereiten, sich von allem zu lösen. Genug Zeit, um ihre Entscheidung zu verarbeiten – und vielleicht die Frage, ob sie überhaupt zurückkommen wollte.

Das Gefühl war wild, unvermittelt, wie ein ungezähmter Sturm, der in ihr tobte. Aber es fühlte sich richtig an.

Der Gedanke, dass sie sich dieser Reise stellen würde, erfüllte sie mit einer seltsamen Mischung aus Nervosität und Erwartung.

Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Zwei Wochen Mut

Es war ein Mittwoch, kurz vor Feierabend, als Isabella in der Teeküche stand und ihre leere Tasse anstarrte. Der Pfefferminzduft war längst verflogen, übrig geblieben war nur der bittere Nachgeschmack ihrer Entscheidungslosigkeit. Die Worte ihrer Chefin von letzter Woche klangen noch nach – als wäre sie jemand, der gerade noch so „funktionierte“, aber innerlich längst abwesend war.

Doch da war auch Sergios letzte Nachricht. Kurz, herzlich, und doch kraftvoll. „Bleib nicht stehen.“ Sie hatte diesen Satz abgeschrieben, auf einen Zettel neben ihrem Bildschirm geklebt. Und nun war er mehr als nur ein Satz.

Zurück am Platz, klickte sie auf das Intranet. Urlaubsanträge. Die Seite war nüchtern, bürokratisch, grau – wie fast alles in diesem Gebäude. Sie hielt kurz inne, ihr Finger schwebte über der Maus. Dann ein Klick. Kalenderansicht. Zwei Wochen im Frühling. Sie wählte die Tage aus, trug den Grund ein: „Privatreise“.

Ein letzter Blick, ein tiefer Atemzug.

„Absenden.“

Ein Fenster erschien: „Ihr Urlaubsantrag wurde erfolgreich übermittelt.“

📎 Abspann:
„Manchmal beginnt eine Reise nicht am Flughafen, sondern in einer einzigen Nachricht.“

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Ein Park im Vorfrühling, eine Wiese mit blühenden Krokussen, ein Kaninchen hoppelt durchs Bild, im Hintergrund noch unbelaubte Bäume

Kapitel 11 – Karten im Kopf

Isabella beginnt zu träumen – und der Traum nimmt Gestalt an. Doch zwischen dem leisen Versprechen Spaniens und der kalten Stimme ihrer Gegenwart bleibt sie gefangen. Was, wenn die Karten im Kopf mehr sind als bloße Gedankenflucht?

Zurück zu Kapitel 10 – Schatten der Vergangenheit

Sie blieb manchmal einfach mitten im Raum stehen, drehte sich langsam im Kreis – nicht um zu kontrollieren, ob alles ordentlich war, sondern um zu spüren, wie anders es sich anfühlte. Als gehöre dieser Ort nun tatsächlich zu ihr – nicht nur als Adresse, sondern als zuhause.

Die Nacht war still, fast zu still. Draußen hing der späte Januar über Gelsenkirchen wie ein grauer Vorhang, schwer von feuchter Kälte. In Isabellas Schlafzimmer brannte keine Lampe mehr. Nur der matte Lichtschein der Straßenlaterne fiel durch die Gardine auf die Bettdecke, unter der Isabella unruhig lag.

Sie schlief irgendwann ein – schwer, tief, wie in einen See eingetaucht. Und dann war sie plötzlich dort.

Im Wald.

Wieder dieser Weg. Der schmale, von Moos gesäumte Pfad, der sich wie eine Erinnerung durch die dichten, feuchten Bäume kroch. Nebel hing zwischen den Ästen, als atmete der Wald selbst – langsam, geheimnisvoll. Die Geräusche waren gedämpft, jeder Schritt auf dem weichen Boden war wie eine zarte Berührung.

Isabella ging barfuß, spürte das Kühle der Erde unter ihren Sohlen, den Duft von Laub, Pilzen, feuchtem Holz. Es war derselbe Ort aus dem Foto. Der Pfad, der sie seit Tagen nicht mehr losließ.

Plötzlich hörte sie etwas. Leichtes Laufen. Schritte.

Vorne auf dem Weg erschien eine Gestalt – klein, schmal. Ein Junge, höchstens sieben Jahre alt, mit dunklem Haar, einem blauen Pullover, zerschlissenen Turnschuhen. Er drehte sich nicht um. Aber Isabella wusste sofort: Es war Sergio. Oder besser – der Junge, der er einmal gewesen war.

Er ging zügig, fast schwebend, ohne sich zu verirren. Isabella rief nicht. Sie folgte einfach.

Der Nebel wurde dichter, kroch tiefer. Der Junge bog plötzlich ab, nach links, wo der Weg sich verlor zwischen Farnen und Wurzeln. Isabella versuchte, ihm zu folgen – doch als sie den nächsten Schritt machte, löste sich der Boden unter ihren Füßen auf.

Da war kein Weg mehr. Nur Nebel. Nur Schweigen. Und das Gefühl, zu fallen, ganz langsam, ohne Aufprall.

Sie schreckte hoch.

Erste Karten im Kopf

Der Winter zog sich zurück, und mit ihm wich auch die bleierne Schwere aus Isabellas Gedanken. In den Parks sprießten erste Knospen an kahlen Ästen, und zwischen den grauen Häuserzeilen Gelsenkirchens zeigte sich gelegentlich ein satter, überraschender Lichtstreifen. Die Luft war milder geworden. Nicht freundlich, aber versöhnlich.

Isabella saß an ihrem kleinen Küchentisch, eine dampfende Tasse Tee zwischen den Händen, während ihr Blick über die geöffnete Internetseite schweifte. Ein Flugvergleichsportal. Spanien. Allein dieses Wort ließ es warm in ihr werden.

Sie hatte sich nichts vorgenommen, nur „mal geschaut“, wie sie sich selbst sagte. Doch ihr Suchverlauf sprach eine andere Sprache. Galicien, Asturien, Aragón – Regionen, von denen sie noch vor wenigen Monaten kaum etwas gewusst hatte. Jetzt klangen sie wie Versprechen.

Sergio hatte in einem seiner Blogeinträge die „ruhige Wildheit der spanischen Landschaft“ beschrieben. Die Zeile war ihr geblieben. Sie wiederholte sie leise vor sich hin, wie einen Reim aus der Kindheit.

Sie stellte sich vor, wie sie selbst dort stehen könnte. Auf einem Hügel vielleicht, mit Blick auf das Meer oder in einem kleinen Dorf, die Kamera in der Hand, der Wind in den Haaren. Niemand, der sie erwartete. Nichts, was sie zurückhalten würde. Nur sie selbst – und ein Stück fremde Erde unter ihren Füßen.

Es war nur ein Gedanke. Noch nicht greifbar. Noch nicht real.

Aber er kehrte wieder. Täglich. Und er war nicht mehr still.

Die kalte Stimme

Montagmorgen. Die Kaffeemaschine im Großraumbüro zischte mechanisch, während sich die grauen Bildschirme einer nach dem anderen einschalteten.
Isabella saß an ihrem Schreibtisch, das Gesicht ausdruckslos, der Cursor blinkte vor ihr wie eine winzige, nervöse Mahnung.

In ihrem Kopf rauschte Spanien – ein Gedanke, der sie seit Tagen begleitete wie ein leiser, beständiger Chor.
Doch er verstummte, als sich die Tür zum Büro der Abteilungsleitung öffnete.

„Frau Hartmann? Könnten Sie bitte kurz reinkommen?“
Die Stimme von Frau Klenke war sachlich, aber schneidend wie ein kalter Windzug.
Isabella stand auf, spürte sofort dieses alte Ziehen im Bauch – das, was kam, war selten gut.
Plötzlich schien es, als lägen alle Blicke auf ihr. Die Stimmen im Raum verklangen wie nach einem Stromausfall. Irgendwo fiel ein Kuli zu Boden, das Geräusch hallte unangenehm nach.

„Ich habe mir Ihre letzten Auswertungen angeschaut.“
Frau Klenke hielt den Blick auf ihren Monitor gerichtet.
„Es sind mir ein paar Fehler aufgefallen – kleinere, aber wiederholt. Haben Sie im Moment Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren? Sie wirken oft abwesend.“

Isabella öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Erst wich die Farbe aus ihrem Gesicht, dann stieg sie ihr heiß in die Wangen.
„Ich… vielleicht war ich etwas unaufmerksam. Es tut mir leid“, sagte sie leise, ihre Stimme brüchig.

Schon in der Schule hatte sie diesen Blick gefürchtet – kein Zorn, nur die kühle Feststellung, nicht genug zu sein.
Ihre Schultern zogen sich unwillkürlich zusammen, als könne sie die Worte so kleiner machen.

Frau Klenke nickte knapp. „Ich weiß, dass Sie zuverlässig sind. Aber wenn das so bleibt, müssen wir reden. Es ist wichtig, dass wir uns aufeinander verlassen können.“

Das Gespräch war kurz, ein Warnschuss.
Als Isabella wieder an ihren Platz zurückkehrte, starrte sie auf den Bildschirm – und sah nur noch verschwommene Zahlen und Fenster.
Irgendwo in ihr nagte ein leiser, bohrender Zweifel.

Der Gedanke an Spanien wirkte plötzlich lächerlich.
Wie hatte sie glauben können, einfach wegzukönnen?
Sie, die in Excel-Tabellen lebte und sich von Aktenbergen begraben ließ.

Eine Närrin, schalt sie sich.
Am Ende war sie doch nur ein Nichts, das die Frisur gewechselt hatte.
Wie hatte sie nur an eine andere Möglichkeit glauben können?

Der Abend kam, ohne dass sie es bemerkt hatte.
Draußen glänzte der Asphalt noch feucht vom kurzen Schauer, und das Licht der Straßenlaterne zog lange, schmale Schatten über den Gehweg.
Auf dem Couchtisch stand ein halbleer gegessener Teller neben einer Teetasse, in der der Tee längst kalt geworden war. Das Handy hing stumm an der Steckdose, als hätte es auch keine Lust mehr, sich zu regen.

Der Fernseher lief nebenher, war mehr Hintergrundrauschen als Unterhaltung.
Bis die Bilder plötzlich vertraut wirkten.

Ein andalusisches Landhaus im goldenen Abendlicht.
Eine Frau am Herd, das Haar locker hochgesteckt, die Schürze makellos.
Ein großer Tisch stand gedeckt, als würde gleich eine Familie von zwölf Personen eintrudeln – pünktlich und ohne Streit.
Die Haustür öffnete sich, ein Mann trat herein, küsste die Frau, zwei Kinder wirbelten um sie herum, als wäre es ihre einzige Aufgabe, glücklich auszusehen.

Die Kamera fing das Gelb der Wände ein, das tiefe Blau des Himmels, und man konnte fast glauben, der Geruch von warmem Brot und Olivenöl wehte bis hierher.
Dann wandte sich die Frau zur Kamera, lächelte wie jemand, der nie in seinem Leben den Abwasch machen musste, und sprach ihren Werbespruch.

Isabella bemerkte, dass sie den Löffel in der Hand hielt, über einem halbleeren Teller, in dem die Nudeln längst klebten. Neben ihr an der Steckdose hing das Handy, der Bildschirm dunkel.
Für einen winzigen Moment war sie dort – im weichen, goldenen Licht.

Dann wechselte der Spot.
Eine knallende Tür im Treppenhaus holte sie zurück ins Wohnzimmer, wo der Geruch nach Regen und Asphalt durch das gekippte Fenster zog.
Spanien war wieder weit weg. Ein Land auf der Karte, das man nur mit dem Auge berührte.

Abspann
Alles beginnt mit einem Traum

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Ein Wanderer steht auf einem Bergpfad und blickt einem einzelnen Wolf entgegen, der wenige Meter entfernt den Weg versperrt. Dramatisches Licht, felsige Landschaft, gespannte Atmosphäre.

Wolf von Aragón

Der Wolf von Aragón
Knapp unterhalb der französischen Grenze lag ein Tal, das kaum noch jemand betrat. Der Pfad war überwuchert, der Wind roch nach Wacholder und feuchtem Stein. Sergio ging langsam, nicht wegen der Steigung, sondern weil hier jede Bewegung wie ein Eingriff wirkte – als müsste man um Erlaubnis bitten, weiterzugehen.

Zwischen den Büschen tauchten Grundmauern auf, so niedrig, dass man sie für zufällig liegende Steine halten konnte. Reste von Terrassenfeldern, längst vom Ginster zurückerobert. Eine Bruchstelle in einer Mauer trug noch einen Schriftzug, halb von Moos verdeckt: Sanluz de Montarroyo.

Er stand eine Weile davor, las die Buchstaben, als könnte das allein etwas zurückholen. Da knackte es im Unterholz. Sergio hob den Kopf – und sah ihn: einen Wolf, grau, mager, reglos, die Augen auf ihn gerichtet. Für einen Moment war die Welt still, nur Wind im Wacholder. Kein Knurren, kein Fliehen, nur dieses unergründliche Ansehen, als hätte das Tier entschieden, ihn zu prüfen. Dann wandte es sich ab, verschwand zwischen den Steinen, als wäre es nie da gewesen.

In seiner Familie hatte man ihn manchmal den „Wolf von Aragón“ genannt – halb spöttisch, halb ehrfürchtig. Nun war er sich nicht sicher, ob der Name ihn gefunden hatte oder er den Namen.

Plötzlich fiel ihm ein alter Schlüssel ein – verrostet, längst unbrauchbar. Als Kind hatte er ihn oft in den Händen gedreht, während sein Großvater ihm Geschichten erzählte: dass dieser Schlüssel einst zu einer Kapellentür gehört habe. Dass er, Sergio, der Nachkomme eines tapferen Ritters sei, der eine arabische Prinzessin geheiratet und eben jene Kapelle gebaut habe.

Manchmal, wenn er älter war, fragte er sich, ob sein Großvater die Geschichte selbst geglaubt hatte – oder ob sie nur eine hübsche Erfindung war, um einen rostigen Schlüssel zu retten. Aber als Junge hatte er nicht gefragt. Er hatte einfach zugehört und die Bilder im Kopf wachsen lassen.

Er machte ein Foto – nicht für den Blog, nicht für Sponsoren. Dieses Bild gehörte nicht ins Netz. Es gehörte dorthin, wo er sich selbst noch suchte.

Auf dem Rückweg kam ihm der Gedanke, dass er hier vielleicht länger bleiben könnte. Nicht für immer, aber lang genug, um zu sehen, ob man zwischen bröckelnden Steinen und verwehten Pfaden etwas findet, das näher an Zuhause ist als jede Wohnung in der Stadt.

In seiner Familie hatte man ihn manchmal den „Wolf von Aragón“ genannt – halb spöttisch, halb anerkennend. Weil er rastlos war, schwer zu fassen, nie ganz irgendwo ankam. Ein Tier, das Spuren hinterlässt, aber sich nie zähmen lässt. Sergio lächelte kurz bei dem Gedanken. Vielleicht war es gar nicht so falsch, dass ausgerechnet er hier stehengeblieben war, an einem Ort, der sich selbst gegen das Vergessen wehrte.

Entscheidungen konnten warten.

📜 Autorenkommentar

Manche Legenden tragen mehr Gewicht als jeder Beweis.
Sergio spricht selten über diese Geschichte. Vielleicht, weil er nicht weiß, ob sie wahr ist. Vielleicht, weil er ahnt, dass es keine Rolle spielt. In seinem Leben war dieser Schlüssel immer mehr als Metall – er war ein Versprechen, das keiner einlösen musste.

Kapitel 10 – Schatten der Vergangenheit

Vorspann:
„Eine E-Mail, schlicht im Betreff – und doch wie ein Schlüssel. Sergios Geschichte öffnet in Isabella einen Raum, der lange verschlossen war.“

Zurück zu Kapitel 9

Die Schatten der Vergangenheit

Es war später Abend, als Isabellas Handy leise vibrierte. Sie lag im Bett, umgeben von Dunkelheit und dem blauen Licht ihres Bildschirms. Eine neue E-Mail von Sergio war eingetroffen – der Betreff schlicht: „Algo personal / Etwas Persönliches.“

Mit leicht zitternden Fingern öffnete sie die Nachricht. Ihr Spanisch war noch bruchstückhaft, aber genug, um die Worte zu verstehen – oder zumindest zu fühlen.

„Isabella, du hast mich gefragt, warum ich so viel reise. Warum ich manchmal einfach aufbreche, ohne Ziel. Ich habe lange gezögert, darüber zu schreiben. Aber vielleicht ist jetzt der richtige Moment.

Mein Urgroßvater verschwand in den 1940er Jahren. Während der Franco-Diktatur. Niemand weiß genau, was passiert ist – ob er geflohen ist, verhaftet wurde, oder irgendwo in einem Massengrab liegt. Meine Urgroßmutter sprach nie offen darüber. Nur einmal, als ich sieben war, nahm sie mich mit in ein Waldstück nahe Lugo, wo sie meinte, er früher oft spazieren ging. Sie sagte: ‚Aquí, lo vi por última vez.‘ – Hier habe ich ihn zum letzten Mal gesehen.

Ich erinnere mich an den Nebel, das feuchte Laub unter meinen Schuhen, den stillen Schmerz in ihrem Gesicht. Sie ist schon viele Jahre tot. Seitdem zieht es mich immer wieder dorthin zurück – zu Wegen, die kein Ende haben. Vielleicht, weil ich glaube, dass ich ihn eines Tages finde. Oder wenigstens verstehe, was ihm genommen wurde.

Mein Blog, meine Reisen – sie sind ein Versuch, durch das Gehen zu begreifen. Ich suche nicht nur Orte. Ich suche Spuren. Geschichte. Und vielleicht ein Stück Heimat.“

Isabella hielt die Luft an. Die Worte waren einfach. Ungekünstelt. Und doch trafen sie sie wie ein leiser, tiefer Akkord im Inneren. Es war kein touristischer Post, keine Kulisse, keine Pose. Es war echt. Roh.

Sie las die E-Mail zweimal. Dann noch ein drittes Mal. Der Wald, der Nebel, die Stille – sie konnte es sehen, spüren. Fast, als wäre sie selbst dort gewesen. Als würde sie nun nicht mehr nur einen fremden Mann betrachten, sondern jemanden, der einen Teil von ihr gespiegelt hatte.

Langsam schrieb sie ihm zurück. Nicht viel. Nur:

„Danke. Ich glaube, manche Wege beginnen, bevor man weiß, dass man geht.“

Spiegelungen

Am nächsten Morgen ging Isabella wie gewohnt zur Arbeit, doch etwas war anders. Während sie durch die Straßenbahn drängte, vorbei an dösenden Pendlern, Werbeplakaten und dem tristen Grau des Gelsenkirchener Januars, hallte Sergios E-Mail in ihr nach. Immer wieder.

Sein Schmerz, seine Geschichte, seine Suche – sie hatten etwas in ihr berührt, das sie selbst kaum benennen konnte. Es war nicht bloß Mitleid gewesen. Auch keine bloße Faszination für ein fremdes Leben. Es war das leise, aber erschütternde Erkennen: Er sucht genauso wie ich.

Im Büro zog sie plötzlich alle Blicke auf sich. Thomas, ein Kollege, der sie immer ignoriert hatte, rief ihr ein: “Schick!“ zu.

In der Kantine, während sie lustlos an ihrem Kaffee nippte, sah sie die Kolleginnen lachen, über Familienpläne sprechen, Urlaube im Allgäu. Isabella fühlte sich plötzlich weniger allein – nicht, weil sie jetzt dazugehörte, sondern weil da draußen jemand war, der dieselbe innere Unruhe kannte. Der Weglaufen nicht als Flucht, sondern als Annäherung verstand.

Sergio reiste, um Vergangenes zu berühren. Sie wollte aufbrechen, um ihre Zukunft zu finden. Und in dieser scheinbaren Gegensätzlichkeit lag eine seltsame Nähe. Beide tasteten sich durch Nebel.

In einem unbeobachteten Moment öffnete sie auf dem Bildschirm wieder seinen Blog. Diesmal nicht verstohlen, sondern fast wie zu einem Vertrauten. Ihre Augen blieben an einem Satz hängen, den er in einem älteren Beitrag geschrieben hatte:

„Manchmal beginnt die Reise nicht an einem Ort, sondern mit einer Frage, die niemand sonst stellt.“

Sie atmete tief ein. Ja. Das war es. Eine Frage, die sie selbst kaum in Worte fassen konnte – aber die sie beide verband.

Isabella wusste jetzt: Sie suchte nicht länger nur nach etwas. Sondern auch nach jemandem, der suchte.

Erste Schritte

Etwas hatte sich verändert – kaum merklich, aber spürbar. An diesem Samstagabend stand Isabella zum ersten Mal seit langer Zeit in ihrer Küche und ließ die Tiefkühlpizza im Eisfach liegen. Stattdessen schnitt sie ein Zucchino, rührte eine Tomatensoße zusammen und würzte vorsichtig mit frischem Basilikum aus einem Topf, das sie spontan im Supermarkt gekauft hatte.

Es war kein Festmahl. Die Pasta war etwas zu weich, die Soße zu säuerlich – doch es war das erste selbstgekochte Essen seit Monaten. Sie deckte sogar den Tisch. Kein Fernseher, kein Handy. Nur Kerzenschein. Eine Kleinigkeit. Aber es fühlte sich an wie ein leiser Akt der Selbstachtung. Es schmeckte ihr trotz der Mängel hervorragend.

In den folgenden Tagen griff sie zu einem Buch, das sie vor längerer Zeit gekauft, aber nie aufgeschlagen hatte – ein Reiseroman über das Pilgern in Nordspanien. Abends saß sie eingekuschelt auf dem Sofa, las, notierte Gedanken in ein altes Notizbuch. Es waren keine großen Erkenntnisse, eher Fragen: Was bedeutet Heimat? Was will ich wirklich? Wo wäre ich mutig, wenn niemand zusähe?

Auch in ihrer Wohnung begann sich etwas zu verändern. Eine bunte Decke über dem grauen Sofa. Ein Ausdruck von Sergios Waldpfad-Foto, das sie ausgedruckt und an die Kühlschranktür gepinnt hatte. Und auf dem Fensterbrett stand nun ein kleiner Kaktus. Noch stil Aber lebendig.

Sie sprach noch nicht darüber. Nicht mit ihrer Mutter, nicht mit Daniela, nicht mit sich selbst. Doch irgendwo, tief drinnen, wusste sie: Das hier war der Anfang.

Ein neuer Ton

Es geschah schleichend, fast unbemerkt. Keine plötzliche Veränderung, kein radikaler Bruch – eher ein neues Flimmern in der Luft, ein anderer Ton, der sich unter das gewohnte Grau mischte.

Isabellas Wohnung, einst bloß funktional und still, begann sich zu wandeln. Der kleine Kaktus auf der Fensterbank reckte sich dem Licht entgegen. Ein zweiter Topf gesellte sich dazu – diesmal ein Kräutertopf mit Petersilie, den sie spontan mitgenommen hatte, weil er in Sergios Blog in einer Küche aufgetaucht war.

Sie kochte nun regelmäßig, probierte neue Rezepte aus. Ihr Körper begann sich zu verändern. Sie spürte eine neue Energie in sich und wurde schlanker. Bald schon wurden ihre Hosen und Röcke zu weit. Zum Geburtstag, Anfang Februar, wollte sie sich neu einkleiden.

Ein Foto vom Waldweg, das sie zuvor mit einem Magnet an den Kühlschrank gepinnt hatte, wurde in einen schlichten Rahmen gesetzt und an die Wand gehängt. Darunter stapelte sich eine kleine Auswahl an Büchern – keine Bestseller, sondern Fundstücke aus dem Antiquariat: Reisetagebücher, alte Atlanten, sogar ein abgegriffenes spanisches Wörterbuch.

Auf dem Sofa lag jetzt eine bunte Decke mit Fransen, die sie früher nie gewählt hätte – zu lebendig, zu auffällig. Jetzt wirkte sie wie ein leiser Trotz gegen die Sterilität, die ihr Leben bisher dominiert hatte. Auch das Licht hatte sich verändert. Statt der grellen Deckenlampe brannten nun abends zwei Stehlampen mit dimmbaren LEDs.

Es war noch immer dieselbe Wohnung. Doch plötzlich schien sie zu atmen.

Abspann:
„Manchmal ist es nicht die Antwort, die alles verändert – sondern die Frage, die man endlich zulässt.“

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Kapitel 9 – Zwischen Zimt und Aufbruch

Vorspann:
„Zimt, Wut, Erinnerung. Zwischen dem warmen Duft der Vergangenheit und dem frostigen Schweigen ihrer Mutter beginnt Isabella, ihren eigenen Weg zu gehen.“

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„Klingt spannend“, sagte Daniela und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. „Hast du dir mal überlegt, vielleicht auch so eine Reise zu machen?“

Isabella schüttelte unwillkürlich den Kopf. „Ich weiß nicht. Vielleicht ist es das, was mich an ihm so anspricht – diese Suche nach etwas, das größer ist als der Alltag. Aber ich… ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll. Es ist wie… als müsste ich den ganzen Kram hinter mir lassen und neu anfangen. Und das fühlt sich ein bisschen beängstigend an.“

Daniela lachte leise und legte ihre Hand auf Isabellas Arm. „Versteh mich nicht falsch, Isabella, aber ich denke, du brauchst das. Du bist immer so ruhig, so zurückhaltend. Vielleicht ist es an der Zeit, etwas mehr zu wagen. Glaube mir, ein bisschen Abenteuer kann niemandem schaden.“

Isabella nickte, auch wenn sie sich nicht ganz sicher war, ob sie bereit war, diesen Schritt zu gehen. Die Worte klangen nicht so weit weg wie noch vor einigen Wochen. Vielleicht war Daniela nicht ganz falsch. Vielleicht brauchte sie wirklich ein bisschen mehr Abenteuer in ihrem Leben, ein bisschen mehr Farbe. Und vielleicht war es genau dieser Funke – dieses Gefühl von Möglichkeit –, der in ihr zu brennen begann.

Als die Mittagspause zu Ende ging, nahm Isabella ihre Tasse, trank den letzten Schluck und stand auf. Die Unterhaltung mit Daniela war noch ein wenig in ihren Gedanken hängen geblieben. Ein kleiner Keim von Veränderung. Sie wusste, dass es nicht sofort geschehen würde, aber vielleicht, nur vielleicht, war der Gedanke an einen Neustart nicht mehr so weit entfernt, wie er es einmal gewesen war.

„Vielleicht irgendwann“, murmelte sie in sich selbst, als sie zurück an ihren Schreibtisch ging.

Aber tief in ihrem Innern wusste sie, dass dieser „irgendwann“ nicht mehr so weit in der Zukunft lag.

Am Samstagnachmittag schob sich ein blasser Lichtstreifen durch die dichte Wolkendecke über Gelsenkirchen. Es war dieser typische Novembertag – kühl, feucht, farblos. Und doch war etwas anders. Isabella hatte sich ohne besonderen Grund ihren Mantel angezogen, einen Schal umgeworfen und war hinausgegangen. Nicht, weil sie musste, sondern weil es sie hinauszog. Sie hatte keinen Plan, keine Richtung – nur das Gefühl, dass sie nicht länger zwischen grauen Wänden und flimmerndem Bildschirm verharren konnte.

Die Straßen waren vertraut, fast einschläfernd in ihrer Normalität. Der Bäcker an der Ecke, das leerstehende Schaufenster mit den vergilbten Gardinen, der kleine Spielplatz, auf dem zwei Kinder mit roter Nase herumrannten. Isabella ging langsam, die Hände tief in den Taschen, und ließ ihre Schritte treiben.

Wo sie früher nur Leere gesehen hatte, fiel ihr jetzt das Lichtspiel auf dem nassen Asphalt auf. Die Reflexion eines rot-gelben Blattes, das sich in einer Pfütze spiegelte. Das rhythmische Klackern ihrer eigenen Absätze auf dem Pflaster. Ein alter Baum mit knotigen Ästen, der sich wie eine Figur aus einem alten Märchen in den grauen Himmel reckte – ein stiller Wächter, übersehen und doch irgendwie majestätisch.

Sie blieb stehen, sah sich um. Die Welt war dieselbe. Aber irgendetwas in ihr war in Bewegung geraten. Dann kam sie an einem Auto vorbei und sah sich selbst im Fenster. Die Frau, die sie da sah, war unscheinbar, ohne Frisur, blass und ein wenig zu dick. Sie war nicht hässlich, aber auch nicht hübsch. Sie beschloss sich zu ändern, radikal, wenn es sein musste.

Unwillkürlich musste sie an Sergio denken. An seine Worte über die kleinen Dinge – das feuchte Moos, das Knacken der Zweige unter den Füßen, der Nebel, der sich wie Erinnerung über das Land legte. Sie erinnerte sich an ein Video, in dem er still durch einen alten Wald wanderte, ohne Musik, nur mit den Geräuschen der Natur. Er hatte daruntergeschrieben: „Manchmal beginnt die Rückkehr zu sich selbst mit einem Schritt ins Schweigen.“

Isabella spürte eine seltsame Nähe zu ihm, obwohl sie ihn nicht kannte. Aber es war nicht nur er – es war die Sehnsucht nach etwas anderem, etwas Tieferem. Etwas Echtem.

Sie bog in einen kleinen Seitenweg ein, der zu einem alten Friedhof führte. Früher wäre sie achtlos vorbeigegangen. Heute trat sie durch das quietschende Eisentor, ging zwischen den moosbedeckten Grabsteinen hindurch, als würde sie nach etwas suchen.

Die Luft war feucht, beinahe süßlich. Der Wind streifte ihre Wange, als wollte er sie erinnern. An was? An sich selbst?

Sie setzte sich auf eine Bank neben einer verwitterten Statue, bis sie fror. Keine Benachrichtigungen.

Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich nicht wie eine Zuschauerin ihres Lebens, sondern wie jemand, der sich langsam daran erinnerte, wie es sich anfühlt, wirklich da zu sein.

Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

In der Woche darauf ging sie zu einem Frisör, ließ sich das lange Haar abschneiden. Sie trug nun einen flotten Kurzhaarschnitt, der sie völlig veränderte.

Wie immer besuchte sie am Sonntag ihre Mutter. Die Wohnung ihrer Mutter roch nach Zimt, Nelken und altem Teppich. Isabellas Mutter hatte wie jedes Jahr zur Adventszeit gebacken, und der Geruch war so vertraut, dass er in Isabella ein diffuses Gefühl aus Kindheit, Enge und stiller Rebellion weckte. Sie saßen am Küchentisch, zwischen Lebkuchen, Stollen und Porzellanschüsseln mit Goldrand. Draußen fielen nasse Schneeflocken, schwer und lautlos gegen die Fensterscheiben.

„Du warst in letzter Zeit so… abwesend“, sagte ihre Mutter, während sie mit einem Messer die Butter auf ein Stück Christstollen strich. „Ist alles in Ordnung auf der Arbeit? Und was ist mit deinen schönen Haaren passiert?“

Isabella zögerte. Dann sagte sie leise: „Ich habe mich verändert, Mama. Meine Frisur war langweilig und ich denke darüber nach, zu reisen.“

Die Hand ihrer Mutter hielt inne. „Reisen? Jetzt? In deinem Alter? Allein?“

„Ich bin achtundzwanzig, Mama, kein Teenager auf Interrail.“

„Aber du hast einen festen Job, ein sicheres Einkommen. Man wirft das nicht einfach weg, nur weil einem ein bisschen langweilig ist.“

„Es geht nicht um Langeweile.“ Isabellas Stimme wurde fester. „Es geht darum, dass ich das Gefühl habe, ich… ich existiere nur noch. Ich funktioniere. Ich will wissen, wie es ist, wirklich zu leben.“

Die Mutter seufzte, legte das Messer beiseite. „Isabella, du bist vernünftig. Du hast es immer geschafft, dir was aufzubauen. Dieses ‚wirklich leben‘ klingt romantisch, aber am Ende bringt es dich auch nicht weiter. Was, wenn du dort allein bist? Wenn du scheiterst?“

„Und was, wenn ich bleibe und mich nie bewege? Wenn ich mit siebzig aufwache und merke, dass ich alles verpasst habe, weil ich Angst hatte? Und außerdem komme ich ja wieder. Ich habe gar nicht vor dort zu bleiben.“

„Überlege dir das gut, Isabella!“

„Ich weiß nicht, warum du so geworden bist. Aber ich bin nicht du. Ich will einfach weg. Neue Orte sehen, Menschen treffen, neue Eindrücke sammeln. Verstehst du das nicht? Warst du denn nie jung?“

„Doch und du bist das Ergebnis. Deinetwegen lebe ich hier.“

„Mutter, schieb es nicht wieder auf mich! Okay? Du hast nie erzählt, was damals passiert ist. Aber ich bin nicht schuld.“

Ein Moment herrschte Stille.

Dann sagte die Mutter leise, fast unhörbar: „Sicherheit ist kein Fehler.“

„Aber Stillstand ist auch kein Leben“, entgegnete Isabella.

Abspann:
„Manchmal beginnt Veränderung nicht mit einem Streit, sondern mit einem Satz, der endlich gesagt wird.“

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