Kapitelblog

Kapitel 5 – Eine Ahnung von mehr

Vorspann:
„Es ist nur ein Gedanke, nicht mehr. Und doch hebt er die Schwere in Isabellas Brust für einen Moment an. Was wäre, wenn dieser Mann ihr Leben verändern könnte?“

« Zurück zu Kapitel 4 – Ich will wissen, woher ich komme

Isabella stellte sich vor, wie es wäre, mit ihm zu sprechen – nicht nur über seine Reisen, sondern über all die tiefen Fragen, die unter seiner Oberfläche verborgen waren. Wie wäre es, ihn endlich zu fragen, was ihm wirklich fehlte, was er in all diesen Jahren der Suche über sich selbst gelernt hatte? Wäre sie dann jemand, der ihm half, die Antworten zu finden? Oder würde sie nur eine stille Begleiterin bleiben, die zu den Orten ging, die er mit so viel Sehnsucht aufsuchte?

Und dann, in einem unerwarteten Moment der Klarheit, dachte sie: Was, wenn er sie nicht nur als Reisepartnerin wollte? Was, wenn er sie als mehr sehen würde? Vielleicht könnte sie diejenige sein, die ihm das Gefühl von Zuhause gibt, das er nie gefunden hat, obwohl er es immer gesucht hat. Vielleicht könnte sie ihm den Halt bieten, den er brauchte, um seine eigene Geschichte zu begreifen. Vielleicht brauchte er sie genauso wie sie ihn – jemanden, der ihn verstand, ohne all die Worte, die er nie hatte.

Der Gedanke stieg in ihr auf wie eine Welle – ein wildes, unbändiges Gefühl von Möglichkeit, von Leben, von der unerforschten Freiheit, die sie in seiner Welt fand. Es war ein fremdes Gefühl, dieses sich selbst als Teil eines anderen Lebens zu sehen. Doch es fühlte sich auch richtig an, als ob sie endlich einen Ort gefunden hätte, an dem sie nicht mehr nur eine Randfigur war, sondern ein Teil eines größeren Bildes.

Und in diesem Moment, als sie sich vorstellte, an seiner Seite durch den Nebel zu gehen, schien alles so weit entfernt, und doch so nah. Es war, als könnte sie den feuchten Boden unter ihren Füßen förmlich spüren, die kühle Luft einatmen. Vielleicht war sie noch nicht bereit, diesen Schritt zu tun – aber vielleicht, dachte sie, war es der einzige Schritt, den sie jetzt noch tun konnte.

In dem stillen, schwachen Licht ihres Zimmers begann ein neuer Gedanke in Isabella zu keimen – schüchtern, aber unaufhaltsam. Es war kein klarer Plan, keine greifbare Entscheidung, sondern ein vager Funke, der tief in ihr aufblitzte, wie ein unbemerkter Stern, der sich langsam in den Vordergrund drängte.

Die Vorstellung, Teil von Sergios Leben zu sein, hatte etwas in ihr geweckt – etwas, das lange im Verborgenen geschlummert hatte. Eine Sehnsucht, die sie nicht kannte, weil sie nie wusste, dass sie überhaupt existierte. Es war nicht nur das Verlangen nach Abenteuer oder der Wunsch, etwas anderes zu tun, es war mehr. Es war der Wunsch nach Veränderung. Der Wunsch, aus der Dunkelheit ihres gewohnten Lebens herauszutreten und in eine Welt einzutauchen, die nicht so festgelegt, so festgefahren war. Eine Welt, in der Geschichten erzählt wurden, in der der Nebel über den Wäldern eine Bedeutung hatte, in der Fragen gestellt wurden, auch wenn die Antworten noch nicht greifbar waren.

Isabella lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Sie spürte, wie der Druck, der sonst immer auf ihrer Brust lastete, nachließ – als ob dieser Funke der Sehnsucht, den sie so lange nicht zugelassen hatte, nun etwas in Bewegung setzte. Vielleicht war es der Gedanke, dass auch sie mehr wollte als nur die monotone Abfolge von Arbeit, Stille und Einsamkeit. Vielleicht war es der Wunsch, zu spüren, dass es noch mehr gab, dass sie noch mehr sein konnte, als sie sich jemals erlaubt hatte.

Sie dachte an die fremden Orte, die sie nie betreten hatte, an die Geschichten, die sie nie gehört hatte. Sie dachte an Sergio, an seine Suche nach dem Unbekannten, an seinen Blick auf die Vergangenheit, die ihm entglitten war. Und in einem flimmernden Moment fühlte sie sich mit ihm verbunden – nicht als die Frau, die gerade in ihrer Wohnung saß, sondern als jemand, der sich selbst die Freiheit gab, eine neue Richtung einzuschlagen.

Der Funke, der in ihr auflodert war, war kein Feuer, das sofort alles verwandelte. Aber er war der erste Schritt. Es war der Beginn einer Veränderung, die so klein und gleichzeitig so groß war, dass sie es nicht sofort greifen konnte. Aber sie wusste, dass es nicht bei diesem Gedanken bleiben würde. Irgendetwas hatte sich in ihr verändert – und sie fühlte es in jeder Faser ihres Körpers.

Isabella griff nach ihrem Handy und öffnete erneut Sergios Blog. Ihr Blick glitt über die Worte, die sie so lange nicht beachtet hatte. Und während sie die Zeilen las, wusste sie, dass dieser Funke in ihr nicht mehr zu löschen war. Ein neuer Wunsch war entfacht, eine Neugier, die ihr Herz schneller schlagen ließ. Vielleicht würde sie wirklich reisen. Vielleicht würde sie nach Spanien fliegen und den Nebel auf einem Waldpfad spüren. Vielleicht würde sie den ersten Schritt tun, um sich selbst in dieser Geschichte zu finden.

In diesem Moment war es ihr egal, wie verrückt es sich anfühlte. Sie wollte einfach wissen, was jenseits der grauen Wände ihres Lebens lag. Sie wollte wissen, ob es da draußen etwas gab, das sie mehr lebendig fühlen ließ, etwas, das sie dazu brachte, aufzuwachen und zu atmen, als wäre sie mehr als nur ein flimmernder Schatten in ihrem eigenen Leben. Und vielleicht, dachte sie, war der erste Schritt dazu, diesen Blog weiter zu verfolgen, diesen Mann kennenzulernen und sich selbst die Freiheit zu erlauben, zu träumen.

Langsam legte sie das Handy zur Seite und blickte nachdenklich auf das Bild von Sergio, das auf dem Bildschirm stand – ein Mann, der durch Nebel ging. Der auf der Suche war. Und jetzt wusste sie, dass auch sie auf der Suche war.

Abspann:
Es war nur ein Gedanke. Doch manchmal reicht ein Gedanke, um etwas in Bewegung zu setzen – leise, unbemerkt, aber unumkehrbar.

🌿 Hat dich dieses Kapitel berührt, irritiert oder neugierig gemacht?
Dann teile deine Gedanken gern in den Kommentaren. Wenn du anderen davon erzählen möchtest, hilf Sanluz dabei, sich weiter zu entfalten – durch ein Like, einen Repost oder einen Hinweis an Freund:innen.

📬 Neue Kapitel erscheinen jeden Sonntag.
Folge dem Weg – Schritt für Schritt, Wort für Wort.
Zur Übersicht aller Kapitel →

Isabella am chaotischen Schreibtisch, ein Glas Wein

Kapitel 4 – Die Nacht, in der sie ihn fand

Vorspann:

Isabella klickt. Nur ein Video. Dann noch eins.
Was als beiläufige Suche beginnt, wird zu einer Reise ins Innere – und der Moment, in dem sich zum ersten Mal etwas verändert.
Ein Mann spricht über seinen Großvater.
Ein Bild flackert über den Bildschirm.
Und plötzlich ist da ein Ziehen, ein Kloß im Hals – ein Anfang.

« Zurück zu Kapitel 3- Alltag in Grau

Sie griff zur Fernbedienung, schaltete den Fernseher aus, stand auf und setzte sich an den kleinen Schreibtisch in der Ecke ihres Wohnzimmers. Der Laptop erwachte mit einem sachten Surren zum Leben, und bald glühte das vertraute Weiß der Suchmaschine über den Bildschirm.

„Sergio Menendez Clavero“, tippte sie ein.

Die ersten Treffer kannte sie bereits: sein Instagram-Profil, der Blog, einige Fotobeiträge in Reiseportalen. Doch dann fiel ihr Blick auf einen Link zu YouTube – „Menendez Viajero – Offizieller Kanal“. Ein Hauch von Neugier zog ihr die Schultern straff – was würde sie auf diesem Kanal wohl entdecken? Für einen Moment hielt sie inne, erinnerte sich an das verschwommene Foto aus dem Blog, an das Gefühl, das sie beim Lesen von Sergios Worten nicht losgelassen hatte. Vielleicht würde sie in den Videos mehr über ihn und seine Geschichte erfahren, vielleicht Antworten finden, die sie gar nicht gesucht hatte. Mit klopfendem Herzen klickte sie auf den Link.

Das Kanalbild zeigte ihn an einem Berghang, die Kamera in der Hand, hinter ihm ein weiter Horizont, durchzogen von Licht und Wolken. Sie klickte auf das neueste Video. Es begann mit einer ruhigen Kamerafahrt durch einen nebligen Wald – der gleiche Pfad wie auf dem Foto im Blog, diesmal in Bewegung. Vogelrufe, das sanfte Rascheln von Blättern, das ferne Tropfen von Wasser, und ein feiner Duft von feuchtem Moos lag in der Luft. Ein kühler Windhauch strich über ihre Haut, ließ sie für einen Moment frösteln. Seine Stimme aus dem Off war ruhig, leicht rau, mit einem weichen kastilischen Akzent.

Sie verstand kein Spanisch, aber sie las die Untertitel. Obwohl sie kein Spanisch verstand, halfen ihr die sorgfältig geschriebenen Untertitel, dem Inhalt zu folgen und die Bedeutung der Worte zu erfassen.

Während sie das Video betrachtete, spürte sie, wie die Ruhe des Waldes langsam auf sie überging und ihr Herz einen Moment lang leichter wurde.

„Ich war sieben, als ich zum ersten Mal diesen Weg entlangging. Mein Großvater hatte mir Geschichten erzählt, aber es war mein Urgroßvater, der in diesen Wäldern verschwand. Franco, der Krieg… vieles wurde nicht gesagt. Nur Schweigen. Ich gehe heute für ihn – vielleicht auch für mich.“

Isabella spürte, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle bildete. Sie lehnte sich zurück, starrte auf den Bildschirm, als könnte sie durch das Glas hindurch einen Teil dieser Geschichte begreifen. Das Bild wechselte: ein altes Schwarzweißfoto eines jungen Mannes in Uniform, eingeblendet über dem rauschenden Wald. Dann ein Blick über ein Tal in Galicien, Wolken, die sich an den Hängen verfingen, wie Gedanken, die nicht zu fassen waren.

Das Video endete still – keine Musik, kein Abspann. Nur Nebel. Und sein letzter Satz:

„Ich will wissen, woher ich komme. Vielleicht finde ich so heraus, wohin ich gehe.“

Isabella starrte noch eine Weile auf das dunkle Fenster, in dem gerade eben noch seine Stimme erklungen war. Dann klickte sie auf das nächste Video, und das nächste. Die Zeit verlor sich. Und zum ersten Mal seit langer Zeit spürte sie etwas, das wie ein leises Ziehen an ihrer Seele wirkte – nicht laut, nicht bedrohlich, sondern wie der erste Atemzug nach einem langen, grauen Winter.

Die Stunden verstrichen unbemerkt.

Isabella saß wie festgewachsen an ihrem kleinen Schreibtisch, die Lampe über ihr warf ein blasses Licht auf die Tastatur, während der Rest der Wohnung in Dunkelheit versank. Draußen war es längst tiefe Nacht geworden, doch in ihr war ein neues Leuchten erwacht – ein fiebriges, ruheloses Licht, das sie durch Links, Videos, Blogeinträge und Bilder trieb wie durch ein Labyrinth aus Stimmen, Erinnerungen und Orten, die nichts mit ihrem Leben zu tun hatten – und doch alles damit.

Sie klickte sich durch Sergios YouTube-Archiv, las seine älteren Blogbeiträge, folgte ihm virtuell durch die schroffen Berge Asturiens, die trockenen Hügel Aragóns und die Nebelwälder Galiciens. Immer wieder tauchte das Motiv auf – ein schmaler Pfad, eingefasst von Moos und nassem Laub, fast wie ein Portal in eine andere Welt. Jedes Bild, jedes Wort, jede kleine Erzählung von Kindheit, Verlust und Suche rührte an etwas in ihr, das sie lange verdrängt hatte.

Sie vergaß, Wasser zu trinken, vergaß, den Laptop an den Strom zu hängen, bis der Bildschirm kurz flackerte und sie hastig das Kabel einstöpselte. Die Welt außerhalb des flimmernden Monitors verlor an Bedeutung. Das Büro, die grauen U-Bahn-Fahrten, die leeren Gespräche, die sterile Wohnung – sie erschienen ihr wie die Kulisse eines fremden Lebens.

In einem älteren Video erzählte Sergio von einem einzigen Foto seines Urgroßvaters – aufgenommen wenige Jahre vor dessen Verschwinden. Die Kamera hielt auf das vergilbte Bild. Der Blick des Mannes war ernst, beinahe wachsam. „Ich frage mich oft,“ sagte Sergio leise, „ob er ahnte, dass er nie zurückkehren würde. Ich frage mich, ob er Angst hatte. Und ob jemand auf ihn gewartet hat.“

Da, ganz unvermittelt, platzte in Isabella etwas auf.

Die Tränen kamen zuerst langsam, beinahe widerwillig – doch dann brach alles hervor. Schluchzen schüttelte ihren Körper, unkontrolliert, hemmungslos. Sie lehnte sich nach vorn, vergrub das Gesicht in den Händen, die Schultern bebten, der Atem stockte. Es war kein gezielter Schmerz, eher ein Strom aus Sehnsucht, Verlust und einer tiefen, stillen Erkenntnis: dass sie selbst nie gewartet hatte. Auf niemanden. Und dass auch niemand auf sie gewartet hatte.

Sie war 28 Jahre alt und hatte es nie geschafft, länger bei jemandem zu bleiben. Immer wieder hatte sie gehofft, diesmal würde es anders werden – dass sie vielleicht endlich genug wäre, dass jemand bleiben wollte. Doch jedes Mal zerbrach etwas, bevor es wirklich ernst werden konnte. Mal hatte man ihr gesagt, sie sei zu langweilig, zu festgefahren in ihren Gewohnheiten, mal war sie angeblich nicht spontan genug. Sogar hässlich oder dick hatte man sie genannt. Jedes dieser Worte brannte sich tief in ihr fest, ließ sie nachts an sich zweifeln und überlegte, ob sie je jemandem wirklich genügen würde. Sie fragte sich oft, ob es an ihr lag, ob sie zu wenig gab oder zu viel verlangte – und manchmal spürte sie, wie sich eine leise Angst in ihr ausbreitete, dass sie nie jemanden finden würde, der bleiben wollte.

Sie erinnerte sich an ihren ersten Freund Stephan. Sie waren nur wenige Monate zusammen gewesen, doch schon früh hatte sich ein Gefühl von Distanz eingeschlichen. Oft hatte sie seine Spontaneität und Rastlosigkeit verunsichert, während er ihre ruhige Art manchmal als Bremse empfand. Als er schließlich ging, war sie 19 Jahre alt. „Ich will keine Freundin, die innerlich eine alte Jungfrau ist. Ich will eine, die das Leben genießen kann“, hatte er gesagt. Seine Worte trafen sie unerwartet hart – als hätte er etwas in ihr offengelegt, das sie selbst kaum benennen konnte. Was meinte er damit? War sie wirklich so zurückhaltend, so anders als andere? Noch Jahre später hallte dieser Satz in ihr nach, tauchte in Momenten der Unsicherheit wieder auf und ließ sie an sich zweifeln. Die Trennung hatte sie damals tief getroffen, nicht nur wegen des Verlusts, sondern auch, weil sie das Gefühl hatte, dass ihr etwas Grundlegendes fehlte – etwas, das sie erst viel später zu suchen begann.

Sie wusste nicht, wie lange sie so saß. Vielleicht Minuten, vielleicht eine Stunde. Irgendwann versiegten die Tränen, hinterließen ein leeres, klares Gefühl – wie nach einem Gewitter. Der Bildschirm zeigte das Ende des Videos. Nebel über Bäumen. Kein Ton. Nur Stille.

Isabella atmete tief ein. Dann schloss sie langsam den Laptop. Der Morgen war nicht mehr fern. Und etwas in ihr war zum ersten Mal in Bewegung geraten.

Isabella saß immer noch an ihrem Schreibtisch, die Handflächen flach auf dem Laptop, aber ihre Gedanken liefen weiter, unaufhaltsam. Sie dachte an all die Orte, die Sergio bereiste, an all die Geschichten, die er erzählte, an das, was er suchte und fand – oder auch nicht. Und plötzlich, inmitten der Stille ihres kleinen, leeren Zimmers, war da dieses Bild in ihrem Kopf, das wie ein unwillkommener, aber faszinierender Gedanke auftauchte.

Was wäre, wenn sie Teil von Sergios Leben wäre?

Der Gedanke kam wie ein Blitz und ließ sie für einen Moment still in der Dunkelheit verharren. Sie stellte sich vor, wie es wäre, gemeinsam durch die nebligen Wälder Galiciens zu gehen, den schweren, feuchten Boden unter ihren Füßen zu spüren, die kühle Luft einzuatmen, die Geschichten zu hören, die er in den leeren Raum zwischen ihnen legte. Vielleicht wären sie zusammen durch diese alten Dörfer gewandert, hätten in den verblassten Gemäuern vergangener Zeiten die Spuren seiner Familie entdeckt. Vielleicht hätte sie sich an seiner Seite verloren und wiedergefunden, genauso wie er selbst es in seiner Suche tat. Vielleicht hätte sie seine Hand gehalten, ohne Worte – nur durch das Teilen der Erinnerung an verlorene Menschen, verlorene Zeiten.

Und dann stellte sie sich vor, wie sie nicht nur eine Freundin von Sergio wäre, sondern die Frau, mit der er sein Leben teilte. Sie hatte die Bilder von ihm gesehen, auf denen er ganz bewusst seinen Körper gezeigt hatte, den muskulösen Oberkörper und auf einem Bild war er beim Schwimmen in einem See zu sehen, nackt im Sonnenschein. Isabella atmete tiefer, als sie an das Bild dachte. Sergio war älter als sie, etwa Ende 30, aber er war attraktiv. Bisher waren die Männer in ihrem Leben anders gewesen, schlaffer, weicher. In Sergio sah sie einen völlig anderen Typus Mann.

In ihrer Vorstellung war sie nicht mehr die Frau, die durch überfüllte U-Bahn-Wagen zu einem sterilen Büro in Gelsenkirchen fuhr, nicht mehr diejenige, die nach Feierabend in einer leeren Wohnung vor einem noch leereren Fernseher saß. Sie war jemand anderes, jemand, der mit ihm in diese fremde Welt eintauchte – eine Welt voller unerzählter Geschichten und längst verblasster Spuren. Gemeinsam gingen sie durch die feuchten Nebel des Waldes, in denen jeder Schritt wie eine Reise ins Unbekannte erschien und der Boden unter ihren Füßen nach nasser Erde roch. Vielleicht begleitete sie ihn nicht nur durch die Nebel, sondern auch durch die Schatten seiner eigenen Vergangenheit, in die er sich so verzweifelt zurückzuwagen schien. Sie spürte seine Unsicherheit – das leise Zögern in seinen Bewegungen, die unausgesprochenen Fragen in seinem Blick – und ein Gedanke formte sich in ihr: Sie wollte ihm Halt geben, wollte jemand sein, bei dem er sich fallenlassen konnte. In diesem Moment, zwischen Nebel und Erinnerung, verband sie mehr als nur das Gehen; es war das stille Versprechen, füreinander da zu sein – auch dann, wenn Worte fehlten.

Wenn ein Satz hängen geblieben ist,
wenn etwas in dir nachhallt,
dann schreib es gern hier unten.
Keine Pflicht. Nur, wenn du magst.

Die nächsten Kapitel kommen
immer sonntags, wenn der Nebel noch tief hängt.

Alle Kapitel in der Übersicht →
Zur Übersicht aller Kapitel →

Eichenwald im Nebel mit Lichtstrahl

Kapitel 3 – Alltag in Grau

Vorspann

„In den geordneten Räumen ihrer Wohnung hallt Isabellas Stille lauter als jeder Fernseher. Routine tarnt die Leere – doch etwas regt sich darunter.“

« Zurück zu Kapitel 2: Alltag im Büro

Mit einem leisen Seufzer legte sie das Handy zur Seite und schloss die Augen. Der Gedanke an den Nebel, der die Straßen, die Wälder und ihre eigenen Gedanken umhüllte, ließ sie nicht mehr los. Es war der Nebel, der sie schließlich in diese neue Welt geführt hatte. Und vielleicht – dachte sie – war es der Nebel, der sie eines Tages auch wieder herausführen würde.

Isabellas Wohnung war wie ein leeres Gehäuse, das den täglichen Trott stumm erduldete. Beim Betreten wurde man von einer sauberen, aber leblosen Stille empfangen. Die Möbel hatte sie beinahe wahllos zusammengekauft, helle, einfache Holzmöbel, die in makellosem Zustand waren, aber so neutral, dass sie fast vergessen wirkten. Sie hatte ein graues Sofa gewählt, dessen Kissen ordentlich in einer Reihe lagen, die aber nie benutzt wurden. Ein glatter, glänzender Esstisch, auf dem nie ein Krümel lag, weil sie ihn immer sofort säuberte, und Stühle, die unberührt am Tisch standen. Überall war alles in schlichten Tönen – Weiß, Hellgrau und Blaugrau – als hätte ein Designer mit wenig Fantasie das Leben der Besitzerin in einem einzigen Atemzug zusammengestellt. Es sah aus wie einer dieser Instagram tauglichen Beige-Moms.

Es gab keine Farben, keine persönlichen Akzente, die dem Raum eine Seele verliehen. Keine Bilder an den Wänden, keine Karten von Orten, die sie besucht hatte, keine Fotografien von Familienmitgliedern oder Freunden. Die Wände waren nackt, bis auf einige wenige neutrale Deko-Elemente – eine minimalistische Uhr, deren Zeiger in monotoner, regelmäßiger Bewegung den unaufhörlichen Takt des Lebens maß, das irgendwann keine Bedeutung mehr hatte.

In einer Ecke stand ein schmales Bücherregal, vollgestopft mit ungelesenen Ratgebern und einem Sammelsurium an Nachschlagewerken aus dem Internet. Doch der Staub auf den Buchrücken ließ darauf schließen, dass der Platz nie für echte Literatur, sondern eher für eine Ästhetik genutzt wurde – eine, die vorgab, Wissen zu enthalten, ohne es wirklich zu begehren. Isabella beachtete weder das Regal noch seinen Inhalt.

Sie hatte auch keine Pflanzen. Haustiere waren gar nicht in ihrem Gedankenrepertoire. Es gab nichts Lebendiges, das eine Verbindung zum Raum oder zu ihr selbst herstellen konnte. Die Luft war immer frisch, beinahe zu frisch, aber es war die Kälte eines Raumes, der nie in Besitz genommen wurde. Kein Duft von etwas Gebackenem, keine Kerzen, kein frisch gewaschener Duft, der von der Wäsche der Woche ausgeht. Alles war so akkurat, so ordentlich, dass es beinahe unangenehm wirkte. Der Raum hatte keine Geschichte, kein Leben. Alles, was sie an Erinnerungen mitbrachte, trug sie in ihrem Inneren und verschloss es in der Leere des Raumes.

Die Küche, die an den Wohnbereich angrenzte, war genauso unpersönlich. Ein kleiner Tisch, der eher funktional als einladend wirkte, umringt von vier ebenso wenig bequemen Stühlen. Der Kühlschrank summte leise vor sich hin, und die Regale waren mit durchsichtigen Plastikbehältern und neutralen Gläsern gefüllt – keine Marmelade im Glas von der Tante geerbt, keine Salzstreuer, die Geschichten von vergangenen Reisen erzählten. Alles war so klar und geradlinig, wie eine Bühne kurz vor dem Vorhang. Alles war für den Augenblick bereit – doch nichts war je wirklich lebendig.

Es war der perfekte Ort für Isabella, um sich zu verstecken. Um zu leben, ohne wirklich zu leben.

Isabella stand in der Küche, die leere Stille um sie herum fühlte sich fast greifbar an, während ihre Hände automatisch die Tiefkühlpizza aus dem Karton nahmen. Der Kühlschrank summte leise im Hintergrund, als sie das Plastik ablöste und die flache, runde Pizza auf das Backblech legte. Die rote Verpackung war fast das Einzige, was farbenfroher war als der Rest der Wohnung. Sie schob das Blech in den Ofen, ließ die Tür mit einem leisen Klick hinter sich zufallen und stellte den Timer auf 15 Minuten – noch eine einfache, vertraute Routine.

In der Zwischenzeit holte sie sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und goss sich ein Glas voll ein. Der Raum fühlte sich kühl an, der Boden war kalt unter ihren Füßen, als sie zurück ins Wohnzimmer ging. Der Fernseher war bereits eingeschaltet, das vertraute Rauschen von Nachrichten und Werbespots füllte den Raum, doch sie nahm es nur halb wahr. Ihr Blick streifte den Bildschirm, ohne wirklich zu sehen, was dort lief. Ihre Gedanken waren woanders, bei den Bildern von Sergio, bei seinen Geschichten und dem Wald in Galicien, bei der Sehnsucht nach etwas, das sie selbst nicht benennen konnte. Doch der Alltag hatte sie im Griff, und so musste sie sich auch weiterhin in den gewohnten Bahnen bewegen.

Als der Timer klingelte, stand sie auf und ging zurück in die Küche. Der Ofen hatte die Pizza gleichmäßig goldbraun gebacken, und ein verlockender, fettiger Duft stieg ihr in die Nase. Sie schnitt die Pizza in vier Teile, der Käse war noch blubbernd heiß, und der Teig hatte genau die richtige Konsistenz – nicht zu hart, aber auch nicht zu weich. Keine Überraschung, keine Freude. Nur Funktionalität. Es war immer das Gleiche, immer genau wie beim letzten Mal.

Mit einem Teller und einer Gabel in der Hand setzte sie sich auf das Sofa. Der Fernseher plärrte weiter, aber sie achtete nicht darauf. Der erste Bissen war wie ein gewohntes, fast unangenehmes Bedürfnis. Der Geschmack war fettig, salzig, aber leer – genauso wie das Leben, das sich nach und nach in den grauen Abenden wiederholte. Sie kaute mechanisch, der Blick auf dem Bildschirm verharrend, während sie von den Nachrichten zu den Werbeunterbrechungen wechselte. Es war, als würde sie die Zeit einfach über sich ergehen lassen, ohne wirklich teilzunehmen.

Der Fernseher zeigte eine Werbung für ein neues Auto, das in jeder Hinsicht perfekt war. Das glänzende Metall, die makellosen Sitze, die durchscheinende Qualität des Bildes. Isabella fragte sich für einen Moment, ob jemand das Gefühl von Lebendigkeit erleben konnte, das der Bildschirm so deutlich vorgaukelte. Sie nahm noch einen Bissen, dann noch einen, und irgendwann war die Pizza verschwunden. Der Teller war leer, und sie stellte ihn zur Seite, ohne ihn wirklich wahrzunehmen.

Der Fernseher lief weiter. Aber Isabella saß nun einfach da, der Kopf leer, die Augen müde. Der Nebel in ihrem Geist war fast genauso wie der, den sie von Sergios Fotos kannte – ein Nebel, der sie immer wieder einhüllte, sie aber nie wirklich vorwärts führte.

Nach dem letzten Bissen der lauwarmen Pizza ließ Isabella die Gabel achtlos auf dem Teller liegen. Der Fernseher lief noch, irgendeine belanglose Casting-Show flimmerte über den Bildschirm, doch sie hörte nicht mehr hin. Etwas arbeitete in ihr. Es war ein leises Kribbeln, ein kaum greifbares Unbehagen, das sich unter der gewohnten Trägheit regte. Der Blogeintrag, den sie am Vormittag im Büro gelesen hatte – dieser neblige Waldpfad, Sergios Worte über seinen Urgroßvater – all das hatte sich wie ein kleiner Widerhaken in ihrem Innersten festgesetzt.

Abspann:
„Auch dieser Abend wird vorübergehen. Doch in Isabellas Innerem regt sich längst etwas, das sich nicht mehr wegwischen lässt — nicht einmal vom nächsten Morgen.“

Wenn ein Satz hängen geblieben ist,
wenn etwas in dir nachhallt,
dann schreib es gern hier unten.
Keine Pflicht. Nur, wenn du magst.

Die nächsten Kapitel kommen
immer sonntags, wenn der Nebel noch tief hängt.

Alle Kapitel in der Übersicht →
Zur Übersicht aller Kapitel →

Kapitel 2: Alltag im Büro

Vorspann:
Isabella hat begonnen, einen fremden Lebensweg zu entdecken – noch sitzt sie in Gelsenkirchen fest, doch ihr Herz gerät aus dem Takt. Dieses Kapitel erzählt, wie Sehnsucht zwischen grauen Häusern Wurzeln schlägt.

« Zurück zu Kapitel 1: Fundstück im Feed

Und in diesem Moment, ohne es wirklich zu begreifen, wusste Isabella, dass sie auf diesem Weg selbst mehr finden würde.

Sie klickte sich tiefer in den Blog – und las weiter. Sie fand ein anderes Foto von ihm, das ihn auf einem Felsvorsprung stehend zeigte. Es war Sommer, unter ihm ein Flusstal. Er stand da mit nacktem Oberkörper, in Jeans und Bergstiefeln, neben ihm lag ein Rucksack. Die Hände waren in den Hosentaschen vergraben. Der Wind spielte mit seinem Haar. Es war das Bild eines Mannes, der um seine Aura wusste. Sie war sich sicher, dass er das Bild ganz bewusst veröffentlich hatte. Aber wer hatte ihn fotografiert?

Der Arbeitstag war wie immer zäh und zermürbend gewesen. Die letzten Stunden schlichen dahin, als hätte die Zeit sich selbst in einen grauen Nebel gehüllt, der sie daran hinderte, voranzukommen. Als der Computer schließlich heruntergefahren wurde, fühlte Isabella sich wie eine Marionette, deren Fäden nach und nach gesenkt wurden. Sie stand auf, strich sich unbewusst über ihre Haare und packte ihre Sachen in die Tasche. Die meisten Kollegen waren schon verschwunden, die meisten Gespräche waren längst verstummt. Nur noch der Klang der entfernten Tastaturen und der flimmernde Lichtschein der Deckenlampe erinnerten daran, dass der Arbeitstag nicht wirklich zu Ende war.

Der Heimweg begann in der Straßenbahn – einem erneuten, bekannten Strom von Gesichtern, der sich in die gleichen, grauen Muster einfügte. Es war der gleiche Pendelverkehr wie jeden Abend, die gleiche Mischung aus Müdigkeit, Gedanken und der kurzen Hoffnung, dass vielleicht etwas anderes kommen würde. Sie stieg ein, fand einen freien Platz und starrte aus dem Fenster. Der Regen hatte aufgehört, doch der Himmel war immer noch von einem trüben Grau, das wie eine dicke Decke über der Stadt lag. Ein paar Lichter flimmerten durch die nassen Fenster, und der Nebel, der den Tag über tief gehangen hatte, schien sich nun auch auf den Straßen auszubreiten.

Isabella lehnte ihren Kopf an das kalte Fenster und schloss für einen Moment die Augen. Ihre Gedanken flogen zurück zu dem, was sie nachmittags entdeckt hatte: Sergio Menendez Clavero, der Reiseblogger, der sie mit einem einzigen Bild und einem einzigen Satz aus ihrer gewohnten Bahn geworfen hatte. Der Wald, der Nebel, der schmale Pfad – sie konnte die Bilder förmlich vor sich sehen, als wären sie in ihren Kopf eingebrannt. Was hatte es mit diesem Wald auf sich? Was hatte Sergio dort verloren, und was suchte er in der Geschichte seiner Familie?

Sie nahm ihr Handy aus der Tasche, die noch immer in ihrem Schoß lag, und öffnete den Instagram-Account von Sergio erneut. Noch immer war sie unsicher, was genau sie daran fesselte. War es das Bild selbst? Der geheimnisvolle, neblige Wald? Oder war es die leise, fast schüchterne Art, wie er seine Gedanken niedergeschrieben hatte? Es war, als würde dieser einfache Waldweg zu einem Symbol für all das werden, was sie selbst vermisste – ein Ziel, ein Ausbruch, eine Reise, die sie nie unternommen hatte.

Isabella scrollte weiter durch seinen Feed, las weitere Beiträge. Einige waren von seinen Reisen in entlegene Gegenden Spaniens, andere erzählten von Familiengeschichten und den Erinnerungen, die er immer wieder suchte. Sie entdeckte Fotos von ihm selbst. Er war ein Mann von etwa Ende 30, groß, schlank mit stolzer, aufrechter Haltung. Er trug das dunkelbraune, wellige Haar etwa kinnlang und schien sich einige Tage nicht rasiert zu haben. Sein Blick schien sich direkt an sie zu wenden. Sie fühlte sich fast ein bisschen wie ein Eindringling, der an jemandes intimen Gedanken teilnahm. Doch es gab keinen Weg zurück. Ihre Neugier hatte längst die Oberhand gewonnen. Sie wollte mehr wissen, wollte wissen, was ihn antreibt, warum er immer wieder zurückkehrte zu den Orten seiner Kindheit, zu den verlorenen Geschichten seines Urgroßvaters.

Die Straßenbahn bremste abrupt, und Isabella stieß fast mit ihrem Ellbogen gegen die Scheibe. Ein älterer Mann, der auf der anderen Seite des Wagens stand, grinste sie freundlich an, doch sie hatte ihn kaum bemerkt. Ihre Augen waren weiterhin auf das Handy gerichtet. Ihr Finger strich über den Bildschirm, als suchte sie etwas, das sie nicht ganz benennen konnte. Ein Gefühl von Vertrautheit, ein unbestimmtes Bedürfnis, mehr zu erfahren.

Der nächste Halt kam, und Isabella stieg aus, ließ die anderen Fahrgäste hinter sich. Ihr Heimweg führte sie durch die grauen Straßen, die sich im Dämmerlicht der späteren Stunde immer mehr in einem dunklen Schleier verloren. Ihre Gedanken waren bei Sergio, bei den Wörtern, die sie in seinem Blog gelesen hatte, bei den Erinnerungen, die in ihm wachgerufen wurden. Was hatte sie eigentlich über ihre eigene Familie gewusst? Was wusste sie über sich selbst? Ihre Mutter schwieg sich zu dem Thema aus.

Sie ging den gewohnten Weg zu ihrer Wohnung, doch heute fühlte sich alles anders an. Der Nebel, der draußen in den Straßen schwebte, schien sich auch in ihrem Kopf festzusetzen. Er verschwand nicht, sondern breitete sich aus, zog die Gedanken in eine Richtung, die sie nicht verstand. Etwas an diesem Blogger, an den Bildern und den Geschichten, hatte sie berührt. Etwas, das sie schon lange nicht mehr gespürt hatte – ein Aufbruch, eine Sehnsucht, die sie nicht wirklich erklären konnte.

Als sie ihre Wohnungstür öffnete, ging sie direkt ins Wohnzimmer, stellte ihre Tasche ab und ließ sich auf die Couch sinken. Die Stille um sie herum fühlte sich fast unangenehm an. Ihre Wohnung war leer – es gab keine Stimmen, keine Geräusche. Der einzige Begleiter war das monotone Ticken der Wanduhr, die sie sich gekauft hatte. Sie griff wieder nach ihrem Handy, öffnete erneut den Blog von Sergio und begann zu lesen.

„Wald der Kindheit“ – die Worte, die er gewählt hatte, schienen sich in ihr zu verankern. Was bedeutete dieser Wald für ihn? Was suchte er dort? Und, viel wichtiger: Was würde sie dort finden, wenn sie ihm folgte?

Isabella konnte nicht sagen, wie lange sie noch auf dem Sofa saß und las. Die Zeit schien sich um sie herum zu verlieren, als stünde sie außerhalb der Welt, die sie gekannt hatte. Der Tag war endgültig zu Ende, und trotzdem wusste sie, dass dies der Beginn von etwas war. Vielleicht einer Reise, vielleicht einer Veränderung. Sie hatte keine Ahnung, was sie suchte, aber sie wusste, dass es etwas gab, das sie finden musste.

🌿 Ausblick:

Nächsten Sonntag: Isabella wird zum ersten Mal laut aussprechen, dass sie fortwill. Noch nicht vor allen – aber vor jemandem, der sie daran erinnern wird, dass Träume Opfer brauchen.

Wenn ein Satz hängen geblieben ist,
wenn etwas in dir nachhallt,
dann schreib es gern hier unten.
Keine Pflicht. Nur, wenn du magst.

Die nächsten Kapitel kommen
immer sonntags, wenn der Nebel noch tief hängt.

Alle Kapitel in der Übersicht →
Zur Übersicht aller Kapitel →

Kapitel 1: Fundstück im Feed

Intro zum Auftakt:

Manchmal beginnt alles an einem Tag, der genauso trostlos ist wie alle anderen. Und dann kommt ein Moment, in dem man nicht weiterklickt – obwohl man es könnte.

Encina Alta – Haus aus Worten


Buch I – Akt I

Encina Alta – Haus aus Worten

Buch I

Akt I

Der Wecker klingelte wie immer um 5:30 Uhr – ein ratternder, monotoner Ton, der sich unaufhörlich durch die Dunkelheit bohrte und in Isabellas Schädel nachhallte. Neben dem Wecker summte leise die Heizung, deren trockene Luft kaum gegen die morgendliche Kälte ankam, die wie feine Nadeln über ihre bloßen Arme strich. Aus der Ferne war das dumpfe Geräusch eines vorbeifahrenden Autos zu hören, unterbrochen vom gelegentlichen Knacken der Heizungsrohre – eine Kakophonie, die den Morgen in ein leises Dröhnen hüllte.

Isabella schlug die Decke zurück, setzte sich mit einem Ruck auf und spürte, wie die kalte Luft sofort ihre Haut umfing. Sie schauderte, zog schuldbewusst die Schultern hoch und seufzte leise. Während sie auf den schwarzen Himmel starrte, der sich träge durch das Fenster schob, fühlte sie sich für einen Moment überwältigt von einer bleiernen Müdigkeit. Der Tag lag schwer auf ihr, noch ehe er begonnen hatte – ein Kampf gegen die Lustlosigkeit, die wie ein grauer Schleier auf ihr lastete. Es war ein Novembermorgen im Jahr 2024. Der Himmel war so schwer und finster, dass es unmöglich war, zwischen Himmel und Erde zu unterscheiden, und Isabella fragte sich, wie sie es schaffen sollte, sich diesem Tag erneut zu stellen.

Sie zog sich Schlappen an, die schon ausgelatscht waren, und stand auf. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich kühl und fremd an. Sie ging zur Küche, machte sich einen Kaffee, der so bitter war wie ihr Alltag. Es war der gleiche Kaffee, den sie seit Jahren trank – ohne Geschmack, aber auch ohne Überraschung. So, wie ihre Tage verliefen. Sie wechselte die Kaffeemarke nie.

Der Blick in den Spiegel bestätigte das, was sie schon längst wusste: Sie sah aus wie immer. Das mausbraune, lange Haar, das sie morgens immer hastig zusammenband, hing schwer und spröde über ihre Schultern. Die blassen Wangen wirkten, als hätte der Schlaf sie seit Wochen gemieden, und unter ihren Augen zogen sich dunkle Ränder wie Schatten eines endlosen, stillen Kampfes. Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht – die Haut fühlte sich trocken und kühl an, die Kleidung auf ihrer Haut war kratzig und eng, als wolle sie sich unsichtbar machen. Im Raum summte leise die Heizung, irgendwo knackte das alte Holz. Ein Hauch von abgestandenem Kaffee lag in der Luft. Isabella fragte sich, ob sie irgendwann wieder anders aussehen oder sich wenigstens anders fühlen würde. Für einen Moment schlich sich der Gedanke ein, ob hinter dieser fahlen Fassade noch etwas wie Lebensfreude lauerte – aber der Zweifel nagte tiefer. Sie seufzte. Sie trug die gleiche Kleidung wie immer, farblos, stillos, passend zu einer unscheinbaren, grauen Maus. Ein leises Frösteln lief ihr über den Rücken, während draußen der Wind gegen das Fenster heulte und die Einsamkeit im Raum noch greifbarer machte.

„Heute ist wieder so ein Tag“, murmelte sie zu sich selbst, während sie den Kaffeebecher in beide Hände nahm, den dampfenden Trank in die Stille ihres Morgens schlürfte. Ein kurzer Blick auf die Uhr – sie hatte noch genug Zeit, um sich zur Arbeit zu schleppen.

Isabella griff nach ihrer Tasche, schnappte sich die abgetragene Jacke, die sie immer an der gleichen Stelle hing, und trat auf die Straße. Der Wind war schneidend kalt. Ein paar vorbeieilende Passanten hüllten sich tiefer in ihre Schals, und der Rauch aus den Schornsteinen der Häuser stieg in die trübe Luft. Sie konnte den Gestank von nassem Unrat und verschimmeltem Herbstlaub fast schmecken. Es war ein typischer Novembermorgen in Gelsenkirchen. Ein Morgen, an dem sie sich selbst nicht bemerkte, genauso wenig wie die Menschen, die in der Menge an ihr vorbeigingen.

Der Weg zur Arbeit war der gleiche wie jeden Tag: die überfüllte Straßenbahn, die Enge, stickige Luft, ein ekliger Geruch, die gleichgültigen Gesichter. Ihr Blick war leer, ihre Gedanken flogen zu keinem Ziel. Die Fahrt war der gleiche, graue Übergang, der sie in das bunte Getümmel ihres Arbeitstages brachte.

Im Büro angekommen, setzte sie sich an ihren Schreibtisch. Die Tastatur klapperte, als sie die ersten E-Mails bearbeitete – wieder und wieder die gleichen, unscheinbaren Aufgaben. Ein Copy-Paste, ein „Antworten“ auf die unzähligen Anfragen. Die ständige Flut der Arbeit, die keine Ruhe ließ. Ihre Augen zuckten nach oben. Der Blick in das Großraumbüro war wie immer: Menschen, die mit dem Kopf nach unten in ihre Monitore starrten, sich in unzählige, endlose Mails verstrickten und telefonierten.

In der Kaffeeküche stand eine Gruppe Kolleginnen und plauderte, lachte. Sie hörte die Worte, die sie nicht verstand, das Lachen, das sie nicht teilte. Es war wie eine andere Welt. Eine, die nicht für sie bestimmt war. Isabella starrte auf ihren Kaffeebecher und blinzelte. Die Zeit kroch wie ein unsichtbarer Schatten.

„Was hast du am Wochenende gemacht?“ fragte ihre Kollegin Daniela, die an ihr vorbeiging, doch Isabella hörte die Frage nur verschwommen, ohne wirklich zu verstehen. Sie erwiderte nichts. Es war nicht so, dass sie keine Antwort hatte. Es war einfach, dass es nichts zu erzählen gab. Sie konnte keine Geschichte anbieten. Keine Geschichte, die jemand hören wollte.

„Nichts“, sagte sie schließlich leise, fast entschuldigend.

„Okay“, sagte Daniela mit einem Lächeln, das nicht ganz ehrlich war, aber auch nicht böse.

Isabella nickte und ließ sich wieder in ihren Stuhl sinken. Ihr Blick wanderte zu ihrem Bildschirm, aber der Text war bedeutungslos. Sie war nicht wirklich dort. Ihr Körper war hier, aber ihre Gedanken flogen weiter, hinaus, auf den grauen verregneten Himmel, der so wenig von der Welt verriet.

Es war fast schon Mittag, als sie zufällig in die Welt des Internets eintauchte. Zunächst nur ein kurzes Klickgeräusch, als ihre Finger wie immer nach dem nächsten Feed griffen – etwas Ablenkung, ein bisschen Spaß. Doch dann blieb ihr Blick hängen. Ein Bild auf Instagram, das in ihr eine unerklärliche Sehnsucht weckte.

Es war ein Foto von einem Waldweg, verwunschen, mystisch. Der Pfad war von Nebel umhüllt, die Bäume standen hoch und dicht nebeneinander, ein geheimnisvoller, feuchter Nebel zog sich durch die Äste. Es war wie ein Blick in eine andere Welt – fern und gleichzeitig vertraut. Etwas an diesem Bild berührte sie tief in ihrem Inneren.

Isabella klickte darauf und landete auf dem Profil eines Reisebloggers aus Nordspanien: Sergio Menendez Clavero. Der Name stand unter dem Foto, und unter der Bildbeschreibung las sie, wie der Blogger von einem Spaziergang als Siebenjähriger erzählte, den er damals in einem Wald in Galicien gemacht hatte.

Der Text war einfach, aber irgendwie beruhigend. Sergio schrieb über den Nebel, der in den Bäumen hing, das Gefühl von kindlicher Freiheit, das ihn durchzogen hatte, und wie er heute, als erwachsener Mann, immer wieder zu diesen Orten zurückkehrte – auf der Suche nach seiner Familiengeschichte, nach den verlorenen Erinnerungen seines Urgroßvaters, der während der Franco-Diktatur verschwunden war.

Isabella las weiter, dann blieb ihr Blick wieder an dem Foto hängen – dem schmalen Pfad, der von Nebel umhüllt war, der wie eine Metapher für etwas in ihrem eigenen Leben wirkte. Sie spürte ein tiefes Ziehen in ihrem Inneren. Vielleicht hatte sie sich nie auf den Weg gemacht, um nach ihren eigenen Wurzeln zu suchen. Vielleicht war der Nebel, der ihre eigenen Gedanken verhüllte, nur das Zeichen für eine unentdeckte Sehnsucht, nach etwas, das sie nicht benennen konnte.

Sie wollte mehr wissen. Mehr über Sergio, mehr über den Ort, an dem er seine Kindheit verbracht hatte. Über den Wald, der wie ein Symbol für das zu werden schien, was sie selbst nicht hatte. Und in diesem Moment, ohne es wirklich zu begreifen, wusste Isabella, dass sie auf diesem Weg selbst mehr finden würde.

Ausblick:

Nächsten Sonntag erfährst du, warum Isabella nicht weitergeklickt hat. Und wie aus einem simplen Kommentar eine Geschichte wird, die alles verändert.

Weiter zu Kapitel 2 »

Wenn ein Satz hängen geblieben ist,
wenn etwas in dir nachhallt,
dann schreib es gern hier unten.
Keine Pflicht. Nur, wenn du magst.

Die nächsten Kapitel kommen
immer sonntags, wenn der Nebel noch tief hängt.

Alle Kapitel in der Übersicht →
Zur Übersicht aller Kapitel →

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner