Intro zum Auftakt:

Manchmal beginnt alles an einem Tag, der genauso trostlos ist wie alle anderen. Und dann kommt ein Moment, in dem man nicht weiterklickt – obwohl man es könnte.

Encina Alta – Haus aus Worten


Buch I – Akt I

Encina Alta – Haus aus Worten

Buch I

Akt I

Der Wecker klingelte wie immer um 5:30 Uhr – ein ratternder, monotoner Ton, der sich unaufhörlich durch die Dunkelheit bohrte und in Isabellas Schädel nachhallte. Neben dem Wecker summte leise die Heizung, deren trockene Luft kaum gegen die morgendliche Kälte ankam, die wie feine Nadeln über ihre bloßen Arme strich. Aus der Ferne war das dumpfe Geräusch eines vorbeifahrenden Autos zu hören, unterbrochen vom gelegentlichen Knacken der Heizungsrohre – eine Kakophonie, die den Morgen in ein leises Dröhnen hüllte.

Isabella schlug die Decke zurück, setzte sich mit einem Ruck auf und spürte, wie die kalte Luft sofort ihre Haut umfing. Sie schauderte, zog schuldbewusst die Schultern hoch und seufzte leise. Während sie auf den schwarzen Himmel starrte, der sich träge durch das Fenster schob, fühlte sie sich für einen Moment überwältigt von einer bleiernen Müdigkeit. Der Tag lag schwer auf ihr, noch ehe er begonnen hatte – ein Kampf gegen die Lustlosigkeit, die wie ein grauer Schleier auf ihr lastete. Es war ein Novembermorgen im Jahr 2024. Der Himmel war so schwer und finster, dass es unmöglich war, zwischen Himmel und Erde zu unterscheiden, und Isabella fragte sich, wie sie es schaffen sollte, sich diesem Tag erneut zu stellen.

Sie zog sich Schlappen an, die schon ausgelatscht waren, und stand auf. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich kühl und fremd an. Sie ging zur Küche, machte sich einen Kaffee, der so bitter war wie ihr Alltag. Es war der gleiche Kaffee, den sie seit Jahren trank – ohne Geschmack, aber auch ohne Überraschung. So, wie ihre Tage verliefen. Sie wechselte die Kaffeemarke nie.

Der Blick in den Spiegel bestätigte das, was sie schon längst wusste: Sie sah aus wie immer. Das mausbraune, lange Haar, das sie morgens immer hastig zusammenband, hing schwer und spröde über ihre Schultern. Die blassen Wangen wirkten, als hätte der Schlaf sie seit Wochen gemieden, und unter ihren Augen zogen sich dunkle Ränder wie Schatten eines endlosen, stillen Kampfes. Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht – die Haut fühlte sich trocken und kühl an, die Kleidung auf ihrer Haut war kratzig und eng, als wolle sie sich unsichtbar machen. Im Raum summte leise die Heizung, irgendwo knackte das alte Holz. Ein Hauch von abgestandenem Kaffee lag in der Luft. Isabella fragte sich, ob sie irgendwann wieder anders aussehen oder sich wenigstens anders fühlen würde. Für einen Moment schlich sich der Gedanke ein, ob hinter dieser fahlen Fassade noch etwas wie Lebensfreude lauerte – aber der Zweifel nagte tiefer. Sie seufzte. Sie trug die gleiche Kleidung wie immer, farblos, stillos, passend zu einer unscheinbaren, grauen Maus. Ein leises Frösteln lief ihr über den Rücken, während draußen der Wind gegen das Fenster heulte und die Einsamkeit im Raum noch greifbarer machte.

„Heute ist wieder so ein Tag“, murmelte sie zu sich selbst, während sie den Kaffeebecher in beide Hände nahm, den dampfenden Trank in die Stille ihres Morgens schlürfte. Ein kurzer Blick auf die Uhr – sie hatte noch genug Zeit, um sich zur Arbeit zu schleppen.

Isabella griff nach ihrer Tasche, schnappte sich die abgetragene Jacke, die sie immer an der gleichen Stelle hing, und trat auf die Straße. Der Wind war schneidend kalt. Ein paar vorbeieilende Passanten hüllten sich tiefer in ihre Schals, und der Rauch aus den Schornsteinen der Häuser stieg in die trübe Luft. Sie konnte den Gestank von nassem Unrat und verschimmeltem Herbstlaub fast schmecken. Es war ein typischer Novembermorgen in Gelsenkirchen. Ein Morgen, an dem sie sich selbst nicht bemerkte, genauso wenig wie die Menschen, die in der Menge an ihr vorbeigingen.

Der Weg zur Arbeit war der gleiche wie jeden Tag: die überfüllte Straßenbahn, die Enge, stickige Luft, ein ekliger Geruch, die gleichgültigen Gesichter. Ihr Blick war leer, ihre Gedanken flogen zu keinem Ziel. Die Fahrt war der gleiche, graue Übergang, der sie in das bunte Getümmel ihres Arbeitstages brachte.

Im Büro angekommen, setzte sie sich an ihren Schreibtisch. Die Tastatur klapperte, als sie die ersten E-Mails bearbeitete – wieder und wieder die gleichen, unscheinbaren Aufgaben. Ein Copy-Paste, ein „Antworten“ auf die unzähligen Anfragen. Die ständige Flut der Arbeit, die keine Ruhe ließ. Ihre Augen zuckten nach oben. Der Blick in das Großraumbüro war wie immer: Menschen, die mit dem Kopf nach unten in ihre Monitore starrten, sich in unzählige, endlose Mails verstrickten und telefonierten.

In der Kaffeeküche stand eine Gruppe Kolleginnen und plauderte, lachte. Sie hörte die Worte, die sie nicht verstand, das Lachen, das sie nicht teilte. Es war wie eine andere Welt. Eine, die nicht für sie bestimmt war. Isabella starrte auf ihren Kaffeebecher und blinzelte. Die Zeit kroch wie ein unsichtbarer Schatten.

„Was hast du am Wochenende gemacht?“ fragte ihre Kollegin Daniela, die an ihr vorbeiging, doch Isabella hörte die Frage nur verschwommen, ohne wirklich zu verstehen. Sie erwiderte nichts. Es war nicht so, dass sie keine Antwort hatte. Es war einfach, dass es nichts zu erzählen gab. Sie konnte keine Geschichte anbieten. Keine Geschichte, die jemand hören wollte.

„Nichts“, sagte sie schließlich leise, fast entschuldigend.

„Okay“, sagte Daniela mit einem Lächeln, das nicht ganz ehrlich war, aber auch nicht böse.

Isabella nickte und ließ sich wieder in ihren Stuhl sinken. Ihr Blick wanderte zu ihrem Bildschirm, aber der Text war bedeutungslos. Sie war nicht wirklich dort. Ihr Körper war hier, aber ihre Gedanken flogen weiter, hinaus, auf den grauen verregneten Himmel, der so wenig von der Welt verriet.

Es war fast schon Mittag, als sie zufällig in die Welt des Internets eintauchte. Zunächst nur ein kurzes Klickgeräusch, als ihre Finger wie immer nach dem nächsten Feed griffen – etwas Ablenkung, ein bisschen Spaß. Doch dann blieb ihr Blick hängen. Ein Bild auf Instagram, das in ihr eine unerklärliche Sehnsucht weckte.

Es war ein Foto von einem Waldweg, verwunschen, mystisch. Der Pfad war von Nebel umhüllt, die Bäume standen hoch und dicht nebeneinander, ein geheimnisvoller, feuchter Nebel zog sich durch die Äste. Es war wie ein Blick in eine andere Welt – fern und gleichzeitig vertraut. Etwas an diesem Bild berührte sie tief in ihrem Inneren.

Isabella klickte darauf und landete auf dem Profil eines Reisebloggers aus Nordspanien: Sergio Menendez Clavero. Der Name stand unter dem Foto, und unter der Bildbeschreibung las sie, wie der Blogger von einem Spaziergang als Siebenjähriger erzählte, den er damals in einem Wald in Galicien gemacht hatte.

Der Text war einfach, aber irgendwie beruhigend. Sergio schrieb über den Nebel, der in den Bäumen hing, das Gefühl von kindlicher Freiheit, das ihn durchzogen hatte, und wie er heute, als erwachsener Mann, immer wieder zu diesen Orten zurückkehrte – auf der Suche nach seiner Familiengeschichte, nach den verlorenen Erinnerungen seines Urgroßvaters, der während der Franco-Diktatur verschwunden war.

Isabella las weiter, dann blieb ihr Blick wieder an dem Foto hängen – dem schmalen Pfad, der von Nebel umhüllt war, der wie eine Metapher für etwas in ihrem eigenen Leben wirkte. Sie spürte ein tiefes Ziehen in ihrem Inneren. Vielleicht hatte sie sich nie auf den Weg gemacht, um nach ihren eigenen Wurzeln zu suchen. Vielleicht war der Nebel, der ihre eigenen Gedanken verhüllte, nur das Zeichen für eine unentdeckte Sehnsucht, nach etwas, das sie nicht benennen konnte.

Sie wollte mehr wissen. Mehr über Sergio, mehr über den Ort, an dem er seine Kindheit verbracht hatte. Über den Wald, der wie ein Symbol für das zu werden schien, was sie selbst nicht hatte. Und in diesem Moment, ohne es wirklich zu begreifen, wusste Isabella, dass sie auf diesem Weg selbst mehr finden würde.

Ausblick:

Nächsten Sonntag erfährst du, warum Isabella nicht weitergeklickt hat. Und wie aus einem simplen Kommentar eine Geschichte wird, die alles verändert.

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wenn etwas in dir nachhallt,
dann schreib es gern hier unten.
Keine Pflicht. Nur, wenn du magst.

Die nächsten Kapitel kommen
immer sonntags, wenn der Nebel noch tief hängt.

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Von Andrea Baer

Ich lebe in diesem Haus aus Worten und baue es Buchstabe für Buchstabe.

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