Sergio und Isabella stehen vor dem verfallenen Haus von Sergios Urgroßvater. Die Wände sind von Efeu überwuchert. Die Stimmung ist bedrückend.

Vorspann

Der Weg führt Isabella und Sergio zu einem Ort, der mehr als nur Steine und Mauern birgt. In den Schatten eines alten Hauses begegnet Sergio nicht nur der Geschichte seiner Familie – sondern auch der eigenen.

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Das Haus der Erinnerungen

Die Sonne war schon tief hinter den Hügeln verschwunden, als sie das verlassene Dorf hinter sich ließen und einen weiteren schmalen, von Bäumen gesäumten Weg entlanggingen. Der Nebel, der sich langsam von den Hügeln herabzog, verhüllte die Landschaft in ein fast magisches Licht. Sergio führte sie an der Hand, den Blick fest auf den Boden gerichtet, als ob er dem nächsten Schritt eine besondere Bedeutung beimessen wollte.

„Es ist nur noch ein Stück weiter“, sagte er, seine Stimme klang leise, aber entschlossen. „Ich spüre es.“

Isabella nickte, ohne ein Wort zu sagen. Sie wusste, dass dieser Moment für Sergio mehr war als nur eine Reise zu einem verlassenen Ort. Es war eine Reise zu seinen Wurzeln, eine Suche nach etwas, das er in den Jahren zuvor verloren geglaubt hatte. Und sie wusste, dass sie nicht nur als Beobachterin hier war, sondern als eine stille Begleiterin auf seinem Weg.

Der Pfad führte sie weiter, vorbei an verwitterten Zäunen und zerfallenen Mauern, bis sie schließlich an einem Tor ankamen, das von Efeu überwuchert war. Es war alt, fast so alt wie die Erinnerungen, die er suchte. Und als sie es öffneten, standen sie vor einem großen, einst prachtvollen Haus, das jetzt in den Schatten der Zeit getaucht war.

Sergios Atem stockte. Die Augen weiteten sich, als er das Gebäude erblickte, das mehr für ihn bedeutete, als Worte je ausdrücken könnten. Das Haus war von außen gezeichnet von den Jahren des Verfalls, doch in ihm war immer noch die Präsenz der Vergangenheit spürbar. Die großen Fenster waren verschlossen, und die Holztür hing schief in den Angeln. Doch es war immer noch das gleiche Haus, in dem sein Urgroßvater, von dem er nie wirklich etwas erfahren hatte, vielleicht zum letzten Mal gelebt hatte.

„Das ist es“, flüsterte er, fast wie in einem Gebet. „Das war das Haus meiner Familie.“

Isabella spürte die Schwere seiner Worte und trat langsam neben ihn. Sie konnte förmlich die Stille spüren, die das Haus umgab, als ob es selbst auf das wiederkehrende Leben wartete, das es einst beherbergt hatte.

„Es ist… beeindruckend“, sagte Isabella leise, während sie die Fassade betrachtete. „Es hat etwas… altes, aber auch schönes an sich.“

„Ja“, antwortete Sergio, während er einen Schritt nähertrat. „Es ist das letzte Überbleibsel meiner Familie aus dieser Zeit. Alles andere ist verloren gegangen.“

Er legte eine Hand auf das alte Holz der Tür, als wollte er den Kontakt zur Vergangenheit aufnehmen. Der kalte, brüchige Eindruck der Tür war der einzige sichtbare Beweis für die Jahre, die vergangen waren. Aber in Sergio wuchs etwas, das er in sich selbst nie ganz greifen konnte – eine Sehnsucht, die so stark war, dass sie wie eine Welle über ihn hinwegrollte.

„Mein Urgroßvater…“, sagte er, ohne den Blick vom Haus abzuwenden. „Er war ein starker Mann, aber auch ein gebrochener. Ich habe nie wirklich verstanden, was damals passiert ist. Warum er verschwunden ist. Was er durchgemacht hat…“

Isabella spürte, wie sich eine Welle der Trauer in seiner Stimme regte, die sie tief berührte. Sie wollte ihn in diesem Moment nicht unterbrechen. Sie wollte einfach da sein. Es war nicht ihre Aufgabe, Antworten zu finden, sondern ihm den Raum zu geben, seine eigene Wahrheit zu finden.

„Vielleicht war er einfach ein Mann seiner Zeit“, sagte sie schließlich, als sie sich neben ihm stellte. „Ein Mann, der in einem Land lebte, das von so vielen Dunkelheiten geprägt war. Vielleicht hatte er nie die Chance, seine Geschichte zu erzählen.“

Sergio drehte sich zu ihr und sah sie mit einem Blick an, der sowohl Dankbarkeit als auch tiefe Erschöpfung widerspiegelte. „Ich weiß, dass er viele Geheimnisse hatte. Aber jetzt, an diesem Ort, kann ich… vielleicht ein kleines Stück von ihm begreifen.“

Er trat weiter vor und öffnete vorsichtig die Tür, die mit einem Knarren nachgab. Es war, als öffnete sich ein Kapitel der Vergangenheit, das so lange verschlossen gewesen war. Isabella folgte ihm, als er in das dunkle Innere des Hauses trat. Der Staub und die vergilbten Möbelstücke ließen den Raum noch mehr wie ein Relikt der Vergangenheit wirken, als hätten sich die Dinge nicht verändert, nur die Zeit selbst sei stillgestanden.

Sergio ging langsam durch die Räume, die sich in Dunkelheit hüllten. In einem der Zimmer fand er alte Möbel, die in einem staubigen Dämmerlicht standen, ihre Konturen von der Zeit verwischt. Doch er schien sich nicht zu stören. Langsam ging er auf den Kamin zu und legte eine Hand auf den alten Stein, als würde er ein längst vergessenes Geheimnis fühlen.

„Hier…“, sagte er, „hier ist er gewesen. Mein Urgroßvater. Wahrscheinlich hat er hier gesessen, das Feuer beobachtet, die Stille ertragen.“

Isabella konnte den Schmerz und die Erleichterung in seiner Stimme hören. Es war, als würde er in diesem Moment die Jahre der Ungewissheit und das Schweigen seiner Familie in einem einzigen Atemzug loslassen.

„Vielleicht habe ich nie die richtigen Antworten gefunden“, sagte er leise, „aber vielleicht reicht es, den Ort zu finden, an dem er seine letzten Jahre verbracht hat. Hier kann ich ihm wenigstens ein Stück näherkommen.“

Er atmete tief ein, als ob er einen Teil von sich selbst in diesem Raum zurückließ. Isabella trat vorsichtig an ihn heran und legte ihre Hand auf seinen Arm.

„Du bist hier, Sergio“, sagte sie leise. „Das ist, was zählt. Du hast ihn nicht vergessen.“

Sergio nickte, doch es war, als würde ihm erst jetzt klar werden, dass er hier nicht nur etwas über seinen Urgroßvater erfahren hatte, sondern auch über sich selbst. In diesem alten Haus fand er nicht nur die Spuren der Vergangenheit, sondern auch die Bedeutung seiner eigenen Reise. Und vielleicht, dachte er, war das die Antwort, die er gesucht hatte – nicht nur auf die Fragen zu seiner Familie, sondern auch auf die Frage, wer er wirklich war.

Es war der Beginn von etwas, das er nicht sofort verstehen konnte, aber in diesem Moment wusste er, dass er auf dem richtigen Weg war.

„Es fühlt sich gut an, hier zu sein“, sagte er schließlich, als er den Raum ein letztes Mal absuchte. „Es fühlt sich an, als ob ich wieder ein Stück von mir selbst gefunden habe.“

Isabella nickte, verstand, und gemeinsam verließen sie das alte Haus. Doch es war nicht nur das Verlassen eines Gebäudes. Es war der Abschluss eines Kapitels und der Beginn eines neuen.

Die Rastlosigkeit

Die Sonne war mittlerweile hinter den Hügeln verschwunden, und die letzten Reste des Tageslichts verschwammen zu einem tiefen Blau. Der Nebel, der an diesem Abend auf den Hügeln lag, schien die Welt in eine sanfte, fast unwirkliche Stille zu hüllen. Isabella und Sergio standen in einem kleinen Café in einem abgelegenen Dorf, die Tassen vor sich dampfend, doch das Gespräch zwischen ihnen war spürbar nicht so leicht und unbeschwert wie sonst. Etwas lag in der Luft, etwas, das Isabella nicht länger ignorieren konnte.

Sergio hatte einen langen Tag hinter sich. Der Besuch des alten Hauses seiner Familie hatte ihn emotional aufgewühlt, und trotz seiner Erleichterung war die rastlose Unruhe in ihm noch immer präsent. Es war diese Unruhe, die Isabella seit Tagen beobachtet hatte – ein ständiges Hin- und Her, ein Suchen, das niemals zu einem Ziel schien zu führen. Es war, als ob er niemals ankommen konnte. Sie hatte ihm bisher nie direkt die Frage gestellt, die ihr immer wieder durch den Kopf ging. Doch heute, in diesem Moment, konnte sie es nicht mehr länger für sich behalten.

„Sergio“, begann sie vorsichtig und ließ ihre Tasse stehen, „ich habe etwas bemerkt…“

Er sah sie an, seine Augen ein bisschen müde, aber auch aufmerksam. „Was meinst du?“

„Du gehst immer weiter“, sagte sie, ihre Stimme ruhig, aber fest. „Du gehst von einem Ort zum nächsten, von einer Erinnerung zur nächsten, von einer Geschichte zur anderen. Aber immer, wenn du etwas zu finden scheinst, gehst du weiter, ohne wirklich zu bleiben. Es ist, als ob du nie irgendwo ankommen willst.“

Sergio starrte auf seine Tasse, die er jetzt in seinen Händen drehte, als könnte er die Antwort in der dampfenden Oberfläche des Tees finden. „Ich…“, begann er, doch die Worte zögerten. „Ich weiß nicht. Es gibt so viele Dinge, die ich nicht verstehe. Und je mehr ich versuche, sie zu verstehen, desto mehr fühle ich mich verloren. Aber es ist… es ist diese Unruhe, diese… rastlose Suche, die mich antreibt. Vielleicht finde ich irgendwann einen Ort, an dem ich mich wirklich zu Hause fühlen kann, aber bis dahin… bleibe ich in Bewegung.“

Isabella lehnte sich leicht vor, ihre Hände auf dem Tisch gefaltet. „Aber vielleicht ist das das Problem, Sergio“, sagte sie leise. „Vielleicht bist du die ganze Zeit auf der Flucht vor etwas, das du wirklich fühlen müsstest. Du suchst Antworten, aber du gibst dir selbst keine Zeit, sie zu finden. Du lässt dich nicht auf die Orte, die Menschen und die Geschichten ein, mit denen du dich beschäftigst. Du bewegst dich immer weiter, immer schneller, aber…“

„Was?“, unterbrach er sie, und seine Stimme klang rauer, als er beabsichtigt hatte.

„Vielleicht bist du einfach zu ängstlich, wirklich anzukommen“, sagte sie mit einem Blick, der ihn durchdrang. „Zu ängstlich, dich auf das einzulassen, was du findest, weil du Angst hast, dass es nicht genug ist. Oder vielleicht, weil du dir nicht erlaubst, dich selbst in dem zu sehen, was du suchst.“

Sergio schwieg. Er starrte auf seine Tasse, doch die Worte, die Isabella gesagt hatte, hallten in ihm nach, wie ein Echo, das er nicht mehr ignorieren konnte. Sie hatte recht – er hatte sich nie wirklich mit dem, was er gefunden hatte, auseinandergesetzt. Er hatte immer weitergesucht, ohne je wirklich zu bleiben, aus Angst, dass die Antworten nicht ausreichten, um den leeren Raum in ihm zu füllen.

„Vielleicht hast du recht“, sagte er schließlich, seine Stimme kaum hörbar. „Ich… ich habe nie wirklich die Zeit genommen, mich mit den Dingen auseinanderzusetzen. Ich bin immer weitergezogen, ohne wirklich zu bleiben.“

„Warum?“ fragte Isabella, ihre Stimme sanft. „Warum hast du nie innegehalten?“

Er seufzte tief, und als er den Blick hob, lag etwas in seinen Augen, das sie noch nie zuvor gesehen hatte – ein Moment der Verletzlichkeit, der ihn entblößte, als er in die Weite des Raums sah.

„Weil ich nicht wusste, wie ich mit all dem umgehen soll“, sagte er, fast entschuldigend. „Mit all den Geschichten, die mich belasten. Mit den Erinnerungen, die sich in mir festgesetzt haben, ohne dass ich sie jemals wirklich verstehen konnte. Ich habe immer geglaubt, dass ich nur weiter gehen muss, dass es irgendwann einen Moment geben wird, in dem alles einen Sinn macht. Aber vielleicht ist das nicht der Weg. Vielleicht muss ich mal anhalten. Vielleicht muss ich mich mit dem auseinandersetzen, was ich gefunden habe. Und vielleicht… vielleicht muss ich mir selbst erlauben, nicht mehr auf der Flucht zu sein.“

Isabella sah ihn an, ihre Augen weich und verständnisvoll. Sie hatte ihn nie zuvor so offen und verletzlich gesehen. Es war, als hätte er endlich einen Teil von sich selbst erkannt, der lange im Schatten verborgen war. Vielleicht war es der erste Schritt in eine Richtung, die er immer vermieden hatte.

„Und was ist, wenn du ankommst, Sergio? Was ist, wenn du dir erlaubst, zu bleiben?“ fragte sie leise.

Er sah sie an, und für einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen. Doch es war keine unangenehme Stille – es war eine Stille der Erkenntnis. Vielleicht war es der Moment, in dem er sich entschloss, nicht mehr zu fliehen.

„Vielleicht“, sagte er schließlich, „ist es Zeit, dass ich wirklich ankomme. In meinem Leben. In meiner Geschichte. Und vielleicht… vielleicht auch bei dir.“

Isabella spürte, wie sich etwas in ihr veränderte, ein kleines, aber bedeutendes Stück. Der Weg, den sie beide gemeinsam eingeschlagen hatten, war noch nicht zu Ende, doch in diesem Augenblick schien es, als ob sie zum ersten Mal in all der Zeit, in der sie einander begegnet waren, einen Moment des wirklichen Verstehens fanden.

Abspann

Zwischen Vergangenheit und Gegenwart öffnet sich für Sergio ein neuer Raum der Erkenntnis. Die Rastlosigkeit weicht einem stillen Innehalten, und vielleicht beginnt hier das, was man Ankommen nennt.

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Von Andrea Baer

Ich lebe in diesem Haus aus Worten und baue es Buchstabe für Buchstabe.

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