Vorspann
Sergio, irgendwo in Portugal, mitten in der Nacht. Ein Bildschirm leuchtet. Ein Satz trifft. Und plötzlich ist alles wieder da.
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Sergios Entdeckung
Es war spät in der Nacht, als Sergio durch seinen Feed scrollte. Die Welt draußen schlief, aber in ihm rumorte etwas – eine Unruhe, die selbst in der Dunkelheit nicht zur Ruhe kam. Er hatte sich wieder auf Reisen begeben, war durch Portugal gewandert, hatte in kleinen Herbergen übernachtet, Dörfer fotografiert, Gassen beschrieben, Geschichten gesammelt. Doch mit jedem Schritt, mit jeder neuen Stadt, wurde das Gefühl von Bewegung mehr zur Ausrede; ein scheinbares Vorwärts, das ihn nur im Kreis führte. Die Erinnerung an Isabella, an das, was unausgesprochen zwischen ihnen geblieben war, ließ ihn nicht los. Immer wieder fragte er sich, ob er durch das ständige Weiterziehen dem eigentlichen Problem entkommen wollte – oder ob er einfach nicht wusste, wie man ankommt. In jener Nacht lag ein Gedanke schwer auf seinem Herzen: Vielleicht war es nicht der Weg, der ihm fehlte, sondern der Mut, stehenzubleiben und sich dem eigenen Schweigen zu stellen.
Dann hielt er inne.
Er saß am Fenster, den Laptop auf den Knien, die Nacht draußen still und schwer, als er zögernd die Seite aufrief. Ein Link. Ein Beitrag. Der Titel: „Rückkehr in das Schweigen“. Die Seite kannte er – Isabellas Blog. Er hatte ihn seit Monaten nicht mehr besucht. Vielleicht, weil er Angst davor hatte, sich in ihren Worten zu verlieren. Oder weil er wusste, dass sie inzwischen ohne ihn weiterging. Ihr letzter gemeinsamer Abend, als sie schweigend durch die engen Gassen liefen und ihre Hände sich nur kurz berührten, flackerte in seinen Gedanken auf. Damals hatte er gehofft, dass sie bleiben würde, obwohl er sich nicht traute, es auszusprechen. Nun fühlte er das alte Ziehen in der Brust – ein Gemisch aus Sehnsucht und Bedauern, das ihn immer wieder zu ihren Zeilen zurückzog, selbst wenn er wusste, dass ihre Welt nun eine andere war als seine.
Er klickte.
Der erste Satz traf ihn wie ein Stich:
„Ich habe den Ort wiedergefunden. Nicht auf der Landkarte – sondern in mir.“
Er las. Langsam, konzentriert. Eine KI übersetze den Text. Sie beschrieb ihre Ankunft, die kleinen Dinge – das Sonnenlicht, das durch die Bäume fiel, die Frau mit dem krummen Rücken am Marktplatz, den Geruch des Regens auf altem Stein. Nichts Spektakuläres. Aber echt. So echt, dass es ihn fast körperlich traf.
Und dann sah er es: Ein Bild. Unverkennbar. Der Waldweg. Der neblige Pfad, den er als Kind mit seinem Großvater gegangen war. Den er fotografiert, beschrieben, immer wieder aufgerufen hatte – als Erinnerung, als Sehnsuchtsort. Jetzt stand sie dort. Im gleichen Licht. Im gleichen Moment.
Ein Teil von ihm fühlte sich ertappt. Ein anderer – tief, ruhig, ehrlich – fühlte sich gesehen.
Er schloss den Laptop. Lehnte sich zurück. Und sagte leise in die Dunkelheit:
„Sie ist zurück.“
Sergio saß noch lange da, nachdem der Bildschirm dunkel geworden war. Die Stille legte sich wie ein schwerer Mantel um ihn, und die Worte aus Isabellas Beitrag hallten in ihm nach wie ein Echo aus einem tiefen Raum. Vor seinem inneren Auge tauchten Erinnerungen auf: Wie Isabella früher an sich gezweifelt hatte, unsicher und suchend. Jetzt aber klangen ihre Zeilen so ruhig und klar, fast unerschütterlich. Das machte es ihm besonders schwer – sie war nicht zu ihm zurückgekehrt, sondern zu sich selbst. Und gerade dieses neue, sichere Leuchten in ihren Worten ließ ihn spüren, wie weit sie von ihm entfernt war.
Er ging in der Küche auf und ab. Öffnete den Kühlschrank, schloss ihn wieder. Setzte sich, stand wieder auf. Wie oft hatte er sich eingeredet, dass es besser war, sie gehen zu lassen? Dass sie ihn sonst irgendwann verlassen würde – so wie andere vorher. Dass Nähe gefährlich war. Ein trügerisches Versprechen.
Aber jetzt? Jetzt war da diese Ahnung, dass er nicht noch einmal schweigen durfte.
Sein Blick fiel auf die alte Postkarte, die seit Monaten unbeachtet an der Pinnwand hing. Darauf ein Zitat:
„Wenn du jemanden liebst, lass ihn frei. Kommt er zurück, gehört er dir vielleicht nie – aber du wirst wissen, dass es echt war.“
Er öffnete den Laptop erneut. Rief ihren Blog auf. Der Cursor blinkte im Kommentarfenster. Er tippte – und löschte. Atmete tief durch. Dann klickte er auf „Kontakt“. Eine E-Mail.
Er schrieb:
Isabella,
Ich habe deinen Beitrag gelesen. Vielleicht zehnmal. Ich weiß nicht, ob ich ein Recht habe, mich zu melden. Aber ich tue es trotzdem.
…
Du hast etwas in mir berührt, das ich lange versteckt habe. Und ja – ich hatte Angst. Vor dir, vor dem, was du in mir gesehen hast. Und davor, dass ich dir nicht geben kann, was du verdienst.
Aber ich sehe dich. Und ich vermisse dich.
S.
Er las sie ein letztes Mal. Zögerte. Dann klickte er auf „Senden“.
Zwischen Nacht und Morgen, in dieser schweigsamen Stunde, legte sich eine seltsame Leichtigkeit auf ihn. Es war keine Hoffnung, wie er sie kannte – eher ein leises Aufatmen, das in der Stille Raum bekam. Zum ersten Mal hatte er nicht den Impuls zu fliehen; zum ersten Mal blieb er einfach da.
Abspann
Wenn ein Satz hängen geblieben ist, wenn etwas in dir nachhallt, dann schreib es gern hier unten. Keine Pflicht. Nur, wenn du magst.
Das nächste Kapitel kommt nächsten Sonntag, wenn der Nebel noch tief hängt.
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