Bonus

Ein Wanderer steht auf einem Bergpfad und blickt einem einzelnen Wolf entgegen, der wenige Meter entfernt den Weg versperrt. Dramatisches Licht, felsige Landschaft, gespannte Atmosphäre.

Wolf von Aragón

Der Wolf von Aragón
Knapp unterhalb der französischen Grenze lag ein Tal, das kaum noch jemand betrat. Der Pfad war überwuchert, der Wind roch nach Wacholder und feuchtem Stein. Sergio ging langsam, nicht wegen der Steigung, sondern weil hier jede Bewegung wie ein Eingriff wirkte – als müsste man um Erlaubnis bitten, weiterzugehen.

Zwischen den Büschen tauchten Grundmauern auf, so niedrig, dass man sie für zufällig liegende Steine halten konnte. Reste von Terrassenfeldern, längst vom Ginster zurückerobert. Eine Bruchstelle in einer Mauer trug noch einen Schriftzug, halb von Moos verdeckt: Sanluz de Montarroyo.

Er stand eine Weile davor, las die Buchstaben, als könnte das allein etwas zurückholen. Da knackte es im Unterholz. Sergio hob den Kopf – und sah ihn: einen Wolf, grau, mager, reglos, die Augen auf ihn gerichtet. Für einen Moment war die Welt still, nur Wind im Wacholder. Kein Knurren, kein Fliehen, nur dieses unergründliche Ansehen, als hätte das Tier entschieden, ihn zu prüfen. Dann wandte es sich ab, verschwand zwischen den Steinen, als wäre es nie da gewesen.

In seiner Familie hatte man ihn manchmal den „Wolf von Aragón“ genannt – halb spöttisch, halb ehrfürchtig. Nun war er sich nicht sicher, ob der Name ihn gefunden hatte oder er den Namen.

Plötzlich fiel ihm ein alter Schlüssel ein – verrostet, längst unbrauchbar. Als Kind hatte er ihn oft in den Händen gedreht, während sein Großvater ihm Geschichten erzählte: dass dieser Schlüssel einst zu einer Kapellentür gehört habe. Dass er, Sergio, der Nachkomme eines tapferen Ritters sei, der eine arabische Prinzessin geheiratet und eben jene Kapelle gebaut habe.

Manchmal, wenn er älter war, fragte er sich, ob sein Großvater die Geschichte selbst geglaubt hatte – oder ob sie nur eine hübsche Erfindung war, um einen rostigen Schlüssel zu retten. Aber als Junge hatte er nicht gefragt. Er hatte einfach zugehört und die Bilder im Kopf wachsen lassen.

Er machte ein Foto – nicht für den Blog, nicht für Sponsoren. Dieses Bild gehörte nicht ins Netz. Es gehörte dorthin, wo er sich selbst noch suchte.

Auf dem Rückweg kam ihm der Gedanke, dass er hier vielleicht länger bleiben könnte. Nicht für immer, aber lang genug, um zu sehen, ob man zwischen bröckelnden Steinen und verwehten Pfaden etwas findet, das näher an Zuhause ist als jede Wohnung in der Stadt.

In seiner Familie hatte man ihn manchmal den „Wolf von Aragón“ genannt – halb spöttisch, halb anerkennend. Weil er rastlos war, schwer zu fassen, nie ganz irgendwo ankam. Ein Tier, das Spuren hinterlässt, aber sich nie zähmen lässt. Sergio lächelte kurz bei dem Gedanken. Vielleicht war es gar nicht so falsch, dass ausgerechnet er hier stehengeblieben war, an einem Ort, der sich selbst gegen das Vergessen wehrte.

Entscheidungen konnten warten.

📜 Autorenkommentar

Manche Legenden tragen mehr Gewicht als jeder Beweis.
Sergio spricht selten über diese Geschichte. Vielleicht, weil er nicht weiß, ob sie wahr ist. Vielleicht, weil er ahnt, dass es keine Rolle spielt. In seinem Leben war dieser Schlüssel immer mehr als Metall – er war ein Versprechen, das keiner einlösen musste.

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