Encina Alta

Sergio lesend mit einem Laptop im Bett in seinem Loft in Madrid

Kapitel 25 – Sie ist zurück

Vorspann

Sergio, irgendwo in Portugal, mitten in der Nacht. Ein Bildschirm leuchtet. Ein Satz trifft. Und plötzlich ist alles wieder da.

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Sergios Entdeckung

Es war spät in der Nacht, als Sergio durch seinen Feed scrollte. Die Welt draußen schlief, aber in ihm rumorte etwas – eine Unruhe, die selbst in der Dunkelheit nicht zur Ruhe kam. Er hatte sich wieder auf Reisen begeben, war durch Portugal gewandert, hatte in kleinen Herbergen übernachtet, Dörfer fotografiert, Gassen beschrieben, Geschichten gesammelt. Doch mit jedem Schritt, mit jeder neuen Stadt, wurde das Gefühl von Bewegung mehr zur Ausrede; ein scheinbares Vorwärts, das ihn nur im Kreis führte. Die Erinnerung an Isabella, an das, was unausgesprochen zwischen ihnen geblieben war, ließ ihn nicht los. Immer wieder fragte er sich, ob er durch das ständige Weiterziehen dem eigentlichen Problem entkommen wollte – oder ob er einfach nicht wusste, wie man ankommt. In jener Nacht lag ein Gedanke schwer auf seinem Herzen: Vielleicht war es nicht der Weg, der ihm fehlte, sondern der Mut, stehenzubleiben und sich dem eigenen Schweigen zu stellen.

Dann hielt er inne.

Er saß am Fenster, den Laptop auf den Knien, die Nacht draußen still und schwer, als er zögernd die Seite aufrief. Ein Link. Ein Beitrag. Der Titel: „Rückkehr in das Schweigen“. Die Seite kannte er – Isabellas Blog. Er hatte ihn seit Monaten nicht mehr besucht. Vielleicht, weil er Angst davor hatte, sich in ihren Worten zu verlieren. Oder weil er wusste, dass sie inzwischen ohne ihn weiterging. Ihr letzter gemeinsamer Abend, als sie schweigend durch die engen Gassen liefen und ihre Hände sich nur kurz berührten, flackerte in seinen Gedanken auf. Damals hatte er gehofft, dass sie bleiben würde, obwohl er sich nicht traute, es auszusprechen. Nun fühlte er das alte Ziehen in der Brust – ein Gemisch aus Sehnsucht und Bedauern, das ihn immer wieder zu ihren Zeilen zurückzog, selbst wenn er wusste, dass ihre Welt nun eine andere war als seine.

Er klickte.

Der erste Satz traf ihn wie ein Stich:
„Ich habe den Ort wiedergefunden. Nicht auf der Landkarte – sondern in mir.“

Er las. Langsam, konzentriert. Eine KI übersetze den Text. Sie beschrieb ihre Ankunft, die kleinen Dinge – das Sonnenlicht, das durch die Bäume fiel, die Frau mit dem krummen Rücken am Marktplatz, den Geruch des Regens auf altem Stein. Nichts Spektakuläres. Aber echt. So echt, dass es ihn fast körperlich traf.

Und dann sah er es: Ein Bild. Unverkennbar. Der Waldweg. Der neblige Pfad, den er als Kind mit seinem Großvater gegangen war. Den er fotografiert, beschrieben, immer wieder aufgerufen hatte – als Erinnerung, als Sehnsuchtsort. Jetzt stand sie dort. Im gleichen Licht. Im gleichen Moment.

Ein Teil von ihm fühlte sich ertappt. Ein anderer – tief, ruhig, ehrlich – fühlte sich gesehen.

Er schloss den Laptop. Lehnte sich zurück. Und sagte leise in die Dunkelheit:

„Sie ist zurück.“

Sergio saß noch lange da, nachdem der Bildschirm dunkel geworden war. Die Stille legte sich wie ein schwerer Mantel um ihn, und die Worte aus Isabellas Beitrag hallten in ihm nach wie ein Echo aus einem tiefen Raum. Vor seinem inneren Auge tauchten Erinnerungen auf: Wie Isabella früher an sich gezweifelt hatte, unsicher und suchend. Jetzt aber klangen ihre Zeilen so ruhig und klar, fast unerschütterlich. Das machte es ihm besonders schwer – sie war nicht zu ihm zurückgekehrt, sondern zu sich selbst. Und gerade dieses neue, sichere Leuchten in ihren Worten ließ ihn spüren, wie weit sie von ihm entfernt war.

Er ging in der Küche auf und ab. Öffnete den Kühlschrank, schloss ihn wieder. Setzte sich, stand wieder auf. Wie oft hatte er sich eingeredet, dass es besser war, sie gehen zu lassen? Dass sie ihn sonst irgendwann verlassen würde – so wie andere vorher. Dass Nähe gefährlich war. Ein trügerisches Versprechen.

Aber jetzt? Jetzt war da diese Ahnung, dass er nicht noch einmal schweigen durfte.

Sein Blick fiel auf die alte Postkarte, die seit Monaten unbeachtet an der Pinnwand hing. Darauf ein Zitat:
„Wenn du jemanden liebst, lass ihn frei. Kommt er zurück, gehört er dir vielleicht nie – aber du wirst wissen, dass es echt war.“

Er öffnete den Laptop erneut. Rief ihren Blog auf. Der Cursor blinkte im Kommentarfenster. Er tippte – und löschte. Atmete tief durch. Dann klickte er auf „Kontakt“. Eine E-Mail.

Er schrieb:

Isabella,
Ich habe deinen Beitrag gelesen. Vielleicht zehnmal. Ich weiß nicht, ob ich ein Recht habe, mich zu melden. Aber ich tue es trotzdem.


Du hast etwas in mir berührt, das ich lange versteckt habe. Und ja – ich hatte Angst. Vor dir, vor dem, was du in mir gesehen hast. Und davor, dass ich dir nicht geben kann, was du verdienst.
Aber ich sehe dich. Und ich vermisse dich.
S.

Er las sie ein letztes Mal. Zögerte. Dann klickte er auf „Senden“.

Zwischen Nacht und Morgen, in dieser schweigsamen Stunde, legte sich eine seltsame Leichtigkeit auf ihn. Es war keine Hoffnung, wie er sie kannte – eher ein leises Aufatmen, das in der Stille Raum bekam. Zum ersten Mal hatte er nicht den Impuls zu fliehen; zum ersten Mal blieb er einfach da.

Abspann

Wenn ein Satz hängen geblieben ist, wenn etwas in dir nachhallt, dann schreib es gern hier unten. Keine Pflicht. Nur, wenn du magst.

Das nächste Kapitel kommt nächsten Sonntag, wenn der Nebel noch tief hängt.

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Ein kleiner Bahnhof irgendwo in Galizien

Kapitel 24 – Der Weg zurück

Vorspann
Ein Jahr nach dem Abschied spürt Sergio noch immer die Stille, die Isabella hinterlassen hat. Während er sich einredet, frei zu sein, wächst in ihm eine Leere, die sich nicht abschütteln lässt.
Isabella hingegen kehrt zurück nach Galicien – an jenen kleinen, unscheinbaren Ort, der ihr zum ersten Mal echte Ruhe geschenkt hat. Und während sie die vertrauten Wege erneut betritt, spürt sie, dass sich etwas in ihr verändert hat. Vielleicht beginnt hier ein neuer Abschnitt. Vielleicht beginnt hier ihr eigenes Leben.

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Er redete sich ein, dass es vorbei war, dass er frei war. Doch irgendetwas fehlte. Vielleicht war es die Stille, die nach ihr geblieben war. In dieser Stille, zwischen den Stimmen, die ihn tagsüber umgaben und den Bildern, die er nachts betrachtete, spürte Sergio eine Leere, die sich nicht mit neuen Begegnungen oder flüchtigen Erfolgen füllen ließ. Es war, als ob jeder Tag ihn weiter von dem entfernte, was einmal Bedeutung gehabt hatte. Und während die Welt draußen unaufhaltsam weiterrollte, wurde ihm klar, dass die Erinnerungen zwar blass wurden, aber die Sehnsucht nach etwas Echtem, etwas Tiefem, mit jedem Sonnenuntergang leiser und zugleich stärker in ihm nachhallte. In solchen Momenten, wenn die Stadt im Dunkel versank und das Mondlicht durch die Fenster fiel, spürte er, dass die Geschichte mit Isabella nicht wirklich zu Ende war – nicht in seinen Gedanken, nicht in seinem Herzen. Er wusste, dass er sich noch nicht von dem verabschiedet hatte, was sie für ihn bedeutet hatte, auch wenn er es sich immer wieder einzureden versuchte.

Ein Jahr war vergangen, seit Isabella den Flieger aus Santiago zurück nach Deutschland genommen hatte. Jetzt stand sie wieder dort – auf dem Bahnsteig eines kleinen, sonnenbeschienenen Bahnhofs irgendwo in Galicien. Der Zug war weitergerollt, das metallische Rattern verklang, doch in der Stille hallte noch ein leises Echo nach. Um sie herum nur goldenes Licht, das durch die frisch ergrünten Bäume fiel, der Duft von feuchtem Moos und warmer Erde, vermischt mit einem Hauch von wildem Ginster. In der Ferne zirpten Grillen; ein einzelner Vogel stimmte sein Lied an, während ein schwacher Wind die Blätter rascheln ließ. Die erste Ahnung von Sommer lag in der Luft – nicht nur als Wärme auf der Haut, sondern als ein Versprechen, das jedes Geräusch, jeder Geruch begleiteten. In diesem Moment spürte Isabella eine eigentümliche Ruhe, aber auch ein leises Kribbeln unter der Oberfläche: Was hatte sich in diesem Jahr verändert? Und warum war sie zurückgekehrt?

Und so betrat sie den kleinen Bahnhofsvorplatz, spürte den festen Boden unter den Sohlen und sah, wie das Licht des Nachmittags lange Schatten auf das Pflaster warf. Es war nicht mehr das Gefühl, irgendwo anzukommen, sondern das stille Wissen, angekommen zu sein – in diesem Moment, an diesem Ort, mit sich selbst. Die Stimmen und Geräusche des Dorfes umgaben sie wie ein leiser Chor, vertraut, aber nicht vereinnahmend. Sie blickte auf, sah die Kastanienbäume, das Leben, das weiterging, und merkte, wie sich in ihr eine leise Zuversicht ausbreitete, dass all das, was gewesen war, nun Teil von ihr war – nicht als Last, sondern als Stärke. Der kleine Ort, zu dem sie zurückgekehrt war, war unscheinbar. Ein paar Häuser mit verblassten Fassaden, ein Café, ein Tabakladen, zwei knorrige Kastanienbäume am Kirchplatz. Nichts Besonderes – und doch genau das Richtige. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee mischte sich mit dem süßen Moder des Erdbodens, während von irgendwoher das dumpfe Klacken einer Tür und das Murmeln der Dorfbewohner durch die Luft drang. In diesem Moment, weit weg von Gelsenkirchen, von Excel-Tabellen, Neonlicht und ewiger Wiederholung, hatte sich zum ersten Mal in ihr eine leise Hoffnung auf ein anderes Leben geregt, die sie seitdem nicht mehr losließ.

Sie kannte diesen Ort vom letzten Jahr. Sie war nach der Trennung von Sergio hierhergekommen, ziellos, müde, leer. Damals war alles neu gewesen, fremd und beängstigend. Aber hier hatte sie sich zum ersten Mal getraut, allein zu sein – wirklich allein, nicht einsam. Sie hatte die Namen der Straßenschilder gelernt, das Brotmuster beim Bäcker erkannt, hatte mit Händen und Lächeln kommuniziert. Sie war langsam in das Leben eingetaucht, das leise war, aber echt.

Und jetzt – jetzt kehrte sie zurück. Nicht auf der Flucht. Nicht als Suchende. Sondern als jemand, der gewählt hatte, wohin sie gehören wollte.

Die kleine Pension, in der sie gewohnt hatte, lag noch immer am Ende der holprigen Gasse. Die Inhaberin, Señora Lucinda, erinnerte sich an sie. „Ah, la alemana tranquila – die ruhige Deutsche“, hatte sie beim Empfang gelächelt. Isabella lachte, als sie das hörte. Ja, damals war sie still gewesen. Heute war sie noch immer leise – aber mit innerer Stimme.

Sie bezog das gleiche Zimmer, öffnete die Fensterläden und atmete tief ein. Draußen raschelten die Blätter, in der Ferne bellte ein Hund, und irgendwo, ganz zart, mischte sich ein vertrauter Geruch in die Luft – feuchte Erde, Moos, Wald. Die Luft strich kühl über ihre Haut, vermischt mit einer Spur milder Frühlingswärme, während das goldene Licht der tiefstehenden Sonne durch die Fenster fiel und sanfte Muster auf den Holzboden warf. Ein Gefühl von Heimat durchströmte sie, als sie den vertrauten Duft wahrnahm. Für einen Moment schienen die Farben des Raumes intensiver, das Licht lebendig; alles war zugleich neu und bekannt, und sie spürte, wie Ruhe und ein leises Glück sich in ihr ausbreiteten.

Am Abend machte sie sich auf den Weg. Nicht aus Abenteuerlust. Sondern weil etwas in ihr wusste, wohin die Füße wollten. Der alte Pfad begann hinter der Kirche, dort, wo der Asphalt endete, und das grüne Dickicht begann. Es war derselbe Weg, den sie im Traum so oft gegangen war. Kühle Feuchtigkeit hing in der Luft, leicht und durchscheinend, als würde die Landschaft selbst atmen.

Sie betrat den Weg, der Kies knirschte unter ihren Schuhen, und jedes Geräusch war so klar, dass es fast wie Musik wirkte.

In diesem Moment war da kein Ziel. Kein Plan. Kein Sergio.

Nur sie.
Und der Weg.
Und das stille Gefühl, dass alles noch möglich war.

Abspann
Zwischen alten Wegen und neuen Entscheidungen findet Isabella einen Ort wieder, der längst Teil von ihr geworden ist. Und während Sergio noch versucht, die Stille in sich zu verstehen, beginnt sie, ihr Leben mit eigenen Schritten zu füllen.
Vielleicht kreuzen sich ihre Wege eines Tages erneut. Vielleicht gehen sie weiter auseinander.
Aber für diesen Moment zählt nur eines: Beide bewegen sich – jeder auf seinem eigenen Pfad.

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Kapitel 23 – Lebenswege

Vorspann

Sergio verliert sich im Nebel von Oviedo, Isabella findet neue Klarheit in Gelsenkirchen. Dieses Kapitel zeigt, wie unterschiedlich zwei Menschen nach dem selben Abschied weitergehen – und wie Veränderungen manchmal im Stillen beginnen.

Hier geht es zurück zu Kapitel 22 – Auf der Kippe

Sergio schloss die Tür des Apartments in Oviedo mit einem dumpfen Laut. Draußen färbte sich der Himmel über Asturien rosa und grau – diese Art von Licht, die jeden Abschied noch schärfer wirken ließ. Isabella war fort. Er war geblieben. Und jetzt war alles still.

Er ließ den Rucksack an der Wand fallen, zog sich den Hoodie über den Kopf und warf ihn achtlos auf das Bett. Seine Kamera lag noch auf dem Tisch, die Linse nach unten gekippt, als hätte sie sich vor etwas verschließen wollen. Der Laptop daneben war noch offen, ein halbfertiger Blogbeitrag im Entwurf. Die letzten Worte flimmerten am unteren Rand des Bildschirms – “… und manchmal verlieren wir uns, obwohl wir glauben, endlich angekommen zu sein.”

Er starrte darauf, aber er las nicht mehr. Stattdessen ging er auf den Balkon, trat barfuß auf die kalten Fliesen. Unten rauschte die Straße, irgendwo rief ein Kind. Leben. Aber in ihm war nur ein Echo.

Er hätte sie halten sollen.
Vielleicht.
Vielleicht nicht.

Denn wie sollte man etwas festhalten, wenn man sich selbst nicht begreifen konnte?

Isabella hatte ihn gesehen. Mehr als jede andere zuvor. Und das machte es unerträglich. Ihre Worte beim Abschied klangen noch immer in ihm nach, sanft, aber unerbittlich: “Du bist immer nur auf dem Sprung. Und irgendwann ist niemand mehr da, der wartet.”

Er hatte nichts erwidert. Nur geschwiegen. Nicht aus Arroganz, sondern aus Angst. Angst davor, dass sie recht hatte.

In der Nacht war er lange wach geblieben. Hatte durch ihr altes Skizzenbuch geblättert, das sie aus Versehen bei ihm vergessen hatte. Kleine Aquarelle, einfache Linien – Szenen aus Spanien, aus ihrer Reise. Ein Pfad im Nebel. Ein Marktplatz. Und einmal: er selbst, inmitten von Grün, halb von Moos verdeckt. Sie war keine talentierte Malerin, aber authentisch.

Sein Herz zog sich zusammen, als er die Zeichnung betrachtete. Wie konnte jemand ihn so sehen – und trotzdem gehen? Oder war es eher: Wie konnte er sich so zeigen – und sie dann nicht festhalten?

Er lehnte sich an das kalte Balkongeländer und sog die feuchte Luft ein. Für einen Moment schien es, als könnte er den Nebel mit den Händen greifen, als wäre es möglich, alles Schwere einfach fortzupusten. Doch unter der Oberfläche blieb die Leere. In seinem Kopf liefen die Erinnerungen wie ein Film in Endlosschleife: gemeinsame Abende am Fluss, Isabellas Lachen, ihr entschlossener Blick, wenn sie Pläne schmiedete. Er fragte sich, ob sie jetzt, in diesem Augenblick, auch an ihn dachte – oder ob sie bereits weitergezogen war, so leicht und selbstverständlich, wie sie es immer behauptet hatte. Trotzdem klammerte er sich an die Hoffnung, dass manche Fäden nicht so schnell reißen, selbst wenn sie dünn geworden sind.

Er ging wieder hinein, machte sich einen starken Kaffee, obwohl es längst Mitternacht war. Am Fenster sah er sein eigenes Spiegelbild. Blass. Müde. Und doch war da etwas in seinem Blick, das er lange nicht gesehen hatte: Verantwortung. Nicht nur für das, was war. Sondern auch für das, was hätte sein können.

Mit dem ersten Schluck Kaffee spürte Sergio, wie sich die Bitternis auf seiner Zunge ausbreitete und ihn wach hielt, während der Tag längst verschwunden war. Er blieb am Fenster stehen, betrachtete die dunklen Silhouetten der Dächer, bis der Gedanke an Isabella langsam verblasste und Platz machte für eine neue Klarheit. Vielleicht war dies der Moment, in dem er sich eingestand, dass Abschiede nicht immer das Ende bedeuten, sondern auch den Anfang von etwas Eigenem. Nach einer Weile setzte er sich an den Laptop. Öffnete ein neues Dokument.

Diesmal schrieb er nicht über Wanderwege. Nicht über Ruinen oder Geschichten von Vermissten. Diesmal schrieb er über sie. Über Isabella. Und über das, was sie in ihm wachgerufen hatte.

Er veröffentlichte es nicht. Noch nicht. Stattdessen öffnete er ihren kleinen Blog, den sie kurz vor der Rückreise eingerichtet hatte. Neue Fotos. Ein paar Texte. Ihr Tonfall war leiser geworden, konzentrierter. Reifer. Sie sprach nicht über ihn. Und doch war er in jeder Zeile spürbar.

Er klickte auf „Folgen“.
Und dann schrieb er ihr. Keine langen Sätze. Kein Pathos.

Nur:
„Bleib auf deinem Weg.“

Dann schaltete er den Computer aus.
Der Morgen dämmerte, Nebel kroch durch die Straßen.
Vielleicht würde er ihn diesmal nicht meiden.
Vielleicht würde er ihm folgen.

Die Rückkehr nach Gelsenkirchen war unspektakulär. Niemand fragte, wie es gewesen war. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Anträge, im Kühlschrank stand noch die alte Marmelade. Nur Isabella selbst war nicht mehr dieselbe.

Sie begann, Spanisch zu lernen – richtig, mit Lehrbuch, Grammatik und Hausaufgaben. Nach Feierabend saß sie zwischen anderen Neuanfängern in einem Volkshochschulraum, während draußen die Straßenbahn klingelte.

Die vertraute Umgebung war zwar geblieben, doch alles fühlte sich anders an. Isabella bemerkte, wie viel sie in den vergangenen Monaten über sich selbst gelernt hatte – über ihre Fähigkeit, sich an fremde Orte anzupassen, über die Kraft, auch ohne klare Antworten weiterzugehen. Sie stellte fest, dass Heimat manchmal weniger ein Ort als ein Gefühl war, das ganz leise in ihr wuchs, sobald sie den Erwartungen anderer nicht mehr hinterherlief. In den ersten Tagen nach ihrer Rückkehr spürte sie oft eine Mischung aus Unsicherheit und Freiheit, als würde sie einen alten Mantel ablegen und noch nicht wissen, was sie anziehen wollte.

Das Lernen tat ihr gut. Es war, als würde sie sich ein Stück ihrer Reise zurückholen, ohne fortzumüssen.

An den Wochenenden renovierte sie ihre Wohnung. Die dunklen Vorhänge verschwanden, an ihre Stelle kamen helle Stoffe, durch die die Sonnenstrahlen tanzten, und überall standen Pflanzen, deren Blätter sich dem Licht entgegenstreckten. Der Duft frischer Erde mischte sich mit der Morgenluft und erfüllte den Raum mit einer leisen Hoffnung. Auch sie selbst veränderte sich: Neue Kleidung, kürzere Haare, ein anderer Blick im Spiegel – keine Kopie mehr von jemand anderem. Mit jedem neuen Morgen spürte sie mehr, wie sie sich selbst näherkam und die Unsicherheit langsam wich.

Nur der Job blieb. Oft dachte sie daran zu kündigen. Doch jedes Mal, wenn sie die Tür zum Büro öffnete, war da dieses dumpfe Ziehen in ihrer Brust – als würde eine unsichtbare Hand sie zurückhalten. Angst vor dem Nichts? Trotz? Beides, vielleicht. Also blieb sie. Machte weiter. Lachte manchmal sogar.

Der Herbst und dann der Winter kam und ging. Im Frühjahr, als die ersten Magnolienknospen aufplatzten, begann sie über Spanien nachzudenken.

Manchmal, wenn sie abends am Fenster saß und die letzten Sonnenstrahlen auf die frisch gestrichenen Wände fielen, dachte Isabella an all die kleinen Veränderungen, die sich fast unmerklich in ihren Alltag eingeschlichen hatten. Es war nicht nur die neue Sprache oder die renovierte Wohnung, sondern auch diese stille Entschlossenheit in ihr, die sie zuvor nie so deutlich gespürt hatte. Zwischen alten Routinen und neuen Gewohnheiten begann sie, sich selbst zu vertrauen – mehr, als sie es je für möglich gehalten hätte.

Nicht wegen Sergio, sagte sie sich, sondern wegen sich selbst.
Sie glaubte es fast.

Während Isabella sich Schritt für Schritt ein neues Leben aufbaute und mit jedem Tag ein wenig mehr Zuversicht gewann, glitt Sergio zurück in sein altes Leben – doch das kam ihm inzwischen vor wie eine bröckelnde Fassade, deren Farbe er jeden Morgen mühsam neu auftragen musste, obwohl darunter schon die ersten Risse und abgeplatzten Stellen sichtbar wurden. Die ständige Anstrengung, diese Oberfläche aufrechtzuerhalten, ließ in ihm eine Müdigkeit wachsen, die er nicht abschütteln konnte.

Er drehte wieder Videos, postete Bilder, flog zu Veranstaltungen, auf denen man ihn umwarb wie ein Produkt. Die Likes kamen, die Sponsoren zahlten, doch der Glanz war stumpf geworden.
Manchmal stand er vor der Kamera und wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Dann lächelte er einfach – dieses perfekte, leere Lächeln, das er sich antrainiert hatte.

So vergingen die Tage, gefüllt mit Auftritten, Selfies und einem Lärm, der kaum noch zu ihm gehörte. Die Wohnung war voller Stimmen, doch in seinem Inneren wurde es immer stiller. Erst spät, wenn das letzte Lachen verklungen war und die Tür ins Schloss fiel, spürte Sergio, wie eine schleichende Leere in ihm wuchs – ein Raum, in dem Erinnerungen wie Schatten an den Wänden tanzten. Er griff dann oft nach dem Skizzenbuch, das er aus Oviedo mitgebracht hatte, und ließ die Finger über die Seiten gleiten, als könnte er so die Zeit zurückdrehen. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er das Handy in die Hand nahm, weil er gehofft hatte, eine Nachricht von Isabella zu finden. Doch die Welt draußen drehte sich weiter: Freunde kamen, verschwanden, neue Gesichter tauchten auf. Das Leben lief wie ein endloser Werbespot. Nur nachts, wenn die Stadt zur Ruhe kam, saß er auf dem Balkon, das Handy in der Hand, scrollte durch alte Aufnahmen: der Waldpfad, das Restaurant, ihr Lachen. Er hatte Isabellas Skizzenbuch aus Oviedo mit nach Madrid genommen. Es lag mit ausgedruckten Fotos im Regal.

Abspann

Manchmal verändern sich Wege, ohne dass man es im ersten Moment bemerkt. Isabella und Sergio gehen jeder für sich weiter – in unterschiedlichem Tempo, mit eigenen Fragen und leisen Hoffnungen. Wohin ihre Schritte führen, zeigt sich erst mit der Zeit.

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Isabella sitzt auf dem Sofa im spärlich beleuchteten Wohnzimmer. Sie hat die Hände vors Gesicht geschlagen und weint.

Kapitel 22 – Auf der Kippe

Vorspann

Manchmal kippt ein Moment, und nichts ist mehr, wie es war.
Sergio will weiter, Isabella will bleiben – zwei Richtungen, ein stiller Bruch in der Nacht.
Was bleibt, wenn die Wege sich trennen und die Stille lauter ist als jedes Wort?

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Akt IV

Auf der Kippe

Es war ein dieser Momente, die still und doch tief wie ein Riss durch die Luft gingen. Der Abend hatte bereits seine Kühle über die kleine Stadt gelegt, die Gassen waren von den letzten Touristen befreit und das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich auf dem nassen Asphalt. Sergio und Isabella gingen nebeneinander, doch es war, als würde eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen stehen.

„Ich habe die Flüge gebucht“, sagte Sergio plötzlich, ohne Isabella anzusehen. „Wir fliegen nach Madrid. Ich möchte weiterreisen. Ich kann hier nicht bleiben, nicht jetzt.“

Isabella hielt abrupt an, ihre Hand ballte sich zu einer Faust, die sie an ihre Seite presste. „Und was ist mit uns? Was ist mit dem, was wir hier haben? Wir haben so viel Zeit miteinander verbracht, und jetzt soll alles einfach vorbei sein?“

Sergio drehte sich zu ihr, seine Augen verfinsterten sich. „Du verstehst es nicht. Ich kann hier nicht bleiben. Ich muss weiter. Es geht nicht nur um diese Reise oder um meine Familie. Es geht um alles. Ich finde nicht, was ich suche, wenn ich immer an einem Ort bleibe.“

Isabella fühlte, wie sich ein scharfer Schmerz in ihrer Brust ausbreitete, als hätte sie etwas verloren, bevor sie es wirklich hatte. Sie trat einen Schritt zurück, als wollte sie den Abstand zwischen ihnen, der sich plötzlich so groß anfühlte, überbrücken. „Und was ist mit mir? Was ist mit uns? Du bist die ganze Zeit hier – warum kannst du nicht einfach bleiben, um herauszufinden, was du wirklich willst?“

Sergio seufzte, seine Schultern sanken leicht nach unten, als würde der Druck auf ihm zunehmen. „Es ist nicht so einfach, Isabella. Du weißt nicht, was es heißt, ständig auf der Suche zu sein. Du verstehst es nicht. Du hast deine Wohnung, deinen Job, deine Sicherheit. Aber was, wenn ich das nicht will? Was, wenn ich nie wirklich weiß, wo ich hingehöre?“

„Und ich weiß nicht, was es heißt, auf der Suche zu sein?“ Isabella lachte bitter. „Weißt du, was ich suche? Ein bisschen von dem, was du gefunden hast. Diese Leichtigkeit, diese Freiheit, die du in dir trägst. Aber das bedeutet nicht, dass ich dir nachfolgen will, ohne zu wissen, wohin wir gehen!“

Sie trat einen Schritt näher an ihn heran, die Wut und Enttäuschung in ihrer Stimme. „Du hast mich mitgenommen, aber du bist nie wirklich da. Immer unterwegs, immer auf der Flucht. Ich will wissen, was das für uns bedeutet. Aber du bist schon wieder bereit, weiterzugehen.“

Sergio starrte sie einen Moment lang an, als wäre er unschlüssig, was er sagen sollte. Dann legte er die Hände in die Taschen seiner Jacke. „Du verstehst das alles falsch. Ich… ich will nicht fliehen. Aber ich kann nicht stillstehen. Ich muss weitermachen. Ich kann mich nicht mit weniger zufrieden geben. Ich kann nicht hierbleiben, nur weil du es dir wünschst.“

Isabella biss sich auf die Lippen. Ihre Augen brannten, und sie spürte, wie ein Kloß in ihrem Hals wuchs. „Ich will nicht, dass du bleibst, weil du es mir schuldig bist“, sagte sie leise. „Aber ich dachte, vielleicht… vielleicht gibt es einen Ort, an dem wir beide bleiben können. An dem du nicht immer weiterziehen musst.“

Sergio senkte den Blick, und der Schmerz in seinen Augen war unverkennbar. „Ich weiß nicht, Isabella. Ich weiß nicht, was ich will. Und ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll. Aber ich kann nicht so tun, als ob alles einfach perfekt ist. Ich kann dir nicht versprechen, dass ich hierbleibe.“

Der Moment schien zu verharren, als könnte keine der beiden eine Entscheidung treffen. Isabella drehte sich langsam um und begann zu gehen, ohne ein weiteres Wort. Sergio blieb zurück, der Klang ihrer Schritte hallte in der Dunkelheit wider, als ob er sie in einem leeren Raum hinter sich ließ.

Während sie durch die Straßen ging, wusste Isabella nicht, ob sie weinen oder schreien sollte. Die Leere, die sie fühlte, war mehr als nur der Verlust eines Moments – es war der Verlust einer Verbindung, die sie zu finden geglaubt hatte. Sie hatte geglaubt, dass sie Teil von Sergios Welt werden konnte, dass sie für einen Augenblick in seine Suche eintauchen und sich an seiner Seite finden könnte. Doch jetzt schien alles fraglich, als wäre der Weg, den sie mit ihm gegangen war, plötzlich unsicher.

Sie wusste, dass sie nicht nachgeben konnte. Sie konnte nicht den Rest ihrer eigenen Suche aufgeben, nur um ihm zu folgen. Aber es tat weh, die Distanz zwischen ihnen zu spüren. Eine Distanz, die nie ganz überbrückt werden konnte.

Rückkehr

Isabellas Schlüssel klickte leise im Schloss, als sie die Wohnungstür aufstieß. Es war spät, die Luft draußen kühl, der Himmel bleiern und schwer, als hätte der Frühling Spanien zurückgelassen. Die vertraute Stille schlug ihr entgegen, so fest und endgültig wie eine geschlossene Tür.

Drinnen roch es nach Staub und abgestandener Luft. Die Möbel standen noch genau wie vorher – das schmale Sofa unter dem Fenster, der kleine Tisch, der einst makellos gewischt war, und die Bücherregale, deren Ordnung sie früher beruhigt hatte. Jetzt wirkte alles fremd, ausgeleuchtet von einem trüben Dämmerlicht, das durch die Vorhänge sickerte. Die Wohnung war nicht mehr ein sicherer Ort, sondern eine Kulisse, in der die Zeit stillgestanden hatte, während sie fort gewesen war.

Sie ließ den Koffer im Flur stehen und ging langsam ins Wohnzimmer. Ihre Schritte klangen dumpf auf dem Laminat. Mit zittrigen Fingern zog sie ihren Mantel aus, ließ ihn achtlos über die Sessellehne fallen. Dann setzte sie sich auf das Sofa, genau dorthin, wo sie vor Monaten zum ersten Mal auf Sergios Blog gestoßen war. Es fühlte sich an wie das Leben einer anderen Frau.

Ein Kloß schnürte ihr die Kehle zu. Es war nicht nur der Schmerz der Trennung, nicht nur die Enttäuschung über seine Unfähigkeit, zu bleiben. Es war die Erkenntnis, dass sie sich geöffnet hatte – mehr, als sie je für möglich gehalten hätte – und dass er es nicht hatte halten können. Sie hatte geglaubt, sie wären gemeinsam an einem Wendepunkt. Stattdessen hatte er wieder die Flucht ergriffen, während sie zum ersten Mal bereit gewesen war, zu bleiben.

Der Rückflug war ein Nebel aus Leere gewesen. Keine Tränen im Flugzeug, keine Musik im Ohr, keine Gedanken, die klar werden wollten. Nur das Dröhnen der Turbinen und das langsame Sinken ihrer Hoffnung. Jetzt erst, zurück in diesem sterilen, aufgeräumten Zuhause, ließ die Fassade nach.

Sie weinte nicht sofort. Zuerst war da nur das Dröhnen im Kopf, das Kratzen in der Kehle, das starre Sitzen, während draußen ein Auto vorbeifuhr, dann noch eins. Geräusche, die früher nichts bedeuteten, taten plötzlich weh. Erst als sie in die Küche ging, um sich mechanisch ein Glas Wasser einzuschenken, zitterten ihre Hände. Das Glas fiel in die Spüle und zerschellte mit einem leisen Klang – gerade laut genug, um etwas in ihr zu brechen.

Und dann kamen die Tränen. Laut, ungefiltert, wild. Sie sank an den Küchenschrank, ließ sich auf den kalten Fliesenboden gleiten und presste das Gesicht in die Hände. Sie schluchzte wie jemand, der etwas verloren hat, das mehr war als eine Person – vielleicht ein Teil von sich selbst.

Denn das war es: Sie hatte geglaubt, dass diese Reise sie zu einem neuen Leben führen würde. Dass sie mit Sergio nicht nur einen Mann gefunden hatte, sondern auch eine andere Version ihrer selbst – mutiger, wärmer, lebendiger. Und jetzt? Jetzt war sie allein, und die Angst kehrte zurück. Die Angst, dass es vielleicht doch nur ein Traum gewesen war. Eine vorübergehende Flucht.

Stunden später lag sie auf dem Sofa, die Augen rot, der Körper leer. Sie wusste, dass der Schmerz nicht sofort vergehen würde. Vielleicht nie ganz. Aber sie wusste auch, dass sie sich verändert hatte – und dass dieser Schmerz der Preis dafür war.

Sie blickte zur Decke. Sie war zurück. Aber sie war nicht mehr dieselbe.
Und irgendwo, tief unter dem Schmerz, war noch etwas anderes. Etwas, das leise brannte. Ein kleines, trotziges Licht. Nicht Hoffnung – noch nicht. Aber vielleicht: ein Anfang.

Abspann

Isabella kehrt zurück in ihr altes Leben – äußerlich unverändert, innerlich verwandelt.
Zwischen den Rissen des Verlusts beginnt etwas Neues zu glimmen: kein Trost, keine Hoffnung, nur das zarte Wissen, dass Schmerz auch ein Anfang sein kann.

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Ein einfaches Mahl bei Verwandten für André und Marta

Kapitel 21 – Ein Stück Heimat

Vorspann

Manchmal findet man die Wurzeln nicht dort, wo man sie vermutet.
Sergio besucht Verwandte, die er kaum kennt – und entdeckt in den stillen Gesten, den vertrauten Gerüchen und den Erinnerungen anderer ein Stück seiner eigenen Geschichte.

Zurück zu Kapitel 20 – Heimat in der Ferne

Ein Stück Heimat

Es war ein warmer Tag, die Sonne hing hoch am Himmel und tauchte die malerische Landschaft von Nordspanien in ein goldenes Licht. Isabella und Sergio fuhren auf einer schmalen, gewundenen Landstraße, die sich an Hügeln und Weiden entlang schlängelte. Die Straßen waren leer, nur vereinzelt fuhren sie an kleinen Dörfern vorbei, in denen die Häuser dicht aneinandergebaut waren, als wollten sie sich gegenseitig wärmen.

„Ich hoffe, sie sind zu Hause“, sagte Sergio, seine Stimme klang ein wenig angespannt. „Meine Verwandten wohnen hier in der Nähe. Es sind Menschen, die ich nur sehr selten sehe. Sie haben mir nie viel über die Familie erzählt. Ich weiß nicht, ob sie sich noch an mich erinnern.“

Isabella nickte, obwohl sie wusste, dass er sie wahrscheinlich mehr für seine eigene Unsicherheit als für sie selbst beruhigte. Sie hatte gelernt, dass er nicht nur auf der Suche nach den Spuren seines Urgroßvaters war, sondern auch nach Verbindungen zu den Menschen, die er auf seinem Weg verloren hatte.

Als sie an einem kleinen, mit Efeu überwucherten Haus anhielten, zögerte Sergio kurz, bevor er die Tür öffnete und klopfte. Es dauerte nicht lange, bis ein älterer Mann mit silbernem Haar und einem warmen, aber skeptischen Blick öffnete. „Sergio? Der Junge aus Barcelona?“ Der Mann schien überrascht, aber auch erfreut, ihn zu sehen.

„Ja, Onkel Andrés“, sagte Sergio und umarmte den Mann. „Ich dachte, es wäre schön, euch wieder einmal zu sehen. Ich habe lange nicht mehr vorbeigeschaut.“

Der Onkel trat zur Seite, um sie eintreten zu lassen. „Du bist also der junge Mann, der aus der Ferne gekommen ist, um nach seinen Wurzeln zu suchen“, sagte er mit einem Lächeln. „Komm rein, kommt rein. Deine Tante Marta ist drinnen und wird sich freuen, dich zu sehen.“

Isabella folgte Sergio hinein und blickte sich in der alten, mit rustikalen Möbeln eingerichteten Wohnung um. Der Raum roch nach Holz und Gewürzen, und an den Wänden hingen Bilder von Familie und vergangenen Zeiten. Es war wie ein Fenster in eine Welt, die sie nur aus Erzählungen kannte. Die Menschen hier waren einfach, aber ihre Wärme war spürbar, auch wenn es eine ruhige, fast zurückhaltende Wärme war.

Tante Marta, eine Frau in den späten Sechzigern mit grauem Haar und einem freundlichen, aber etwas fragenden Blick, begrüßte sie herzlich. Sie ließ Isabella Platz an einem Tisch, der mit einem einfachen Mittagessen gedeckt war – frisches Brot, Käse, Oliven und ein paar gegrillte Würstchen. Es war kein festliches Mahl, aber es fühlte sich dennoch wie ein Moment der Verbindung an.

„Ich habe oft von dir gehört, aber dich noch nie gesehen“, sagte Tante Marta zu Sergio, während sie ihm eine Tasse Kaffee einschenkte. „Dein Urgroßvater war ein stolzer Mann. Wir haben nicht viel über ihn gesprochen, aber er hat uns immer von seinen Reisen erzählt. Du weißt, wie das damals war… In den 40er Jahren war nicht viel Platz für große Träume.“

Isabella lauschte interessiert, als sie spürte, dass diese Gespräche hier etwas anderes bedeuteten. Für Sergio war dies mehr als nur ein Besuch bei Verwandten – es war ein Teil seiner Reise, ein Versuch, die Lücken in der Geschichte seiner Familie zu füllen. Doch für Isabella war es ebenso eine Reise, und sie fühlte sich irgendwie wie eine stille Beobachterin, die in das Leben eines anderen eintauchte, während sie gleichzeitig nach ihrem eigenen Platz suchte.

Der Nachmittag verging in entspannten Gesprächen über alte Zeiten, Geschichten von der Gegend und von der Familie, die sie über die Jahre hinweg verloren hatten. Sergio stellte viele Fragen, und Tante Marta und Onkel Andrés antworteten geduldig, manchmal mit einem Lächeln, das ihre Erinnerungen auflebte. Es war, als ob all die Jahre der Abwesenheit plötzlich unbedeutend wurden. In diesem Raum, bei diesen Menschen, fühlte sich alles richtig an.

„Wir sind alle ein Stück von dem, was war“, sagte Onkel Andrés nach einer Weile. „Manchmal ist es schwer, das zu erkennen, wenn man die Menschen nicht mehr sieht. Aber es ist immer noch da, in uns.“

Isabella spürte, wie sich etwas in ihr regte. Es war das Gefühl von Zugehörigkeit, das sie in den letzten Monaten immer mehr entdeckt hatte. Die Menschen, mit denen sie jetzt zusammen war, fühlten sich auf eine Art wie ihre Familie an, ohne dass sie je den gleichen Ursprung teilen mussten. Es war nicht nur die gemeinsame Zeit, sondern das stille Verständnis, das sie verband.

Als sie sich verabschiedeten, bedankte sich Sergio für den Besuch. Tante Marta drückte ihm fest die Hand und sah ihm tief in die Augen. „Wir sehen uns nicht oft, aber du bist immer willkommen, Sergio. Die Türen hier sind immer für dich offen.“

Isabella konnte sehen, wie wichtig dieser Moment für Sergio war, wie viel er von diesen kurzen Begegnungen mit seiner Familie erhoffte. Doch auch sie selbst fühlte eine leise Berührung der Verbundenheit, nicht nur mit den Menschen hier, sondern mit der Welt, die sich vor ihr ausbreitete.

Als sie sich auf den Rückweg machten, sagte sie leise: „Ich habe das Gefühl, dass du ein Stück deiner Geschichte hier gefunden hast.“

Sergio nickte, doch seine Augen waren nachdenklich. „Ja“, sagte er. „Aber ich weiß noch nicht, ob das genug ist. Vielleicht ist die Geschichte nicht nur das, was uns verbindet, sondern auch das, was wir daraus machen.“

Isabella spürte eine leise Ergriffenheit, als sie gemeinsam durch die sanften Hügel fuhren. Es war nicht nur seine Reise, auf die sie ihn begleitet hatte. Es war auch ihre eigene Reise, die sie Schritt für Schritt, Tag für Tag, immer mehr verstand. Und vielleicht, dachte sie, war das der wahre Beginn von allem.

Abspann

Zwischen Brot, Kaffee und alten Familiengeschichten entsteht etwas, das bleibt: das Gefühl, dazuzugehören, auch wenn man längst fortgegangen ist.
Für Isabella wird deutlich, dass Heimat kein Ort ist – sondern die Menschen, die uns einen Platz in ihrer Erinnerung geben.

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Isabella sitzt am Meer auf einer niedrigen mauer und blickt auf das Meer hinaus. Neben ihr steht ein halbvolles Glas Rotwein

Kapitel 20 – Heimat in der Ferne

Vorspann

Nach den langen Tagen der Suche und des Zweifelns findet Isabella in der Ferne etwas, das sie nicht erwartet hat – eine leise, wachsende Vertrautheit. Zwischen Küstenwind, Terrakotta und dem Duft von Kaffee beginnt sie zu begreifen, was es wirklich heißt, anzukommen.

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Heimat in der Ferne

Die ersten Tage in Spanien waren ein bunter Mix aus Staunen und Unsicherheit gewesen. Isabella hatte sich verloren gefühlt in der fremden Sprache, in den unbekannten Gerüchen, in der neuen, fast überwältigenden Schönheit der Landschaft. Aber langsam, ganz langsam, begann sich etwas zu verändern. Es war ein langsames Einpendeln, ein Sich-Hineinfinden, das sie noch nie zuvor in ihrem Leben so intensiv erlebt hatte.

Der Ort, in dem sie sich jetzt befand, war klein und versteckt, eine verschlafene Ecke der nordspanischen Küste. Die Häuser, die sich an die Hügel schmiegten, hatten die warme Farbe von Terrakotta, und die Dächer glänzten im Sonnenlicht, das manchmal durch die Wolken brach und die Welt in goldene Töne tauchte. In den engen Gassen konnte man noch den Hauch der Geschichte spüren – alte, verwitterte Türen, geschnitzte Fensterrahmen und die flimmernden Schatten der Bäume, die die Straßen säumten.

Isabella hatte sich in den letzten Tagen mit den Gegebenheiten des Lebens dort angefreundet. Jeden Morgen stand sie früh auf und ging in das kleine Café an der Ecke, das einen herrlichen Blick auf das Meer hatte. Der Geruch von frisch gebackenem Brot und starkem Kaffee empfing sie dort immer, und sie fand Trost in der vertrauten Routine. Es war nicht die gleiche bleierne Monotonie wie in ihrer Heimatstadt. Es war lebendig. In der Stille der Morgenstunden schien sie sich mit der Umgebung zu verbinden, als gehörte sie hierher.

In den Nächten, wenn der Wind von der Küste her wehte und das Rauschen der Wellen das einzige Geräusch war, das die Stille durchbrach, fühlte sie sich plötzlich nicht mehr wie eine Fremde. Sie hatte das Gefühl, dass dieser Ort ein Teil von ihr geworden war, als ob er schon immer in ihr gewesen war, irgendwo tief in ihrer Seele.

Isabella erkannte, dass sie sich auf dieser Reise nicht nur mit der spanischen Landschaft, sondern auch mit sich selbst versöhnte. Die Menschen in dem kleinen Ort, in dem sie sich nun aufhielt, waren freundlich, aber sie spürte eine gewisse Distanz, die sie selbst nicht überbrücken konnte. Sie war hier nicht für sie, sondern für sich selbst. Und das war der Unterschied.

Jeden Tag unternahm sie kleine Erkundungstouren, setzte sich auf Bänke und sah den Menschen zu, die ihren täglichen Pflichten nachgingen. Die Frauen, die den Markt überfluteten, die Männer, die den Staub der Straße fegten, die Kinder, die in den Gassen spielten – sie alle trugen etwas mit sich, das Isabella wie ein stilles Band miteinander verband. Sie fühlte sich inmitten all dieser Fremden weniger allein.

Besonders an den Nachmittagen, wenn die Sonne den Himmel in zarten Rosa- und Orangetönen färbte, ging Isabella auf die kleinen Hügel rund um das Dorf. Von dort aus konnte sie das Meer sehen, das in der Ferne wie ein flimmerndes Band wirkte. An diesen Momenten fühlte sie eine tiefere Verbundenheit zu der Landschaft, eine leise Sehnsucht, die sie nie gekannt hatte.

„Ich fühle mich hier zuhause“, sagte sie eines Abends zu Sergio, als sie zusammen in einem kleinen Restaurant saßen, das mit seinen bunten Fliesen und holzvertäfelten Wänden die Atmosphäre eines gemütlichen Heimathafens versprühte.

Sergio sah sie mit einem fast nachdenklichen Blick an. „Echt? Das ist… schön. Aber es ist auch etwas, das Zeit braucht, oder?“

„Ja, sicher“, antwortete Isabella. „Es war nicht sofort da, aber es hat sich entwickelt. Jeden Tag ein bisschen mehr. Irgendwann merkt man, dass man nicht nur im Land lebt, sondern dass dieses Land auch in einem lebt.“

„Das ist poetisch“, sagte Sergio, lächelte dann jedoch leicht und lehnte sich zurück. „Vielleicht gibt es hier tatsächlich eine Art von Magie. Ein Stück von uns, das wir in den Orten finden, an denen wir uns verlieren.“

„Und manchmal“, sagte Isabella, „findet man sich selbst wieder, nicht nur in der Welt, sondern auch in einem anderen Land, an einem anderen Ort. Hier habe ich etwas entdeckt, das in mir geschlummert hat.“

Sergio nickte nachdenklich, dann strahlte er einen Moment lang, als hätte er in ihren Worten etwas erkannt, das er selbst gesucht hatte. Es war eine Art Anerkennung – nicht nur für den Ort, sondern auch für die Reise, die sie beide auf eine Art und Weise gemeinsam unternahmen, auch wenn ihre Wege sich immer wieder trennten.

In diesen Momenten, wenn sie miteinander sprachen oder einfach nebeneinander saßen, hatte Isabella das Gefühl, dass sie nicht nur in Spanien, sondern auch in ihrem Leben endlich den Ort gefunden hatte, an dem sie wirklich war. Es war nicht nur der physische Ort, sondern der Platz, den sie in ihrem eigenen Herzen eingenommen hatte – ein Platz, an dem sie sich selbst finden konnte, fernab von all den Erwartungen und der Monotonie, die sie zurückgelassen hatte.

Und so, während der Wind über das Meer strich und die Sonne langsam hinter den Hügeln versank, wusste Isabella: Sie hatte endlich ihren Platz gefunden, einen Ort, an dem sie sich zuhause fühlte – und in diesem Zuhause war sie mehr sie selbst als je zuvor.

Abspann

Es ist kein spektakulärer Neubeginn, sondern ein stilles Heimischwerden – nicht an einem Ort, sondern in sich selbst. Während der Abend über das Meer sinkt, erkennt Isabella, dass Zugehörigkeit kein Ziel ist, sondern ein Zustand des Herzens.

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Sergio und Isabella stehen vor dem verfallenen Haus von Sergios Urgroßvater. Die Wände sind von Efeu überwuchert. Die Stimmung ist bedrückend.

Kapitel 19 – Das Haus der Erinnerungen

Vorspann

Der Weg führt Isabella und Sergio zu einem Ort, der mehr als nur Steine und Mauern birgt. In den Schatten eines alten Hauses begegnet Sergio nicht nur der Geschichte seiner Familie – sondern auch der eigenen.

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Das Haus der Erinnerungen

Die Sonne war schon tief hinter den Hügeln verschwunden, als sie das verlassene Dorf hinter sich ließen und einen weiteren schmalen, von Bäumen gesäumten Weg entlanggingen. Der Nebel, der sich langsam von den Hügeln herabzog, verhüllte die Landschaft in ein fast magisches Licht. Sergio führte sie an der Hand, den Blick fest auf den Boden gerichtet, als ob er dem nächsten Schritt eine besondere Bedeutung beimessen wollte.

„Es ist nur noch ein Stück weiter“, sagte er, seine Stimme klang leise, aber entschlossen. „Ich spüre es.“

Isabella nickte, ohne ein Wort zu sagen. Sie wusste, dass dieser Moment für Sergio mehr war als nur eine Reise zu einem verlassenen Ort. Es war eine Reise zu seinen Wurzeln, eine Suche nach etwas, das er in den Jahren zuvor verloren geglaubt hatte. Und sie wusste, dass sie nicht nur als Beobachterin hier war, sondern als eine stille Begleiterin auf seinem Weg.

Der Pfad führte sie weiter, vorbei an verwitterten Zäunen und zerfallenen Mauern, bis sie schließlich an einem Tor ankamen, das von Efeu überwuchert war. Es war alt, fast so alt wie die Erinnerungen, die er suchte. Und als sie es öffneten, standen sie vor einem großen, einst prachtvollen Haus, das jetzt in den Schatten der Zeit getaucht war.

Sergios Atem stockte. Die Augen weiteten sich, als er das Gebäude erblickte, das mehr für ihn bedeutete, als Worte je ausdrücken könnten. Das Haus war von außen gezeichnet von den Jahren des Verfalls, doch in ihm war immer noch die Präsenz der Vergangenheit spürbar. Die großen Fenster waren verschlossen, und die Holztür hing schief in den Angeln. Doch es war immer noch das gleiche Haus, in dem sein Urgroßvater, von dem er nie wirklich etwas erfahren hatte, vielleicht zum letzten Mal gelebt hatte.

„Das ist es“, flüsterte er, fast wie in einem Gebet. „Das war das Haus meiner Familie.“

Isabella spürte die Schwere seiner Worte und trat langsam neben ihn. Sie konnte förmlich die Stille spüren, die das Haus umgab, als ob es selbst auf das wiederkehrende Leben wartete, das es einst beherbergt hatte.

„Es ist… beeindruckend“, sagte Isabella leise, während sie die Fassade betrachtete. „Es hat etwas… altes, aber auch schönes an sich.“

„Ja“, antwortete Sergio, während er einen Schritt nähertrat. „Es ist das letzte Überbleibsel meiner Familie aus dieser Zeit. Alles andere ist verloren gegangen.“

Er legte eine Hand auf das alte Holz der Tür, als wollte er den Kontakt zur Vergangenheit aufnehmen. Der kalte, brüchige Eindruck der Tür war der einzige sichtbare Beweis für die Jahre, die vergangen waren. Aber in Sergio wuchs etwas, das er in sich selbst nie ganz greifen konnte – eine Sehnsucht, die so stark war, dass sie wie eine Welle über ihn hinwegrollte.

„Mein Urgroßvater…“, sagte er, ohne den Blick vom Haus abzuwenden. „Er war ein starker Mann, aber auch ein gebrochener. Ich habe nie wirklich verstanden, was damals passiert ist. Warum er verschwunden ist. Was er durchgemacht hat…“

Isabella spürte, wie sich eine Welle der Trauer in seiner Stimme regte, die sie tief berührte. Sie wollte ihn in diesem Moment nicht unterbrechen. Sie wollte einfach da sein. Es war nicht ihre Aufgabe, Antworten zu finden, sondern ihm den Raum zu geben, seine eigene Wahrheit zu finden.

„Vielleicht war er einfach ein Mann seiner Zeit“, sagte sie schließlich, als sie sich neben ihm stellte. „Ein Mann, der in einem Land lebte, das von so vielen Dunkelheiten geprägt war. Vielleicht hatte er nie die Chance, seine Geschichte zu erzählen.“

Sergio drehte sich zu ihr und sah sie mit einem Blick an, der sowohl Dankbarkeit als auch tiefe Erschöpfung widerspiegelte. „Ich weiß, dass er viele Geheimnisse hatte. Aber jetzt, an diesem Ort, kann ich… vielleicht ein kleines Stück von ihm begreifen.“

Er trat weiter vor und öffnete vorsichtig die Tür, die mit einem Knarren nachgab. Es war, als öffnete sich ein Kapitel der Vergangenheit, das so lange verschlossen gewesen war. Isabella folgte ihm, als er in das dunkle Innere des Hauses trat. Der Staub und die vergilbten Möbelstücke ließen den Raum noch mehr wie ein Relikt der Vergangenheit wirken, als hätten sich die Dinge nicht verändert, nur die Zeit selbst sei stillgestanden.

Sergio ging langsam durch die Räume, die sich in Dunkelheit hüllten. In einem der Zimmer fand er alte Möbel, die in einem staubigen Dämmerlicht standen, ihre Konturen von der Zeit verwischt. Doch er schien sich nicht zu stören. Langsam ging er auf den Kamin zu und legte eine Hand auf den alten Stein, als würde er ein längst vergessenes Geheimnis fühlen.

„Hier…“, sagte er, „hier ist er gewesen. Mein Urgroßvater. Wahrscheinlich hat er hier gesessen, das Feuer beobachtet, die Stille ertragen.“

Isabella konnte den Schmerz und die Erleichterung in seiner Stimme hören. Es war, als würde er in diesem Moment die Jahre der Ungewissheit und das Schweigen seiner Familie in einem einzigen Atemzug loslassen.

„Vielleicht habe ich nie die richtigen Antworten gefunden“, sagte er leise, „aber vielleicht reicht es, den Ort zu finden, an dem er seine letzten Jahre verbracht hat. Hier kann ich ihm wenigstens ein Stück näherkommen.“

Er atmete tief ein, als ob er einen Teil von sich selbst in diesem Raum zurückließ. Isabella trat vorsichtig an ihn heran und legte ihre Hand auf seinen Arm.

„Du bist hier, Sergio“, sagte sie leise. „Das ist, was zählt. Du hast ihn nicht vergessen.“

Sergio nickte, doch es war, als würde ihm erst jetzt klar werden, dass er hier nicht nur etwas über seinen Urgroßvater erfahren hatte, sondern auch über sich selbst. In diesem alten Haus fand er nicht nur die Spuren der Vergangenheit, sondern auch die Bedeutung seiner eigenen Reise. Und vielleicht, dachte er, war das die Antwort, die er gesucht hatte – nicht nur auf die Fragen zu seiner Familie, sondern auch auf die Frage, wer er wirklich war.

Es war der Beginn von etwas, das er nicht sofort verstehen konnte, aber in diesem Moment wusste er, dass er auf dem richtigen Weg war.

„Es fühlt sich gut an, hier zu sein“, sagte er schließlich, als er den Raum ein letztes Mal absuchte. „Es fühlt sich an, als ob ich wieder ein Stück von mir selbst gefunden habe.“

Isabella nickte, verstand, und gemeinsam verließen sie das alte Haus. Doch es war nicht nur das Verlassen eines Gebäudes. Es war der Abschluss eines Kapitels und der Beginn eines neuen.

Die Rastlosigkeit

Die Sonne war mittlerweile hinter den Hügeln verschwunden, und die letzten Reste des Tageslichts verschwammen zu einem tiefen Blau. Der Nebel, der an diesem Abend auf den Hügeln lag, schien die Welt in eine sanfte, fast unwirkliche Stille zu hüllen. Isabella und Sergio standen in einem kleinen Café in einem abgelegenen Dorf, die Tassen vor sich dampfend, doch das Gespräch zwischen ihnen war spürbar nicht so leicht und unbeschwert wie sonst. Etwas lag in der Luft, etwas, das Isabella nicht länger ignorieren konnte.

Sergio hatte einen langen Tag hinter sich. Der Besuch des alten Hauses seiner Familie hatte ihn emotional aufgewühlt, und trotz seiner Erleichterung war die rastlose Unruhe in ihm noch immer präsent. Es war diese Unruhe, die Isabella seit Tagen beobachtet hatte – ein ständiges Hin- und Her, ein Suchen, das niemals zu einem Ziel schien zu führen. Es war, als ob er niemals ankommen konnte. Sie hatte ihm bisher nie direkt die Frage gestellt, die ihr immer wieder durch den Kopf ging. Doch heute, in diesem Moment, konnte sie es nicht mehr länger für sich behalten.

„Sergio“, begann sie vorsichtig und ließ ihre Tasse stehen, „ich habe etwas bemerkt…“

Er sah sie an, seine Augen ein bisschen müde, aber auch aufmerksam. „Was meinst du?“

„Du gehst immer weiter“, sagte sie, ihre Stimme ruhig, aber fest. „Du gehst von einem Ort zum nächsten, von einer Erinnerung zur nächsten, von einer Geschichte zur anderen. Aber immer, wenn du etwas zu finden scheinst, gehst du weiter, ohne wirklich zu bleiben. Es ist, als ob du nie irgendwo ankommen willst.“

Sergio starrte auf seine Tasse, die er jetzt in seinen Händen drehte, als könnte er die Antwort in der dampfenden Oberfläche des Tees finden. „Ich…“, begann er, doch die Worte zögerten. „Ich weiß nicht. Es gibt so viele Dinge, die ich nicht verstehe. Und je mehr ich versuche, sie zu verstehen, desto mehr fühle ich mich verloren. Aber es ist… es ist diese Unruhe, diese… rastlose Suche, die mich antreibt. Vielleicht finde ich irgendwann einen Ort, an dem ich mich wirklich zu Hause fühlen kann, aber bis dahin… bleibe ich in Bewegung.“

Isabella lehnte sich leicht vor, ihre Hände auf dem Tisch gefaltet. „Aber vielleicht ist das das Problem, Sergio“, sagte sie leise. „Vielleicht bist du die ganze Zeit auf der Flucht vor etwas, das du wirklich fühlen müsstest. Du suchst Antworten, aber du gibst dir selbst keine Zeit, sie zu finden. Du lässt dich nicht auf die Orte, die Menschen und die Geschichten ein, mit denen du dich beschäftigst. Du bewegst dich immer weiter, immer schneller, aber…“

„Was?“, unterbrach er sie, und seine Stimme klang rauer, als er beabsichtigt hatte.

„Vielleicht bist du einfach zu ängstlich, wirklich anzukommen“, sagte sie mit einem Blick, der ihn durchdrang. „Zu ängstlich, dich auf das einzulassen, was du findest, weil du Angst hast, dass es nicht genug ist. Oder vielleicht, weil du dir nicht erlaubst, dich selbst in dem zu sehen, was du suchst.“

Sergio schwieg. Er starrte auf seine Tasse, doch die Worte, die Isabella gesagt hatte, hallten in ihm nach, wie ein Echo, das er nicht mehr ignorieren konnte. Sie hatte recht – er hatte sich nie wirklich mit dem, was er gefunden hatte, auseinandergesetzt. Er hatte immer weitergesucht, ohne je wirklich zu bleiben, aus Angst, dass die Antworten nicht ausreichten, um den leeren Raum in ihm zu füllen.

„Vielleicht hast du recht“, sagte er schließlich, seine Stimme kaum hörbar. „Ich… ich habe nie wirklich die Zeit genommen, mich mit den Dingen auseinanderzusetzen. Ich bin immer weitergezogen, ohne wirklich zu bleiben.“

„Warum?“ fragte Isabella, ihre Stimme sanft. „Warum hast du nie innegehalten?“

Er seufzte tief, und als er den Blick hob, lag etwas in seinen Augen, das sie noch nie zuvor gesehen hatte – ein Moment der Verletzlichkeit, der ihn entblößte, als er in die Weite des Raums sah.

„Weil ich nicht wusste, wie ich mit all dem umgehen soll“, sagte er, fast entschuldigend. „Mit all den Geschichten, die mich belasten. Mit den Erinnerungen, die sich in mir festgesetzt haben, ohne dass ich sie jemals wirklich verstehen konnte. Ich habe immer geglaubt, dass ich nur weiter gehen muss, dass es irgendwann einen Moment geben wird, in dem alles einen Sinn macht. Aber vielleicht ist das nicht der Weg. Vielleicht muss ich mal anhalten. Vielleicht muss ich mich mit dem auseinandersetzen, was ich gefunden habe. Und vielleicht… vielleicht muss ich mir selbst erlauben, nicht mehr auf der Flucht zu sein.“

Isabella sah ihn an, ihre Augen weich und verständnisvoll. Sie hatte ihn nie zuvor so offen und verletzlich gesehen. Es war, als hätte er endlich einen Teil von sich selbst erkannt, der lange im Schatten verborgen war. Vielleicht war es der erste Schritt in eine Richtung, die er immer vermieden hatte.

„Und was ist, wenn du ankommst, Sergio? Was ist, wenn du dir erlaubst, zu bleiben?“ fragte sie leise.

Er sah sie an, und für einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen. Doch es war keine unangenehme Stille – es war eine Stille der Erkenntnis. Vielleicht war es der Moment, in dem er sich entschloss, nicht mehr zu fliehen.

„Vielleicht“, sagte er schließlich, „ist es Zeit, dass ich wirklich ankomme. In meinem Leben. In meiner Geschichte. Und vielleicht… vielleicht auch bei dir.“

Isabella spürte, wie sich etwas in ihr veränderte, ein kleines, aber bedeutendes Stück. Der Weg, den sie beide gemeinsam eingeschlagen hatten, war noch nicht zu Ende, doch in diesem Augenblick schien es, als ob sie zum ersten Mal in all der Zeit, in der sie einander begegnet waren, einen Moment des wirklichen Verstehens fanden.

Abspann

Zwischen Vergangenheit und Gegenwart öffnet sich für Sergio ein neuer Raum der Erkenntnis. Die Rastlosigkeit weicht einem stillen Innehalten, und vielleicht beginnt hier das, was man Ankommen nennt.

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Sergio und Isabella auf einem Waldweg. Er geht vor, trägt einen kleinen Rucksack. Sie folgt ihm in geringem Abstand.

Kapitel 18 – Ein Netz aus Stimmen

Vorspann
Das Dorf lebt nicht nur in seinen Häusern, Gassen und Plätzen – es lebt in den Stimmen, die durch die Luft getragen werden. Worte wie Funken, die sich festsetzen, Gerüchte wie Fäden, die Menschen miteinander verknüpfen. Zwischen Wahrheit und Erfindung entsteht ein unsichtbares Netz, das jede und jeden in Sanluz de Montarroyo umfängt.

Zurück zu Kapitel 17 – Auf den Spuren der Vergangenheit

Nächtliches Gespräch unter Sternen

Es war spät in der Nacht, als Isabella und Sergio einen kleinen Hügel in der Nähe der Stadt hinaufstiegen. Die Luft war kühl, aber nicht unangenehm, und der Himmel war so klar, dass es schien, als ob die Sterne nur darauf warteten, gesehen zu werden. Sie hatten den Tag in der Altstadt von Oviedo verbracht und sich von den schmalen, verwinkelten Gassen und den historischen Gebäuden verzaubern lassen. Doch jetzt, unter dem weiten, sternenübersäten Himmel, war alles still. Der Tag, die Gespräche, die Entdeckungen – sie fühlten sich fern an, als wären sie in einer anderen Welt.

„Ich habe es nie gemocht, nachts unterwegs zu sein“, gestand Isabella, als sie sich auf einen Felsen setzte, der den höchsten Punkt des Hügels markierte. Sie zog die Jacke enger um sich und schaute nach oben, wo der Himmel von zahllosen Sternen erleuchtet war. „Es gibt etwas an der Dunkelheit, das mich immer nervös gemacht hat.“

Sergio setzte sich neben sie, seine Hände in den Taschen vergraben. „Es gibt immer diese Angst, nicht zu wissen, was kommt. Aber vielleicht ist das gerade das, was den Moment so besonders macht. Es gibt uns Raum, um zu atmen, ohne dass uns etwas an die Vergangenheit bindet.“

Isabella nickte, doch in ihrem Inneren spürte sie eine Unruhe, die sie nicht ganz ablegen konnte. „Ich frage mich oft, ob ich jemals wirklich etwas in meinem Leben geändert habe. Vielleicht bin ich einfach zu sehr auf Sicherheit bedacht. Immer in meiner Komfortzone. In diesem kleinen, vorhersehbaren Leben. Aber dann bin ich hier, und alles fühlt sich anders an. Ich fühle mich fast… verloren, als ob ich nicht mehr weiß, wer ich bin.“

Sergio schaute sie nachdenklich an. Die Sterne schienen sein Gesicht zu erleuchten, und in seinem Blick lag etwas, das Isabella an die Weite der Nacht erinnerte – unendlich, tief und doch irgendwie tröstlich.

„Du bist nicht verloren, Isabella“, sagte er leise. „Es ist normal, sich manchmal so zu fühlen, vor allem, wenn man sich selbst von allem trennt, was man kennt. Aber die Wahrheit ist: Du musst dich nicht finden. Du darfst dich immer wieder neu erschaffen. Und dafür braucht es keinen perfekten Plan. Nur den Mut, weiterzugehen. Die Angst ist nur ein Teil des Prozesses.“

Isabella schloss die Augen für einen Moment, ließ die kalte Luft ihre Wangen berühren, spürte, wie der Wind durch ihre Haare strich. Sie hatte nie viel über Mut nachgedacht – immer nur über Sicherheit, den klaren Plan, den nächsten Schritt. Doch hier, unter den Sternen, mit Sergio an ihrer Seite, fühlte sie sich nicht mehr so festgefahren.

„Was ist mit dir?“, fragte sie nach einer Weile. „Hast du keine Angst?“

Sergio seufzte leise, als ob er die Frage schon lange erwartet hatte. „Natürlich habe ich Angst. Aber das Problem ist, dass ich immer vor dieser Angst weggelaufen bin. In meine Reisen, in die Geschichten meiner Familie. Ich dachte, wenn ich nur genug über die Vergangenheit herausfinde, würde ich wissen, wer ich bin. Aber die Wahrheit ist, dass ich nie wirklich angekommen bin. Ich suche immer weiter, immer tiefer. Aber manchmal frage ich mich, ob ich mich jemals wirklich finden kann.“

Isabella spürte, wie sich die Worte in ihr vergruben. Sie sah die Wahrheit in seinem Blick – die gleiche Unsicherheit, die sie selbst kannte, aber auf eine andere Art. Vielleicht war ihre Reise nicht nur eine nach Spanien, sondern auch eine nach innen, zu Dingen, die sie lange übersehen hatte.

„Es ist verrückt, oder?“, sagte sie schließlich, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Wir reisen, wir suchen, wir finden Dinge, aber am Ende… sind wir immer noch wir selbst. Die Ängste bleiben. Vielleicht kann man sie nicht einfach ablegen.“

„Vielleicht nicht“, stimmte Sergio zu. „Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht versuchen können, mit ihnen zu leben. Und vielleicht ist es genau das, was uns wirklich verändert. Die Akzeptanz, dass wir nie alles unter Kontrolle haben.“

Isabella sah zu ihm hinüber, und in der Dunkelheit war es schwer zu sagen, ob er wirklich ruhig war oder ob auch er in diesem Moment genauso unsicher war wie sie. Doch in diesem Augenblick schien es, als ob sie sich beide gerade auf die gleiche Reise begeben hatten – nicht nach außen, sondern nach innen, zu den wahren Ängsten, die sie noch nicht verstanden hatten.

„Ich glaube, ich habe nie wirklich zugelassen, dass ich mich verliere“, sagte sie leise. „Ich habe immer versucht, die Kontrolle zu behalten. Aber jetzt… vielleicht ist es okay, nicht immer alles zu wissen. Vielleicht muss ich einfach anfangen, den Moment zu leben.“

Sergio nickte langsam, als er ihre Worte verstand. „Vielleicht müssen wir uns zuerst selbst vertrauen, um in der Lage zu sein, uns von allem zu befreien. Ich habe das nie getan. Und vielleicht… vielleicht ist das der nächste Schritt.“

Für einen Moment saßen sie schweigend nebeneinander, die Stille der Nacht umhüllte sie wie ein sanfter Mantel. Sie fühlte sich weniger allein, weniger in der Dunkelheit verloren. Es war, als ob sie in diesem Gespräch, unter dem Sternenhimmel, einen Teil von sich selbst wiedergefunden hatte. Sie waren sich so nah, dass sie den Geruch seiner Haut wahrnahm, Patschuli, Erde und Vanille.

„Wir werden sehen, wohin uns das führt“, sagte sie schließlich, ein kleines, fast schüchternes Lächeln auf ihren Lippen.

Sergio sah sie an, seine Augen im Schein der Sterne sanft und warm. „Ja. Aber was auch immer passiert, wir müssen weitergehen. Wir haben noch viel vor uns.“

Wiedererkennung

Der Wind blies kühl und frisch durch die Hügel von Galicien, als Isabella und Sergio einen abgelegenen Wanderweg entlanggingen, der sich durch das verlassene Dorf schlängelte. Es war ein Ort, der der Zeit entrückt schien: Die Häuser standen leer, die Fenster blickten mit leeren Augen in die Landschaft, und das Gras hatte sich wie ein weiches Kissen über die zerfallenen Mauern gelegt. Es war, als ob dieser Ort sich selbst vergessen hatte, ein Ort, an dem selbst die Erinnerung an die Menschen, die hier einst lebten, langsam zu verblassen begann.

Isabella trat vorsichtig durch das hohe Gras und blickte sich um. Die Stille war fast greifbar. Nur das Rauschen des Windes in den Bäumen und das entfernte Zwitschern eines Vogels durchbrachen die Ruhe. Es war ein Ort, an dem man sich leicht verlieren konnte, an dem die Zeit stillzustehen schien.

„Es ist seltsam“, sagte sie schließlich, „dieser Ort fühlt sich fast… lebendig an. Als ob er noch immer seine eigene Geschichte erzählt, aber wir sie nicht mehr verstehen.“

Sergio nickte, doch seine Augen waren auf einen schmalen Pfad in der Nähe gerichtet, der sich wie ein schmaler, moosbedeckter Tunnel durch das Dickicht zog. Der Pfad war nur schwach erkennbar, fast als ob die Natur ihn in ihrer ruhigen Weise in den Boden gezeichnet hatte. Sergio blieb plötzlich stehen, sein Blick fest auf den Weg gerichtet. Er hob eine Hand und berührte vorsichtig das Moos, das sich üppig über den Boden legte, als wollte er etwas spüren – etwas, das er schon einmal gesehen hatte.

„Das… das ist der Pfad“, murmelte er fast unhörbar.

Isabella drehte sich zu ihm um. „Welcher Pfad?“

„Der aus meinem Blog“, erklärte Sergio, seine Stimme war leiser, als er es beabsichtigt hatte, als ob er sich nicht ganz sicher war, ob er sich irrte. „Der Waldweg aus Galicien. Dieser Pfad… es ist, als würde ich ihn wiedererkennen. Der Nebel, das Moos, die Bäume…“

Er ließ die Hand wieder sinken und trat einen Schritt vor. Isabella sah ihn an, ein wenig verwirrt, doch auch fasziniert von der Intensität in seinem Blick. Sie folgte ihm, ohne ein Wort zu sagen, und gemeinsam gingen sie den schmalen Pfad entlang, der sich in den Wald hinein wandt.

Der Weg war von dichtem Moos bedeckt, und der Duft der feuchten Erde stieg ihnen in die Nase. Alles wirkte vertraut und zugleich neu, als ob sie auf einem unsichtbaren Band zwischen der Gegenwart und einer anderen Zeit wanderten. Die Bäume standen wie alte Wächter beiderseits des Pfades, ihre Äste knarrten im Wind, und das Rauschen des Waldes klang beinahe wie ein Flüstern, das Isabella nicht ganz entschlüsseln konnte.

Sergio ging langsamer, berührte immer wieder das Moos, das den Boden bedeckte, und schloss für einen Moment die Augen, als wolle er in den alten Erinnerungen versinken, die dieser Ort in ihm hervorrief. Isabella stand still hinter ihm und wartete, unsicher, ob sie ihn stören sollte.

„Es ist, als ob ich hier schon einmal war“, sagte er schließlich, seine Stimme war fast ein Flüstern. „Der Nebel, der Weg… es fühlt sich an, als würde alles an einen bestimmten Moment erinnern. An etwas, das ich nicht ganz begreifen kann.“

Er atmete tief ein, als würde er die Luft in sich aufnehmen wollen, die ihm so vertraut war und doch so fremd. Für einen Moment war es still zwischen ihnen. Der Pfad führte weiter, aber Sergio schien nicht weitergehen zu wollen. Er stand einfach da, seine Hand noch immer auf dem Moos, seine Augen geschlossen.

Isabella trat einen Schritt näher und berührte sanft seinen Arm. „Bist du sicher, dass es dieser Pfad ist?“

„Ich weiß es nicht ganz sicher“, antwortete er, öffnete die Augen und sah sie an, „aber es fühlt sich so an, als ob er mich ruft. Als ob ich hierhergehöre. Als ob ich diesen Weg schon einmal gegangen bin, bevor ich überhaupt wusste, dass er existiert.“

Isabella nickte. Sie verstand, dass es nicht nur der physische Weg war, den er meinte. Es war mehr. Der Pfad in seinen Gedanken, die Erinnerungen an die Vergangenheit, die wie ein gelebter Traum auf ihn wirkten, hatten jetzt eine Form angenommen. Ein unsichtbarer Faden verband ihn mit diesem Ort, und Isabella konnte den tiefen Eindruck spüren, den er hinterließ.

„Vielleicht“ sagte sie leise, „ist es ein Ort, an dem man Antworten findet. Oder Fragen, die man nie gestellt hat.“

Sergio blickte einen Moment lang nachdenklich auf den Pfad, der sich vor ihnen erstreckte, und dann wieder hinauf zu den Bäumen, die wie stille Zeugen die Geschichte der Vergangenheit bewahrten. Er nickte langsam.

„Vielleicht ist das der Weg, den ich gehen musste, um zu verstehen, wer ich wirklich bin. Vielleicht ist dieser Pfad der Schlüssel.“

Der Nebel begann sich langsam zu senken, und eine kühle Brise strich durch die Bäume. Der Wald war voller Leben, aber auch voller Geheimnisse, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden. Sergio schien einen Teil von sich selbst gefunden zu haben, und in diesem Moment wusste Isabella, dass auch sie auf ihrer eigenen Reise einen Schritt weitergekommen war.

Der Pfad vor ihnen war offen, doch sie wussten beide, dass die Antworten nicht immer einfach zu finden waren. Manchmal musste man warten, auf das richtige Timing, auf den richtigen Moment. Und vielleicht war dieser Moment genau jetzt.

Mit einem letzten Blick auf den Pfad, der so vertraut und doch so fremd war, ging Sergio weiter, und Isabella folgte ihm, bereit, die nächste Etappe ihrer eigenen Reise zu gehen.

Abspann
Kapitel um Kapitel wächst dieses Netz weiter – manchmal sanft und tröstlich, manchmal scharf und verletzend. Doch wer genau hinhört, entdeckt darin nicht nur das Getuschel der Nachbarn, sondern auch die Geschichten, die das Dorf zusammenhalten. Und wie jede Erzählung in Encina Alta führen sie uns tiefer hinein, Schritt für Schritt.

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Sergio und Isabella in einem Restaurant. Auf dem tisch stehen verschiedene Tapas und sie haben Rotwein vor sich.

Kapitel 17 – Auf den Spuren der Vergangenheit

Vorspann:
Ein verregneter Nachmittag führt Isabella und Sergio tiefer hinein in die Geschichte seiner Familie. Alte Dokumente und vergilbte Fotos öffnen Türen zu Geheimnissen, die seit Generationen verborgen liegen – und gleichzeitig wächst eine Nähe zwischen den beiden, die niemand vorausgeahnt hätte.

Hier geht es zurück zu Kapitel 16 – Stein und Stille!

Auf den Spuren der Vergangenheit

Es war ein regnerischer Nachmittag, als Sergio sie bat, ihm bei etwas zu helfen, das er schon lange vor sich herschob. Sie saßen in seinem kleinen Arbeitszimmer, das mehr nach einem chaotischen Archiv als einem Büro aussah. Überall lagen alte Papiere, Bücher, und Karten. Der Geruch von Staub und altem Papier hing in der Luft, während draußen der Regen gegen das Fenster trommelte.

„Es geht um meinen Urgroßvater“, begann er, während er eine vergilbte Fotografie aus einer Box holte. Es zeigte einen jungen Mann in einem Anzug, schmal und ernst, mit einem langen, dunklen Bart. „Er verschwand 1947, während des Bürgerkriegs. Niemand weiß, was mit ihm passiert ist.“

Isabella nahm das Bild in die Hand und betrachtete es aufmerksam. „Warum weiß niemand, was passiert ist?“

„Er war in der Armee der Republik, aber seine Einheit wurde aufgelöst, als Franco die Macht übernahm. Danach gibt es keine Aufzeichnungen mehr. Er wurde nie gefunden. Niemand hat ihm nachgetrauert, niemand hat nach ihm gesucht.“ Seine Stimme wurde leiser, als er das letzte Wort sprach.

Isabella sah ihn an und spürte die Schwere seiner Worte. „Das ist… tragisch.“

„Ja“, sagte er und ließ sich auf den Stuhl sinken. „Aber es ist mehr als das. Es ist, als würde ein Teil der Geschichte meiner Familie fehlen, als könnte ich nicht wirklich verstehen, wer ich bin, wenn ich nicht weiß, was mit ihm passiert ist.“

Er schaute sie an, die Augen voller Hoffnung. „Ich habe einige Aufzeichnungen, alte Briefe, militärische Dokumente, aber ich komme nicht weiter. Vielleicht… vielleicht kannst du mir helfen?“

Isabella nickte, ohne zu zögern. „Klar. Wie genau kann ich dir helfen?“

Er holte eine Sammlung von Papieren hervor und breitete sie vor ihr aus. „Ich habe einige alte Adressbücher, die er damals benutzt haben muss, und es gibt ein paar Einträge über seinen Verbleib in einem Archiv in Barcelona. Aber ich komme nicht weiter und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“

„Lass uns das Schritt für Schritt durchgehen“, schlug Isabella vor. Sie hatte nie Interesse an Ahnenforschung gehabt, aber die Idee, etwas so Persönliches und Wichtiges für Sergio herauszufinden, berührte sie tief.

Sie verbrachten den Rest des Nachmittags damit, die alten Dokumente zu sortieren. Sergio half ihr, die spanischen Worte zu verstehen, und sie suchten online nach weiteren Hinweisen. Bei jeder neuen Entdeckung wuchs die Verbindung zwischen ihnen. Die Arbeit an diesem persönlichen Rätsel brachte sie näher zusammen, als Worte es je hätten tun können.

„Was, wenn wir nie herausfinden, was passiert ist?“, fragte sie leise, als sie ein weiteres, hoffnungsloses Archivdokument betrachteten.

„Dann bleibt die Geschichte für immer ein Teil von uns, auch wenn wir die Antworten nicht finden“, antwortete er, ohne sie anzusehen. „Aber ich kann nicht aufhören zu suchen.“

Isabella spürte eine unerklärliche Nähe, als sie über seine Schulter schaute, während er durch die nächsten Seiten blätterte. Sie wusste nicht, ob sie mehr für das Geheimnis seiner Familie empfand oder für Sergio selbst. Es war ein Gefühl, das sie nicht in Worte fassen konnte, aber es war da, zwischen ihnen, spürbar und ungesagt.

„Ich werde dir helfen, Sergio“, sagte sie schließlich und berührte leicht seine Hand. „Egal, wie lange es dauert.“

Er sah sie an, seine Augen weich und dankbar. „Danke. Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet.“

In diesem Moment war es nicht nur die Recherche, die sie zusammenbrachte. Es war das Gefühl, gemeinsam auf etwas Größeres hinzuarbeiten. Etwas, das sie beide verband – nicht nur durch die Geschichte, sondern durch ihre gemeinsame Reise in die Vergangenheit.

Ein gemeinsamer Moment

Es war ein Abend, an dem der Regen nachgelassen hatte, und die Luft draußen war frisch und kühl. Isabella und Sergio hatten sich dazu entschieden, nicht mehr weiter in den Dokumenten zu blättern. Stattdessen hatten sie ein kleines, gemütliches Restaurant in der Nähe ausgewählt, das für seine Tapas bekannt war – eine kleine, aber feine Oase im Herzen der Altstadt.

Sie saßen an einem runden Tisch in der Ecke, das Licht war gedämpft, und die Atmosphäre war entspannt. Isabella hatte das Gefühl, dass der Tag anstrengend gewesen war, aber auf eine gute Weise. Es war eine der ersten Nächte, in denen sie sich wirklich in Spanien angekommen fühlte. Nicht nur in einem neuen Land, sondern auch in einer neuen Lebensphase.

„Ich weiß nicht, ob du es je erwähnen hast, aber was isst du eigentlich am liebsten?“, fragte Isabella, als sie das Menü studierte.

Sergio sah auf, ein kleines Lächeln auf den Lippen. „Du wirst lachen, aber… Paella. Einfach. Nichts dabei.“

„Das ist nicht einfach“, sagte Isabella lachend. „Das ist ein Klassiker!“

„Ja, aber für mich ist es auch irgendwie… Erinnerungen. Als Kind, bei meinen Großeltern. Alles, was mit Paella zu tun hat, hat immer ein Stück meiner Kindheit. Du weißt, der Duft, der durch das Haus zieht. Aber eigentlich…“, er zögerte einen Moment, „eigentlich mag ich auch die einfachen Dinge: Brot, Oliven, Käse. Es muss nicht viel sein.“

Isabella nickte nachdenklich. „Ich verstehe. Ich habe nie viel Wert auf diese kleinen, aber besonderen Dinge gelegt. Vielleicht… habe ich sie nie richtig zu schätzen gewusst.“

Sergio sah sie aufmerksam an, als er das hörte. „Manchmal muss man erst weit weggehen, um das zu verstehen“, sagte er leise.

Kurz darauf brachte der Kellner die ersten Tapas. „Probier mal diese Albóndigas“, sagte Sergio, als er ihr einen kleinen Teller mit Fleischbällchen hinstellte. „Die sind unglaublich.“

Isabella nahm eine und probierte vorsichtig. „Mmmh… du hast recht. Die sind gut.“

Während sie aßen, redeten sie nicht nur über die Reise, sondern auch über alltägliche Dinge. Isabella erzählte von ihren Kollegen, die immer in Hektik lebten und nie wirklich Zeit für sich selbst fanden. Sergio lachte und erzählte von den eigenwilligen Charakteren in seiner Familie, von seinem Onkel, der stets darauf bestand, dass der „alte Weg“ der einzig wahre war, und seiner Tante, die immer mit einem Lächeln davon sprach, „die ganze Welt zu erobern“.

Das Gespräch fließend, begleitet von Lachen, das die Tischdecke füllte. Zwischen den Gängen fühlte sich die Atmosphäre locker an, beinahe so, als ob sie sich schon Jahre lang kannten.

„Es ist schon verrückt“, sagte Isabella nach einer Pause. „Ich habe das Gefühl, als würde ich mich in einem völlig anderen Leben wiederfinden. Als würde ich die letzten Jahre in Deutschland wie durch einen Nebel sehen. Wie ein anderer Mensch.“

Sergio nickte. „Manchmal braucht es einen Ort wie diesen, um wirklich zu verstehen, wer man ist. Oder wer man sein könnte.“

Sie spürte, dass in seinen Worten mehr lag als nur ein oberflächlicher Austausch. Etwas Unausgesprochenes, das sie beide in diesem Moment teilten. Eine Reise, die über das Entdecken von Orten hinausging. Es war eine Reise zu sich selbst, und sie waren einander dabei nicht mehr ganz so fremd.

„Ich glaube, ich habe nicht gewusst, wie viel ich vermisst habe“, sagte sie schließlich. „Wie wenig ich wirklich für mich selbst lebe.“

Sergio sah sie an, und sein Blick war warm, fast fürsorglich. „Es ist nicht zu spät, Isabella. Wir können immer noch lernen, was es bedeutet, wirklich zu leben.“

Sie hielt für einen Moment inne, dann nickte sie leise, als ob sie den stillen, aber mächtigen Hinweis in seinen Worten begriff. Etwas in ihr schwang mit, als ob sie gerade den ersten Schritt auf einem neuen Weg getan hatte. Die vertrauliche Nähe zwischen ihnen war gewachsen, nicht durch große Gesten oder Worte, sondern durch das stille Verständnis, das sich in diesem Moment zwischen ihnen aufbaute.

Der Abend neigte sich dem Ende zu, und als sie aus dem Restaurant traten, war die Nacht noch jung. Der Himmel war klar, und die Straßen von der feuchten Abendluft glitzernd. Isabella zog die Jacke enger um sich und ging neben Sergio, als sie den sanften Klang ihrer Schritte auf dem Kopfsteinpflaster hörte.

„Ich bin froh, dass wir heute Abend hier sind“, sagte sie, als sie ihn anblickte.

„Ich auch“, sagte er leise. „Vielleicht sind wir hier genau zur richtigen Zeit.“

In diesem Moment, bei dem stillen Erlöschen der Lichter der Stadt, fühlte sich alles richtig an. Es war nicht nur das Essen, nicht nur die Gespräche – es war der Moment, der sie beide verband. Die erste echte Vertrautheit.

Abspann:
Zwischen Archivrecherche und Tapas-Abend entsteht mehr als nur ein gemeinsames Projekt. Isabella und Sergio spüren, dass sie nicht nur nach Antworten in der Vergangenheit suchen – sondern auch nach ihrem Platz im Hier und Jetzt.

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Ein Strand im Sonnenuntergang, Felsen im Hintergrund, schwarzer Sand und sanfte Brandung

Kapitel 16 – Stein und Stille

Vorspann

Manchmal sind es stille Orte, die mehr bewegen als große Ereignisse. In diesem Kapitel begleite ich Isabella und Sergio zu einer alten Kapelle und weiter ans Meer – zwei Stationen, die für sie zu Wendepunkten werden. Vielleicht entdeckt ihr zwischen den Zeilen, was sich da verändert.

Zurück zu Kapitel 15 – Ein Platz, der nicht mehr leer ist

Stein und Stille

Die Kapelle lag versteckt auf einem Hügel, eingerahmt von wildem Ginster und alten Olivenbäumen. Ein unscheinbarer Bau aus grobem Stein, der sich in die Landschaft schmiegte, als sei er schon immer Teil von ihr gewesen. Der Weg dorthin war steil und schmal, und als sie die letzten Stufen erklommen, blieben beide für einen Moment schweigend stehen.

„Ich war als Kind oft hier“, sagte Sergio leise. „Meine Großmutter brachte mich her, wenn sie betete. Ich verstand nichts davon – aber ich mochte den Geruch. Wachs, Staub, altes Holz.“

Isabella trat vorsichtig ein. Die schwere Tür knarzte und gab den Blick frei auf einen kargen Raum mit einfachen Bänken und einer kleinen Figur der Virgen del Camino, deren Gesicht im Halbschatten lag. Nur ein paar Kerzen brannten. Es war kühl, still, fast ehrfürchtig.

Sie setzten sich nebeneinander in die letzte Reihe. Die Stille war so vollkommen, dass man das eigene Atmen hörte.

„Ich bin nicht religiös“, flüsterte Isabella.

„Ich auch nicht wirklich. Aber… manchmal glaube ich, Orte tragen Erinnerungen. Auch für die, die sie nicht selbst erlebt haben.“

Isabella fuhr mit der Hand über die raue Holzlehne der Bank. Sie dachte an das graue Büro, an die Neonlichter, an die Abende vor dem Fernseher. Und daran, wie weit das alles plötzlich entfernt schien.

„Es fühlt sich an wie… eine Schwelle“, sagte sie schließlich. „Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Zwischen hier und nirgendwo.“

Sergio nickte. „Vielleicht genau deshalb komme ich her. Um nicht ganz zu verschwinden.“

Sie sah zur Madonna. Ihre Züge waren schlicht, aber nicht hart. Es lag eine stille Güte darin, etwas Trostspendendes.

Isabella schloss die Augen. Und für einen Moment spürte sie etwas, das sie nicht benennen konnte – nicht Glaube, nicht Hoffnung. Aber Nähe. Als würde ein Teil von ihr, den sie lange nicht gespürt hatte, plötzlich aufatmen.

Als sie die Kapelle später verließen, war das Licht weicher geworden. Der Wind hatte sich gelegt. Und obwohl sie kein einziges Gebet gesprochen hatten, fühlte es sich an, als wäre etwas in Bewegung geraten.

Der Weg zum Meer

Am frühen Morgen brachen sie auf. Sergio hatte vorgeschlagen, ans Meer zu fahren – ein kleiner Ort, nicht in den Reiseführern, eine Bucht mit schwarzem Sand und kantigen Felsen, „wie aus einer anderen Welt“, hatte er gesagt.

Sie saßen in seinem alten Wagen, das Fenster auf seiner Seite halb geöffnet, Musik leise aus den Lautsprechern – etwas Spanisches, das sich für Isabella melancholisch und lebendig zugleich anfühlte. Die Straße wand sich durch Wälder und Hügel, und mit jedem Kilometer schien der Alltag weiter hinter ihr zu verschwinden.

„Warst du schon oft dort?“, fragte sie.

„Nur ein paar Mal. Aber jedes Mal denke ich: Ich muss zurück. Vielleicht, weil ich dort niemandem etwas beweisen muss.“

„Auch nicht dir selbst?“

Er lächelte kurz, ohne zu antworten.

Als sie ankamen, lag die Bucht verlassen unter einem graublauen Himmel. Das Meer atmete ruhig, in langen, rollenden Wellen. Keine Touristen, nur ein paar Möwen, die sich gegen den Wind stemmten.

Sie gingen nebeneinander am Wasser entlang. Isabella zog die Schuhe aus, tauchte ihre Füße ins kalte Meer und schrie leise auf, lachte dann – das erste freie Lachen, das Sergio von ihr hörte.

Später saßen sie auf einer flachen Felsplatte, teilten Brot, Oliven und Käse, den sie unterwegs gekauft hatten. Ihre Beine berührten sich flüchtig, ein fast zufälliger Kontakt – aber keiner von beiden wich zurück.

„Ich frage mich oft, ob ich zu viel laufe“, sagte Sergio irgendwann. „Ob es eine Grenze gibt zwischen Suchen und Fliehen.“

Isabella sah hinaus auf die glitzernde Wasseroberfläche. „Vielleicht ist es nur Flucht, wenn man gar nicht weiß, was man sucht.“

Er sah sie an, länger als nötig. „Und du? Was suchst du?“

„Ich weiß es noch nicht“, sagte sie ehrlich. „Aber ich glaube, ich fange gerade erst an.“

Ein Windstoß fuhr über das Wasser und ließ ihr Haar tanzen. Sergio hob die Hand, strich eine Strähne aus ihrem Gesicht – langsam, zögerlich. Und in diesem Moment war die Nähe nicht mehr zufällig, sondern gewollt.

Der Nachmittag verging wie im Flug. Als sie zurückfuhren, sagte keiner von beiden viel. Aber als Isabella am Abend in ihrem Zimmer die Salzkruste auf ihrer Haut spürte, wusste sie: Etwas hatte sich verändert.

Abspann

Zwischen Stein und Wasser, Stille und Bewegung, hat sich etwas gelöst. Noch ohne Namen, doch wie ein Versprechen, das im nächsten Kapitel weiterklingen wird.

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