Encina Alta

Ein Haus in Oviedo. Auf den Platz davor steht ein Stuhl, keine Menschen zu sehen.

Kapitel 15 – Ein Platz, der nicht mehr leer ist

Vorspann:

Oviedo im Licht eines stillen Vormittags.
Alte Balkone, flatternde Tücher, das Echo früherer Schritte.
Isabella und Sergio schweigen mehr, als sie sprechen –
und doch rückt etwas näher, das lange fern war:
ein Gefühl von Vertrautheit,
ein Schatten von Erinnerung,
ein Platz, der nicht mehr leer ist.

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Pflastersteine und erste Worte

Die Altstadt von Oviedo wirkte wie aus einem anderen Jahrhundert. Kopfsteinpflaster, das bei jedem Schritt unter Isabellas Schuhen leise klackte, Häuser mit schmiedeeisernen Balkonen, an denen bunte Wäsche flatterte. Die Straßen waren eng, aber voller Leben: Alte Männer spielten Domino vor Cafés, ein Straßenmusiker zupfte eine melancholische Melodie auf seiner Gitarre, irgendwo roch es nach gerösteten Maronen.

Sergio ging neben ihr, in entspanntem Tempo. Immer wieder zeigte er auf etwas – eine geschnitzte Tür, eine winzige Bäckerei mit seit Generationen unverändertem Schaufenster – und erzählte kleine Anekdoten. Mal auf Englisch, mal auf Spanisch, während Isabella versuchte, die Bruchstücke zu verstehen. Sie fragte nach, manchmal nur mit einem Blick, einem Stirnrunzeln – und er wiederholte geduldig, mit Händen, mit Lächeln.

„Diese Straße hier“, sagte er und zeigte auf eine besonders verwinkelte Gasse, „ist wie mein Gedächtnis. Ungeordnet, manchmal verloren, aber voller Geschichten.“

Isabella schwieg. Nicht, weil ihr nichts einfiel, sondern weil sie das Gefühl hatte, er meinte damit mehr als nur die Straße.
„Hast du schon Orte gefunden, die dich… erinnern?“ fragte sie vorsichtig.

Er zuckte mit den Schultern. „Ein paar. Oder vielleicht bilde ich es mir ein. Manchmal weiß man nicht, ob man etwas erkennt – oder ob man es sich nur wünscht.“

Sie nickte. Diese Art von Suche war ihr nicht fremd, nur hatte sie sie lange ignoriert.

Einige Minuten gingen sie schweigend weiter. Dann fragte er: „Und du? Wie ist deine Stadt?“

Isabella schnaubte leise. „Grau. Flach. Und die Menschen schauen selten nach oben.“
Sergio lachte. „Dann passt du nicht dorthin. Du schaust oft nach oben.“

Sie errötete, überrascht, dass er das bemerkt hatte.

Als sie später vor einer kleinen Kapelle standen und Sergio ihr erklärte, dass sie aus dem 9. Jahrhundert stammte, berührte Isabella zum ersten Mal eine der rauen Steinmauern. Sie schloss kurz die Augen, fühlte die Kühle unter ihren Fingern, die Geschichte. Neben ihr schwieg Sergio, und sie hatte das Gefühl, dass er genau verstand, was sie in diesem Moment suchte.

Es war kein spektakulärer Spaziergang. Keine großen Offenbarungen. Aber es war ein Anfang – auf alten Wegen, mit vorsichtigen Worten, getragen von einer Stille, die kein Unbehagen bedeutete.

Geschichten in der Nachmittagssonne

Sie saßen auf einer kleinen Steinmauer oberhalb der Altstadt, mit Blick auf die hügelige Landschaft Asturiens. Die Nachmittagssonne lag warm auf den roten Dächern, während unten in der Ferne die Glocken der Kathedrale läuteten. Es war ruhig. Nur ab und zu wehte eine Brise herüber und spielte mit einer Haarsträhne in Isabellas Gesicht. Sergio beobachtete sie kurz, sagte aber nichts.

„Ich habe lange gedacht, dass mein Leben so bleiben muss, wie es ist“, begann sie schließlich, leise. „Gelsenkirchen, Bürojob, allein. Kein Drama. Kein Aufbruch. Einfach… durchhalten.“

Sergio antwortete nicht sofort. Stattdessen reichte er ihr eine Feige, die er auf dem Markt gekauft hatte. Sie nahm sie, biss hinein. Sie schmeckte süß, weich, überraschend.

„Und warum nicht mehr?“ fragte er dann.

„Weil niemand mir je gesagt hat, dass mehr möglich ist. Oder dass ich es darf.“
Sie schaute auf ihre Hände. „Bis ich deinen Blog gelesen habe.“

Er sah sie an, ernst. „Das war nie meine Absicht. Ich wollte nur… verstehen, woher ich komme.“

Sie nickte. „Aber genau das hat mich berührt. Du bist auf der Suche. Nicht nur nach einem Ort, sondern nach einer Geschichte. Nach einer Wahrheit.“

Sergio lächelte flüchtig. „Mein Urgroßvater ist 1947 verschwunden. Einfach nicht mehr zurückgekehrt. Niemand sprach darüber. Aber ich habe als Kind gespürt, dass da etwas Ungesagtes war. Etwas, das fehlt. Und irgendwie glaube ich, dass der Wald damals in Galicien… dass er mehr wusste als ich.“

Isabella sah ihn erstaunt an.
„Der Wald?“

„Ja“, sagte Sergio. „Er war neblig, still. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich nicht allein war. Als wäre mein Uropa da. Nicht sichtbar, aber irgendwie… fühlbar.“

Eine Weile schwiegen sie. Nur das entfernte Kreischen einer Möwe war zu hören.

„Ich habe niemanden verloren“, sagte Isabella dann. „Aber ich habe mich selbst irgendwann verlegt. Zwischen Excel-Tabellen, SAP und Kaffeetassen.“

„Und jetzt?“

Sie sah ihn an.
„Jetzt versuche ich, mich wiederzufinden. Vielleicht auf demselben Weg, den du gehst. Oder einem ganz anderen.“

Sergio nickte langsam. „Vielleicht treffen sich Wege manchmal. Für einen Moment. Und das reicht.“

Sie spürte, wie sich etwas in ihr verschob – eine Art innerer Platz, der bisher leer gewesen war. Nicht vollständig gefüllt, aber nicht mehr leer. Sie blickte in den Himmel. Keine Gewissheit. Aber ein Anfang.

Abspann:

Manchmal verändert sich nichts –
und doch ist danach alles anders.
Ein Gespräch, ein Blick, ein geteiltes Schweigen.
Die Stadt bleibt dieselbe.
Aber der Platz in uns beginnt, sich zu füllen.

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Spanische Marktszene im Sonnenschein: Stände mit Tomaten, Orangen, Paprika und Bananen, Menschen im Gespräch, im Vordergrund Isabella und Sergio, die einander zum ersten Mal begegnen.

Kapitel 14 – Zögernde Schritte

📖 Vorspann:
„Ankommen heißt noch nicht Zuhause sein. Doch zwischen Marktständen, Straßenmusik und vorsichtigen Gesten begegnen Isabella und Sergio einander wirklich.“

Kapitel 13 verpasst? Hier entlang!

Ankunft im Licht

Als das Flugzeug zur Landung ansetzte, wurde der Horizont klar. Die Wolkendecke war aufgerissen, und darunter erstreckte sich eine Landschaft, die in sattem Grün und weichen Hügeln leuchtete. Wälder, Felder, winzige Dörfer mit Terrakotta-Dächern – alles schien in sanftes Licht getaucht, als wolle es die Fremde willkommen heißen.

Isabella hielt den Atem an. Es war, als hätte sie ein Gemälde betreten.

Der Flughafen von Santander war klein und übersichtlich. Kaum hatte sie das Terminal verlassen, roch sie das Meer – salzig, frisch, mit einem Hauch von Algen und etwas, das sie nicht benennen konnte. Vielleicht war es die Freiheit.

Sie hatte nur einen kleinen Koffer dabei. Der Bus ins Stadtzentrum ruckelte über enge Straßen, vorbei an Palmen, alten Mauern und Häusern mit verwaschenen Fassaden, die Geschichten zu erzählen schienen. Die Fenster standen offen, das Licht fiel weich durch weiße Vorhänge. Menschen saßen draußen in Cafés, tranken Kaffee, lachten. Kein hektisches Drängen, kein grauer Trott.

Die Farben waren anders hier. Das Blau des Himmels wirkte tiefer, das Grün lebendiger. Selbst der Wind fühlte sich weich an.

Isabella stieg am zentralen Platz aus, ihre Knie noch etwas wacklig vom Flug. Ein Platz mit alten Kastanienbäumen, Kopfsteinpflaster, ein Brunnen in der Mitte. Kinder spielten, ein Straßenmusiker spielte Gitarre.

Sie blieb stehen und ließ den Moment in sich sinken.

Ich bin hier, dachte sie. Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich – nicht sicher, aber wach.

Dann zog sie ihr Handy aus der Tasche und schrieb eine kurze Nachricht:
„Bin angekommen. Alles fühlt sich echter an.“

Sergios Antwort kam nur wenige Minuten später:
„Willkommen. Ich zeig dir morgen mein Lieblingscafé. Wir treffen uns um 11 Uhr auf dem Markt.“

Isabella lächelte.
Der erste Tag war noch nicht vorbei – und es fühlte sich schon an wie der Anfang eines neuen Lebens.

Zwischen Ständen und Worten

Der Wochenmarkt lag auf einem kleinen Platz zwischen alten Steinhäusern. Schon von Weitem hörte Isabella das Stimmengewirr, das Rufen der Händler, das Krachen von Obstkisten. Die Luft war erfüllt vom Duft reifer Orangen, von gebratenem Fisch, frisch gebackenem Brot und der leichten Schärfe von Manchego-Käse. Menschen schoben sich dicht aneinander vorbei, es war lebendig, chaotisch, und doch wirkte alles harmonisch – ein gewachsener Rhythmus, zu dem sie noch keinen Zugang hatte.

Sie trug ihren Rucksack locker über der Schulter, das Handy in der Hand. „Ich bin gleich da“, hatte Sergio geschrieben. Ihr Herz klopfte schneller, als sie sich zwischen den Ständen bewegte, als suchte sie nach einem versteckten Signal.

Und dann sah sie ihn.

Er stand an einem Obststand, die Sonnenbrille in die Haare geschoben, ein Netz mit Zitronen in der Hand, das Handy lässig in der anderen. Kein Zweifel: Sergio Menéndez Clavero, der Mann von den Fotos. Nur wirkte er in echt noch etwas schlaksiger, lebendiger, wärmer. Seine Bewegungen waren ruhig, fast langsam – jemand, der sich Zeit nahm.

Isabella blieb kurz stehen.
Dann hob er den Blick – und erkannte sie sofort.

Ein Lächeln zog sich über sein Gesicht, offen, ohne Zögern. Er kam auf sie zu.
„Isabella?“ fragte er mit weichem Akzent.

„Ja…“ Ihre Stimme war leiser, als sie es geplant hatte. Sie lächelte zurück, ein bisschen unbeholfen.

Ein kurzer Moment, in dem beide nicht genau wussten, wie man sich begrüßt, wenn man sich eigentlich längst kennt, aber doch fremd ist. Schließlich gab er ihr einfach die Hand – seine warm, fest, ehrlich.

„Du bist wirklich gekommen.“

„Ich konnte nicht anders.“

Er lachte leise, fast überrascht. „Dann zeig ich dir jetzt meinen Lieblingsmarkt.“

Sie gingen nebeneinanderher, zwischen den Ständen. Er deutete auf getrocknete Tomaten, auf einen Stand mit alten Olivensorten, erklärte, wie man „pimientos de padrón“ richtig brät. Isabella hörte mehr als sie sprach – die Wörter klangen weich, rollten anders durch den Raum. Und dazwischen spürte sie etwas: Neugier, vorsichtige Vertrautheit. Keine Romantik, noch nicht – aber die Ahnung von etwas, das wachsen könnte.

Als sie schließlich gemeinsam auf einer kleinen Mauer saßen und Churros aßen, sagte Sergio, ohne sie anzusehen:
„Ich wusste nicht, ob du wirklich kommst. Aber ich bin froh, dass du’s getan hast.“

Isabella nickte. „Ich auch.“

In diesem Moment schien sogar der Lärm des Markts für einen Augenblick still zu stehen.

Zögernde Schritte

Isabella spürte ihre eigenen Hände zu deutlich, als sie nebeneinander durch die engen Gassen liefen. Jeder Schritt hallte leicht auf dem Pflaster wider, begleitet vom Summen der Stadt – Gesprächsfetzen, ein bellender Hund, irgendwo das metallene Klappern eines Rollladens. Sergio schien ebenfalls nicht ganz bei sich. Er nestelte an seinem Rucksackriemen, streifte sich immer wieder die Haare aus der Stirn, obwohl der Wind das längst erledigt hatte.

„Ich spreche kein Deutsch. Es ist seltsam, jetzt… mit dir zu sprechen“, sagte er schließlich auf Englisch. Sein Blick war kurz, fast scheu, aber freundlich.

„Dein Englisch ist besser als mein Spanisch“, entgegnete Isabella und lachte leise. Dann schob sie rasch ein „Gracias“ hinterher – ihr erster Versuch, mutig, unbeholfen.

Sergio lächelte schief. „Muy bien.“
Sie lächelte zurück, ein bisschen erleichtert.

Es war diese seltsame Zwischenzeit: nicht mehr anonym, aber noch keine Freunde. Sie wussten viel übereinander und doch war alles neu. Wie seine Stimme klang, wenn er ganz leise sprach. Wie sie an ihrem Ohrläppchen zupfte, wenn sie verlegen war.

„Ich weiß nicht genau, was du dir von dieser Reise erhoffst“, sagte er irgendwann, während sie an einer kleinen Kirche vorbeikamen, deren Türen offenstanden.
„Ich auch nicht“, gab sie ehrlich zurück. „Nur, dass ich da sein wollte, wo du warst.“

Er blieb stehen. Schaute sie an. Keine großen Worte. Nur ein Nicken, langsam. Dann gingen sie weiter. Zwei Menschen auf zögernden Schritten, nervös – aber mit einem kleinen, wachsenden Funken im Herzen: Neugier. Vielleicht auch etwas mehr.

📎 Abspann:
„Manchmal beginnt Nähe nicht mit großen Worten, sondern mit kleinen Gesten im Lärm einer fremden Stadt.“

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Blick aus dem Flugzeugfenster, die Wolken schimmern im Sonnenlicht

Kapitel 13 – Über den Wolken

📖 Vorspann:
„Ein letzter Kaffee im Büro, ein ehrliches Lächeln, dann der Sprung ins Ungewisse. Isabella steigt ins Flugzeug – und zum ersten Mal beginnt ihre Reise wirklich.“

Hier geht es zurück zu Kapitel 12- Bleib nicht stehen

Kapitel 13

Isabella lehnte sich zurück. Ein stilles Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Es war kein großer Triumph. Niemand hatte applaudiert, niemand hatte es bemerkt. Aber in ihr war etwas in Bewegung geraten. Kein Traum mehr, keine bloße Sehnsucht – sondern ein erster Schritt.

In zwei Monaten würde sie zum ersten Mal allein reisen. Nach Spanien. Nicht zu Sergio, nicht zu einem Ziel, das schon feststand – sondern auf einen Weg, der endlich ihr eigener war.

Abschied in der Kaffeeküche

Der letzte Arbeitstag vor dem Urlaub war überraschend still. Keine Überraschungen, keine Katastrophen, nur das leise Surren der Klimaanlage und das Tippen der Tastaturen. Isabella hatte die Stunden gezählt, nicht weil sie sich langweilte, sondern weil etwas Neues zum Greifen nah war.

In der Kaffeeküche goss sie sich ein letztes Mal für die Woche einen Becher Filterkaffee ein, als Daniela hereinkam. Die Kollegin, mit der sie sich in den letzten Monaten zaghaft angefreundet hatte – über Mittagspausen, geteilte Blicke im Büro, kleine Gespräche über Reisen und Bücher.

„Du siehst anders aus und das liegt nicht nur an deiner Frisur.“, sagte Daniela mit einem prüfenden Blick. „Irgendwie… heller.“

Isabella musste lachen. „Vielleicht liegt’s am Kaffee.“

„Du hast doch Urlaub, oder? Wohin geht’s?“

Isabella zögerte. Sie hatte niemandem genau erzählt, was sie plante. Nicht aus Geheimniskrämerei, sondern weil es sich so fragil angefühlt hatte, wie etwas, das zerbrechen könnte, wenn man zu früh darüber sprach.

Aber jetzt nickte sie.

„Spanien. Zwei Wochen.“

„Allein?“, fragte Daniela überrascht, aber ohne Spott.

„Ja.“ Isabella blickte in ihre Tasse, dann zu Daniela. „Ich muss etwas herausfinden.“

Daniela nickte langsam, als würde sie verstehen, auch wenn sie keine Fragen stellte. „Na dann… ich hoffe, du findest es.“

Ein Lächeln. Ein ehrlicher Moment zwischen zwei Frauen, die beide mehr zu fühlen schienen, als sie aussprachen.

„Pass auf dich auf“, sagte Daniela.

„Mach ich“, antwortete Isabella. Und innerlich fügte sie hinzu: Endlich.

Über den Wolken

Der Flughafen war laut und überfüllt, das Neonlicht grell und unbarmherzig. Menschen hetzten mit Rollkoffern über die glänzenden Böden, Ansagen hallten über Lautsprecher, Stimmen in vielen Sprachen, von fernes Leben, die sich kreuzten und wieder verloren.

Isabella saß am Gate, den Rucksack auf dem Schoß, das Ticket fest in der Hand. Ihre Finger zitterten leicht, obwohl sie es sich nicht eingestehen wollte. Auf dem Bildschirm über ihr stand: Flug EW2516 – Düsseldorf nach Santander – pünktlich.

Zum ersten Mal in ihrem Leben flog sie allein.

Ihr Herz klopfte wie bei einer Prüfung, deren Fragen sie nicht kannte. Was mache ich da eigentlich? flüsterte eine Stimme in ihr. Du gehörst hier nicht hin. Doch sie dachte auch an die Zeilen aus Sergios letztem Blogbeitrag. An den nebligen Pfad, an das Kind, das durch den Wald ging, an das Verschwinden seines Urgroßvaters, das ihn nie losgelassen hatte.

Jetzt verstand sie diesen Nebel ein wenig besser. Angst war nicht das Ende, sondern vielleicht der Anfang.

Als sie durch den Gang zum Flugzeug ging, spürte sie, wie ihr Magen sich zusammenzog. Die letzten Monate blitzten auf wie ein innerer Film: das Büro, die Tränen in der Nacht, das heimliche Spanischlernen, der erste Kommentar, der Traum im Nebel.

Dann hob das Flugzeug ab. Düsseldorf wurde kleiner, die Straßen zu Linien, die Häuser zu Schachteln, und bald verschluckten die Wolken alles.

Isabella blickte aus dem Fenster. Ihr Puls ging schneller, während die Turbinen dröhnten. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete. Aber da war dieses Gefühl – eine zarte Mischung aus Hoffnung und Angst.

Sie atmete tief ein. Ich bin unterwegs.

📎 Abspann:
„Manchmal ist ein Flug mehr als ein Flug – er ist das Versprechen, dass das Alte unten bleibt.“

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Ein startendes Flugzeug im Sonnenuntergang von einem Fenster aus gesehen

Kapitel 12 – Bleib nicht stehen

📖 Vorspann:
Ein Satz, eine Antwort – und plötzlich bewegt sich etwas. Isabella wagt den ersten unwiderruflichen Schritt hinaus aus ihrem alten Leben.

Zurück zu Kapitel 11 – Karten im Kopf

Ein Lichtstreif im Posteingang

Isabella saß am nächsten Tag noch lange vor dem Bildschirm, obwohl ihre Aufgaben längst erledigt waren. Die Worte von Frau Klenke hallten in ihr nach wie ein Echo, das sich nicht abschütteln ließ. Fehler. Konzentration. Verlässlichkeit. Alles klang wie ein Urteil über ihr ganzes Leben, nicht nur über eine Tabelle.

Und dazwischen blitzten, wie aus einer anderen Welt, noch immer einzelne Bilder von gestern auf – das andalusische Landhaus im Abendlicht, der gedeckte Tisch, das Gelb der Wände.

Sie öffnete einen neuen Tab, fast automatisch. Sergios Blog war wie ein Zufluchtsort geworden – weit entfernt von fluoreszierendem Licht und künstlicher Höflichkeit. Doch heute war selbst sein letzter Beitrag über einen nebligen Morgen in den Bergen Aragoniens nicht genug, um die Unruhe in ihr zu beruhigen.

Nach langem Zögern klickte sie auf „Kontakt“. Eine kleine Nachricht, nur ein paar Sätze:

„Hola Sergio,
Ich wollte nur sagen, dass mich deine Texte in letzter Zeit sehr berühren. Ich habe heute einen dieser Tage, an denen man an allem zweifelt – besonders an sich selbst. Vielleicht kennst du das Gefühl.
Grüße aus dem kalten Gelsenkirchen,
Isabella“

Sie schickte die Nachricht ab, ohne zu erwarten, dass er antworten würde. Vielleicht war es kindisch, vielleicht auch mutig – sie wusste es nicht.

Sergio

Während Isabellas Nachricht ihren Weg durch Kabel und Server nahm, war Sergio in den Ausläufern der Pyrenäen unterwegs. Ein schmaler Pfad zwischen alten Steinmauern, Kies knirschte unter den Stiefeln, die Kamera filmte mit – für die Follower, die sein „authentisches Leben“ sehen wollten.

Später würde er daraus einen Zwei-Minuten-Clip machen: goldener Morgenhimmel, Atemwolken in der Kälte, ein nachdenklicher Satz über das Loslassen. Und darunter würden Kommentare eintrudeln: Herz-Emojis, Fragen nach seiner Jacke, Bitten um Tipps für günstige Flüge nach Spanien.

Er wusste, wie das Spiel lief. Gesponserte Ausrüstung, Werbeverträge mit Outdoor-Marken, Affiliate-Links unter jedem Beitrag. Es reichte für Miete, Kaffee und Wanderkarten – und dafür, Entscheidungen zu vermeiden.

Manchmal, wenn er in den Bergen unterwegs war, kam ihm eine Wanderung in den Sinn, die ihn vor Jahren fast bis an die französische Grenze geführt hatte. Der Pfad war schmal gewesen, gesäumt von Ginster und Wacholder, und endete an kaum noch sichtbaren Ruinen. Grundmauern, halb überwachsen. Terrassenfelder, längst nicht mehr bestellt. Auf einer alten, halb verwaschenen Karte hatte der Ort noch einen Namen getragen: Sanluz de Montarroyo.

Der Zettel mit dieser Karte lag irgendwo in derselben Schublade wie der kleine Messingschlüssel, den er nicht wegwerfen konnte.

Manchmal, spät abends vor dem Laptop, fragte er sich, ob er nicht lieber ein Familienleben hätte. Kein perfektes Bild, sondern Alltag ohne Filter. Aber dann schob er den Gedanken weg wie einen störenden Tab im Browser. Morgen war auch noch ein Tag, um Antworten zu finden.

Am nächsten Morgen, kurz vor Arbeitsbeginn, leuchtete eine neue E-Mail in ihrem Posteingang auf.

„Hola Isabella,
Ich kenne das Gefühl nur zu gut. Zweifel sind wie Nebel – sie machen alles undeutlich, aber manchmal zeigen sie auch, wo das Licht ist. Du bist auf dem Weg, das spürt man zwischen deinen Zeilen. Bleib nicht stehen.
Un abrazo desde el norte,
Sergio“

Isabella las die Zeilen mehrmals. Etwas in ihr verschob sich – leise, aber spürbar. Die Worte trafen einen wunden Punkt und heilten ihn im selben Atemzug.

Der Entschluss

Isabella hatte den ganzen Tag über ihre E-Mails geprüft, die akuten Probleme in der Arbeit beseitigt, die Zahlen abgeglichen und die Berichte fertiggestellt. Doch am Nachmittag, als sie die letzte Mail abschickte und die Zeit auf der Uhr sah, war es, als ob ein unsichtbares Gewicht von ihren Schultern genommen worden wäre.

Sie fuhr ihren PC herunter und lehnte sich zurück. Ihr Blick wanderte zu den grauen Wolken, die sich vor den Fenstern des Büros türmten. Das vertraute Gefühl der Erschöpfung kratzte an ihr, doch diesmal war etwas anders. Der Gedanke an ihre Routine, an das Büro, an den Alltag, der sie immer wieder in seine gewohnten Bahnen zog, konnte ihr nichts mehr nehmen. Sie spürte ein leises, aber immer stärker werdendes Bedürfnis: Etwas musste sich ändern.

Mit zitternden Händen griff sie nach ihrem Handy und öffnete ein Reiseportal. Ihre Finger tanzten über das Display, suchten nach günstigen Flügen nach Spanien. Sie hatte nie viel über Spontanität nachgedacht, hatte sich nie wirklich in den Wind geworfen, den sie immer nur in den Blogs anderer gesehen hatte.

Und doch war es jetzt die einzige Möglichkeit. Die einzige Chance, den leeren, grauen Rahmen ihres Lebens zu verlassen.

Der Bildschirm zeigte ihr günstige Flüge nach Santiago de Compostela – der historische Pilgerort, der in ihren Gedanken immer präsenter geworden war, je mehr sie sich in Sergios Texte vertieft hatte. Ein kleiner Gedanke, eine leise Ahnung: Hier könnte es beginnen. Hier könnte sie in diesem fremden Land, mit all den Fragen und dem Gefühl der Ungewissheit, den ersten Schritt in eine neue Richtung machen.

Mit einem tiefen Atemzug, als wollte sie die ganze Luft der alten Welt hinter sich lassen, klickte sie auf „Buchen“. Zwei Wochen. Sie würde einfach wegfahren. Ganz allein.

Der Flug war in zwei Monaten. Genug Zeit, um sich vorzubereiten, sich von allem zu lösen. Genug Zeit, um ihre Entscheidung zu verarbeiten – und vielleicht die Frage, ob sie überhaupt zurückkommen wollte.

Das Gefühl war wild, unvermittelt, wie ein ungezähmter Sturm, der in ihr tobte. Aber es fühlte sich richtig an.

Der Gedanke, dass sie sich dieser Reise stellen würde, erfüllte sie mit einer seltsamen Mischung aus Nervosität und Erwartung.

Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Zwei Wochen Mut

Es war ein Mittwoch, kurz vor Feierabend, als Isabella in der Teeküche stand und ihre leere Tasse anstarrte. Der Pfefferminzduft war längst verflogen, übrig geblieben war nur der bittere Nachgeschmack ihrer Entscheidungslosigkeit. Die Worte ihrer Chefin von letzter Woche klangen noch nach – als wäre sie jemand, der gerade noch so „funktionierte“, aber innerlich längst abwesend war.

Doch da war auch Sergios letzte Nachricht. Kurz, herzlich, und doch kraftvoll. „Bleib nicht stehen.“ Sie hatte diesen Satz abgeschrieben, auf einen Zettel neben ihrem Bildschirm geklebt. Und nun war er mehr als nur ein Satz.

Zurück am Platz, klickte sie auf das Intranet. Urlaubsanträge. Die Seite war nüchtern, bürokratisch, grau – wie fast alles in diesem Gebäude. Sie hielt kurz inne, ihr Finger schwebte über der Maus. Dann ein Klick. Kalenderansicht. Zwei Wochen im Frühling. Sie wählte die Tage aus, trug den Grund ein: „Privatreise“.

Ein letzter Blick, ein tiefer Atemzug.

„Absenden.“

Ein Fenster erschien: „Ihr Urlaubsantrag wurde erfolgreich übermittelt.“

📎 Abspann:
„Manchmal beginnt eine Reise nicht am Flughafen, sondern in einer einzigen Nachricht.“

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Ein Park im Vorfrühling, eine Wiese mit blühenden Krokussen, ein Kaninchen hoppelt durchs Bild, im Hintergrund noch unbelaubte Bäume

Kapitel 11 – Karten im Kopf

Isabella beginnt zu träumen – und der Traum nimmt Gestalt an. Doch zwischen dem leisen Versprechen Spaniens und der kalten Stimme ihrer Gegenwart bleibt sie gefangen. Was, wenn die Karten im Kopf mehr sind als bloße Gedankenflucht?

Zurück zu Kapitel 10 – Schatten der Vergangenheit

Sie blieb manchmal einfach mitten im Raum stehen, drehte sich langsam im Kreis – nicht um zu kontrollieren, ob alles ordentlich war, sondern um zu spüren, wie anders es sich anfühlte. Als gehöre dieser Ort nun tatsächlich zu ihr – nicht nur als Adresse, sondern als zuhause.

Die Nacht war still, fast zu still. Draußen hing der späte Januar über Gelsenkirchen wie ein grauer Vorhang, schwer von feuchter Kälte. In Isabellas Schlafzimmer brannte keine Lampe mehr. Nur der matte Lichtschein der Straßenlaterne fiel durch die Gardine auf die Bettdecke, unter der Isabella unruhig lag.

Sie schlief irgendwann ein – schwer, tief, wie in einen See eingetaucht. Und dann war sie plötzlich dort.

Im Wald.

Wieder dieser Weg. Der schmale, von Moos gesäumte Pfad, der sich wie eine Erinnerung durch die dichten, feuchten Bäume kroch. Nebel hing zwischen den Ästen, als atmete der Wald selbst – langsam, geheimnisvoll. Die Geräusche waren gedämpft, jeder Schritt auf dem weichen Boden war wie eine zarte Berührung.

Isabella ging barfuß, spürte das Kühle der Erde unter ihren Sohlen, den Duft von Laub, Pilzen, feuchtem Holz. Es war derselbe Ort aus dem Foto. Der Pfad, der sie seit Tagen nicht mehr losließ.

Plötzlich hörte sie etwas. Leichtes Laufen. Schritte.

Vorne auf dem Weg erschien eine Gestalt – klein, schmal. Ein Junge, höchstens sieben Jahre alt, mit dunklem Haar, einem blauen Pullover, zerschlissenen Turnschuhen. Er drehte sich nicht um. Aber Isabella wusste sofort: Es war Sergio. Oder besser – der Junge, der er einmal gewesen war.

Er ging zügig, fast schwebend, ohne sich zu verirren. Isabella rief nicht. Sie folgte einfach.

Der Nebel wurde dichter, kroch tiefer. Der Junge bog plötzlich ab, nach links, wo der Weg sich verlor zwischen Farnen und Wurzeln. Isabella versuchte, ihm zu folgen – doch als sie den nächsten Schritt machte, löste sich der Boden unter ihren Füßen auf.

Da war kein Weg mehr. Nur Nebel. Nur Schweigen. Und das Gefühl, zu fallen, ganz langsam, ohne Aufprall.

Sie schreckte hoch.

Erste Karten im Kopf

Der Winter zog sich zurück, und mit ihm wich auch die bleierne Schwere aus Isabellas Gedanken. In den Parks sprießten erste Knospen an kahlen Ästen, und zwischen den grauen Häuserzeilen Gelsenkirchens zeigte sich gelegentlich ein satter, überraschender Lichtstreifen. Die Luft war milder geworden. Nicht freundlich, aber versöhnlich.

Isabella saß an ihrem kleinen Küchentisch, eine dampfende Tasse Tee zwischen den Händen, während ihr Blick über die geöffnete Internetseite schweifte. Ein Flugvergleichsportal. Spanien. Allein dieses Wort ließ es warm in ihr werden.

Sie hatte sich nichts vorgenommen, nur „mal geschaut“, wie sie sich selbst sagte. Doch ihr Suchverlauf sprach eine andere Sprache. Galicien, Asturien, Aragón – Regionen, von denen sie noch vor wenigen Monaten kaum etwas gewusst hatte. Jetzt klangen sie wie Versprechen.

Sergio hatte in einem seiner Blogeinträge die „ruhige Wildheit der spanischen Landschaft“ beschrieben. Die Zeile war ihr geblieben. Sie wiederholte sie leise vor sich hin, wie einen Reim aus der Kindheit.

Sie stellte sich vor, wie sie selbst dort stehen könnte. Auf einem Hügel vielleicht, mit Blick auf das Meer oder in einem kleinen Dorf, die Kamera in der Hand, der Wind in den Haaren. Niemand, der sie erwartete. Nichts, was sie zurückhalten würde. Nur sie selbst – und ein Stück fremde Erde unter ihren Füßen.

Es war nur ein Gedanke. Noch nicht greifbar. Noch nicht real.

Aber er kehrte wieder. Täglich. Und er war nicht mehr still.

Die kalte Stimme

Montagmorgen. Die Kaffeemaschine im Großraumbüro zischte mechanisch, während sich die grauen Bildschirme einer nach dem anderen einschalteten.
Isabella saß an ihrem Schreibtisch, das Gesicht ausdruckslos, der Cursor blinkte vor ihr wie eine winzige, nervöse Mahnung.

In ihrem Kopf rauschte Spanien – ein Gedanke, der sie seit Tagen begleitete wie ein leiser, beständiger Chor.
Doch er verstummte, als sich die Tür zum Büro der Abteilungsleitung öffnete.

„Frau Hartmann? Könnten Sie bitte kurz reinkommen?“
Die Stimme von Frau Klenke war sachlich, aber schneidend wie ein kalter Windzug.
Isabella stand auf, spürte sofort dieses alte Ziehen im Bauch – das, was kam, war selten gut.
Plötzlich schien es, als lägen alle Blicke auf ihr. Die Stimmen im Raum verklangen wie nach einem Stromausfall. Irgendwo fiel ein Kuli zu Boden, das Geräusch hallte unangenehm nach.

„Ich habe mir Ihre letzten Auswertungen angeschaut.“
Frau Klenke hielt den Blick auf ihren Monitor gerichtet.
„Es sind mir ein paar Fehler aufgefallen – kleinere, aber wiederholt. Haben Sie im Moment Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren? Sie wirken oft abwesend.“

Isabella öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Erst wich die Farbe aus ihrem Gesicht, dann stieg sie ihr heiß in die Wangen.
„Ich… vielleicht war ich etwas unaufmerksam. Es tut mir leid“, sagte sie leise, ihre Stimme brüchig.

Schon in der Schule hatte sie diesen Blick gefürchtet – kein Zorn, nur die kühle Feststellung, nicht genug zu sein.
Ihre Schultern zogen sich unwillkürlich zusammen, als könne sie die Worte so kleiner machen.

Frau Klenke nickte knapp. „Ich weiß, dass Sie zuverlässig sind. Aber wenn das so bleibt, müssen wir reden. Es ist wichtig, dass wir uns aufeinander verlassen können.“

Das Gespräch war kurz, ein Warnschuss.
Als Isabella wieder an ihren Platz zurückkehrte, starrte sie auf den Bildschirm – und sah nur noch verschwommene Zahlen und Fenster.
Irgendwo in ihr nagte ein leiser, bohrender Zweifel.

Der Gedanke an Spanien wirkte plötzlich lächerlich.
Wie hatte sie glauben können, einfach wegzukönnen?
Sie, die in Excel-Tabellen lebte und sich von Aktenbergen begraben ließ.

Eine Närrin, schalt sie sich.
Am Ende war sie doch nur ein Nichts, das die Frisur gewechselt hatte.
Wie hatte sie nur an eine andere Möglichkeit glauben können?

Der Abend kam, ohne dass sie es bemerkt hatte.
Draußen glänzte der Asphalt noch feucht vom kurzen Schauer, und das Licht der Straßenlaterne zog lange, schmale Schatten über den Gehweg.
Auf dem Couchtisch stand ein halbleer gegessener Teller neben einer Teetasse, in der der Tee längst kalt geworden war. Das Handy hing stumm an der Steckdose, als hätte es auch keine Lust mehr, sich zu regen.

Der Fernseher lief nebenher, war mehr Hintergrundrauschen als Unterhaltung.
Bis die Bilder plötzlich vertraut wirkten.

Ein andalusisches Landhaus im goldenen Abendlicht.
Eine Frau am Herd, das Haar locker hochgesteckt, die Schürze makellos.
Ein großer Tisch stand gedeckt, als würde gleich eine Familie von zwölf Personen eintrudeln – pünktlich und ohne Streit.
Die Haustür öffnete sich, ein Mann trat herein, küsste die Frau, zwei Kinder wirbelten um sie herum, als wäre es ihre einzige Aufgabe, glücklich auszusehen.

Die Kamera fing das Gelb der Wände ein, das tiefe Blau des Himmels, und man konnte fast glauben, der Geruch von warmem Brot und Olivenöl wehte bis hierher.
Dann wandte sich die Frau zur Kamera, lächelte wie jemand, der nie in seinem Leben den Abwasch machen musste, und sprach ihren Werbespruch.

Isabella bemerkte, dass sie den Löffel in der Hand hielt, über einem halbleeren Teller, in dem die Nudeln längst klebten. Neben ihr an der Steckdose hing das Handy, der Bildschirm dunkel.
Für einen winzigen Moment war sie dort – im weichen, goldenen Licht.

Dann wechselte der Spot.
Eine knallende Tür im Treppenhaus holte sie zurück ins Wohnzimmer, wo der Geruch nach Regen und Asphalt durch das gekippte Fenster zog.
Spanien war wieder weit weg. Ein Land auf der Karte, das man nur mit dem Auge berührte.

Abspann
Alles beginnt mit einem Traum

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Ein Wanderer steht auf einem Bergpfad und blickt einem einzelnen Wolf entgegen, der wenige Meter entfernt den Weg versperrt. Dramatisches Licht, felsige Landschaft, gespannte Atmosphäre.

Wolf von Aragón

Der Wolf von Aragón
Knapp unterhalb der französischen Grenze lag ein Tal, das kaum noch jemand betrat. Der Pfad war überwuchert, der Wind roch nach Wacholder und feuchtem Stein. Sergio ging langsam, nicht wegen der Steigung, sondern weil hier jede Bewegung wie ein Eingriff wirkte – als müsste man um Erlaubnis bitten, weiterzugehen.

Zwischen den Büschen tauchten Grundmauern auf, so niedrig, dass man sie für zufällig liegende Steine halten konnte. Reste von Terrassenfeldern, längst vom Ginster zurückerobert. Eine Bruchstelle in einer Mauer trug noch einen Schriftzug, halb von Moos verdeckt: Sanluz de Montarroyo.

Er stand eine Weile davor, las die Buchstaben, als könnte das allein etwas zurückholen. Da knackte es im Unterholz. Sergio hob den Kopf – und sah ihn: einen Wolf, grau, mager, reglos, die Augen auf ihn gerichtet. Für einen Moment war die Welt still, nur Wind im Wacholder. Kein Knurren, kein Fliehen, nur dieses unergründliche Ansehen, als hätte das Tier entschieden, ihn zu prüfen. Dann wandte es sich ab, verschwand zwischen den Steinen, als wäre es nie da gewesen.

In seiner Familie hatte man ihn manchmal den „Wolf von Aragón“ genannt – halb spöttisch, halb ehrfürchtig. Nun war er sich nicht sicher, ob der Name ihn gefunden hatte oder er den Namen.

Plötzlich fiel ihm ein alter Schlüssel ein – verrostet, längst unbrauchbar. Als Kind hatte er ihn oft in den Händen gedreht, während sein Großvater ihm Geschichten erzählte: dass dieser Schlüssel einst zu einer Kapellentür gehört habe. Dass er, Sergio, der Nachkomme eines tapferen Ritters sei, der eine arabische Prinzessin geheiratet und eben jene Kapelle gebaut habe.

Manchmal, wenn er älter war, fragte er sich, ob sein Großvater die Geschichte selbst geglaubt hatte – oder ob sie nur eine hübsche Erfindung war, um einen rostigen Schlüssel zu retten. Aber als Junge hatte er nicht gefragt. Er hatte einfach zugehört und die Bilder im Kopf wachsen lassen.

Er machte ein Foto – nicht für den Blog, nicht für Sponsoren. Dieses Bild gehörte nicht ins Netz. Es gehörte dorthin, wo er sich selbst noch suchte.

Auf dem Rückweg kam ihm der Gedanke, dass er hier vielleicht länger bleiben könnte. Nicht für immer, aber lang genug, um zu sehen, ob man zwischen bröckelnden Steinen und verwehten Pfaden etwas findet, das näher an Zuhause ist als jede Wohnung in der Stadt.

In seiner Familie hatte man ihn manchmal den „Wolf von Aragón“ genannt – halb spöttisch, halb anerkennend. Weil er rastlos war, schwer zu fassen, nie ganz irgendwo ankam. Ein Tier, das Spuren hinterlässt, aber sich nie zähmen lässt. Sergio lächelte kurz bei dem Gedanken. Vielleicht war es gar nicht so falsch, dass ausgerechnet er hier stehengeblieben war, an einem Ort, der sich selbst gegen das Vergessen wehrte.

Entscheidungen konnten warten.

📜 Autorenkommentar

Manche Legenden tragen mehr Gewicht als jeder Beweis.
Sergio spricht selten über diese Geschichte. Vielleicht, weil er nicht weiß, ob sie wahr ist. Vielleicht, weil er ahnt, dass es keine Rolle spielt. In seinem Leben war dieser Schlüssel immer mehr als Metall – er war ein Versprechen, das keiner einlösen musste.

Kapitel 10 – Schatten der Vergangenheit

Vorspann:
„Eine E-Mail, schlicht im Betreff – und doch wie ein Schlüssel. Sergios Geschichte öffnet in Isabella einen Raum, der lange verschlossen war.“

Zurück zu Kapitel 9

Die Schatten der Vergangenheit

Es war später Abend, als Isabellas Handy leise vibrierte. Sie lag im Bett, umgeben von Dunkelheit und dem blauen Licht ihres Bildschirms. Eine neue E-Mail von Sergio war eingetroffen – der Betreff schlicht: „Algo personal / Etwas Persönliches.“

Mit leicht zitternden Fingern öffnete sie die Nachricht. Ihr Spanisch war noch bruchstückhaft, aber genug, um die Worte zu verstehen – oder zumindest zu fühlen.

„Isabella, du hast mich gefragt, warum ich so viel reise. Warum ich manchmal einfach aufbreche, ohne Ziel. Ich habe lange gezögert, darüber zu schreiben. Aber vielleicht ist jetzt der richtige Moment.

Mein Urgroßvater verschwand in den 1940er Jahren. Während der Franco-Diktatur. Niemand weiß genau, was passiert ist – ob er geflohen ist, verhaftet wurde, oder irgendwo in einem Massengrab liegt. Meine Urgroßmutter sprach nie offen darüber. Nur einmal, als ich sieben war, nahm sie mich mit in ein Waldstück nahe Lugo, wo sie meinte, er früher oft spazieren ging. Sie sagte: ‚Aquí, lo vi por última vez.‘ – Hier habe ich ihn zum letzten Mal gesehen.

Ich erinnere mich an den Nebel, das feuchte Laub unter meinen Schuhen, den stillen Schmerz in ihrem Gesicht. Sie ist schon viele Jahre tot. Seitdem zieht es mich immer wieder dorthin zurück – zu Wegen, die kein Ende haben. Vielleicht, weil ich glaube, dass ich ihn eines Tages finde. Oder wenigstens verstehe, was ihm genommen wurde.

Mein Blog, meine Reisen – sie sind ein Versuch, durch das Gehen zu begreifen. Ich suche nicht nur Orte. Ich suche Spuren. Geschichte. Und vielleicht ein Stück Heimat.“

Isabella hielt die Luft an. Die Worte waren einfach. Ungekünstelt. Und doch trafen sie sie wie ein leiser, tiefer Akkord im Inneren. Es war kein touristischer Post, keine Kulisse, keine Pose. Es war echt. Roh.

Sie las die E-Mail zweimal. Dann noch ein drittes Mal. Der Wald, der Nebel, die Stille – sie konnte es sehen, spüren. Fast, als wäre sie selbst dort gewesen. Als würde sie nun nicht mehr nur einen fremden Mann betrachten, sondern jemanden, der einen Teil von ihr gespiegelt hatte.

Langsam schrieb sie ihm zurück. Nicht viel. Nur:

„Danke. Ich glaube, manche Wege beginnen, bevor man weiß, dass man geht.“

Spiegelungen

Am nächsten Morgen ging Isabella wie gewohnt zur Arbeit, doch etwas war anders. Während sie durch die Straßenbahn drängte, vorbei an dösenden Pendlern, Werbeplakaten und dem tristen Grau des Gelsenkirchener Januars, hallte Sergios E-Mail in ihr nach. Immer wieder.

Sein Schmerz, seine Geschichte, seine Suche – sie hatten etwas in ihr berührt, das sie selbst kaum benennen konnte. Es war nicht bloß Mitleid gewesen. Auch keine bloße Faszination für ein fremdes Leben. Es war das leise, aber erschütternde Erkennen: Er sucht genauso wie ich.

Im Büro zog sie plötzlich alle Blicke auf sich. Thomas, ein Kollege, der sie immer ignoriert hatte, rief ihr ein: “Schick!“ zu.

In der Kantine, während sie lustlos an ihrem Kaffee nippte, sah sie die Kolleginnen lachen, über Familienpläne sprechen, Urlaube im Allgäu. Isabella fühlte sich plötzlich weniger allein – nicht, weil sie jetzt dazugehörte, sondern weil da draußen jemand war, der dieselbe innere Unruhe kannte. Der Weglaufen nicht als Flucht, sondern als Annäherung verstand.

Sergio reiste, um Vergangenes zu berühren. Sie wollte aufbrechen, um ihre Zukunft zu finden. Und in dieser scheinbaren Gegensätzlichkeit lag eine seltsame Nähe. Beide tasteten sich durch Nebel.

In einem unbeobachteten Moment öffnete sie auf dem Bildschirm wieder seinen Blog. Diesmal nicht verstohlen, sondern fast wie zu einem Vertrauten. Ihre Augen blieben an einem Satz hängen, den er in einem älteren Beitrag geschrieben hatte:

„Manchmal beginnt die Reise nicht an einem Ort, sondern mit einer Frage, die niemand sonst stellt.“

Sie atmete tief ein. Ja. Das war es. Eine Frage, die sie selbst kaum in Worte fassen konnte – aber die sie beide verband.

Isabella wusste jetzt: Sie suchte nicht länger nur nach etwas. Sondern auch nach jemandem, der suchte.

Erste Schritte

Etwas hatte sich verändert – kaum merklich, aber spürbar. An diesem Samstagabend stand Isabella zum ersten Mal seit langer Zeit in ihrer Küche und ließ die Tiefkühlpizza im Eisfach liegen. Stattdessen schnitt sie ein Zucchino, rührte eine Tomatensoße zusammen und würzte vorsichtig mit frischem Basilikum aus einem Topf, das sie spontan im Supermarkt gekauft hatte.

Es war kein Festmahl. Die Pasta war etwas zu weich, die Soße zu säuerlich – doch es war das erste selbstgekochte Essen seit Monaten. Sie deckte sogar den Tisch. Kein Fernseher, kein Handy. Nur Kerzenschein. Eine Kleinigkeit. Aber es fühlte sich an wie ein leiser Akt der Selbstachtung. Es schmeckte ihr trotz der Mängel hervorragend.

In den folgenden Tagen griff sie zu einem Buch, das sie vor längerer Zeit gekauft, aber nie aufgeschlagen hatte – ein Reiseroman über das Pilgern in Nordspanien. Abends saß sie eingekuschelt auf dem Sofa, las, notierte Gedanken in ein altes Notizbuch. Es waren keine großen Erkenntnisse, eher Fragen: Was bedeutet Heimat? Was will ich wirklich? Wo wäre ich mutig, wenn niemand zusähe?

Auch in ihrer Wohnung begann sich etwas zu verändern. Eine bunte Decke über dem grauen Sofa. Ein Ausdruck von Sergios Waldpfad-Foto, das sie ausgedruckt und an die Kühlschranktür gepinnt hatte. Und auf dem Fensterbrett stand nun ein kleiner Kaktus. Noch stil Aber lebendig.

Sie sprach noch nicht darüber. Nicht mit ihrer Mutter, nicht mit Daniela, nicht mit sich selbst. Doch irgendwo, tief drinnen, wusste sie: Das hier war der Anfang.

Ein neuer Ton

Es geschah schleichend, fast unbemerkt. Keine plötzliche Veränderung, kein radikaler Bruch – eher ein neues Flimmern in der Luft, ein anderer Ton, der sich unter das gewohnte Grau mischte.

Isabellas Wohnung, einst bloß funktional und still, begann sich zu wandeln. Der kleine Kaktus auf der Fensterbank reckte sich dem Licht entgegen. Ein zweiter Topf gesellte sich dazu – diesmal ein Kräutertopf mit Petersilie, den sie spontan mitgenommen hatte, weil er in Sergios Blog in einer Küche aufgetaucht war.

Sie kochte nun regelmäßig, probierte neue Rezepte aus. Ihr Körper begann sich zu verändern. Sie spürte eine neue Energie in sich und wurde schlanker. Bald schon wurden ihre Hosen und Röcke zu weit. Zum Geburtstag, Anfang Februar, wollte sie sich neu einkleiden.

Ein Foto vom Waldweg, das sie zuvor mit einem Magnet an den Kühlschrank gepinnt hatte, wurde in einen schlichten Rahmen gesetzt und an die Wand gehängt. Darunter stapelte sich eine kleine Auswahl an Büchern – keine Bestseller, sondern Fundstücke aus dem Antiquariat: Reisetagebücher, alte Atlanten, sogar ein abgegriffenes spanisches Wörterbuch.

Auf dem Sofa lag jetzt eine bunte Decke mit Fransen, die sie früher nie gewählt hätte – zu lebendig, zu auffällig. Jetzt wirkte sie wie ein leiser Trotz gegen die Sterilität, die ihr Leben bisher dominiert hatte. Auch das Licht hatte sich verändert. Statt der grellen Deckenlampe brannten nun abends zwei Stehlampen mit dimmbaren LEDs.

Es war noch immer dieselbe Wohnung. Doch plötzlich schien sie zu atmen.

Abspann:
„Manchmal ist es nicht die Antwort, die alles verändert – sondern die Frage, die man endlich zulässt.“

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Kapitel 9 – Zwischen Zimt und Aufbruch

Vorspann:
„Zimt, Wut, Erinnerung. Zwischen dem warmen Duft der Vergangenheit und dem frostigen Schweigen ihrer Mutter beginnt Isabella, ihren eigenen Weg zu gehen.“

<<– Zurück zu Kapitel 8 – Neue Fragen

„Klingt spannend“, sagte Daniela und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. „Hast du dir mal überlegt, vielleicht auch so eine Reise zu machen?“

Isabella schüttelte unwillkürlich den Kopf. „Ich weiß nicht. Vielleicht ist es das, was mich an ihm so anspricht – diese Suche nach etwas, das größer ist als der Alltag. Aber ich… ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll. Es ist wie… als müsste ich den ganzen Kram hinter mir lassen und neu anfangen. Und das fühlt sich ein bisschen beängstigend an.“

Daniela lachte leise und legte ihre Hand auf Isabellas Arm. „Versteh mich nicht falsch, Isabella, aber ich denke, du brauchst das. Du bist immer so ruhig, so zurückhaltend. Vielleicht ist es an der Zeit, etwas mehr zu wagen. Glaube mir, ein bisschen Abenteuer kann niemandem schaden.“

Isabella nickte, auch wenn sie sich nicht ganz sicher war, ob sie bereit war, diesen Schritt zu gehen. Die Worte klangen nicht so weit weg wie noch vor einigen Wochen. Vielleicht war Daniela nicht ganz falsch. Vielleicht brauchte sie wirklich ein bisschen mehr Abenteuer in ihrem Leben, ein bisschen mehr Farbe. Und vielleicht war es genau dieser Funke – dieses Gefühl von Möglichkeit –, der in ihr zu brennen begann.

Als die Mittagspause zu Ende ging, nahm Isabella ihre Tasse, trank den letzten Schluck und stand auf. Die Unterhaltung mit Daniela war noch ein wenig in ihren Gedanken hängen geblieben. Ein kleiner Keim von Veränderung. Sie wusste, dass es nicht sofort geschehen würde, aber vielleicht, nur vielleicht, war der Gedanke an einen Neustart nicht mehr so weit entfernt, wie er es einmal gewesen war.

„Vielleicht irgendwann“, murmelte sie in sich selbst, als sie zurück an ihren Schreibtisch ging.

Aber tief in ihrem Innern wusste sie, dass dieser „irgendwann“ nicht mehr so weit in der Zukunft lag.

Am Samstagnachmittag schob sich ein blasser Lichtstreifen durch die dichte Wolkendecke über Gelsenkirchen. Es war dieser typische Novembertag – kühl, feucht, farblos. Und doch war etwas anders. Isabella hatte sich ohne besonderen Grund ihren Mantel angezogen, einen Schal umgeworfen und war hinausgegangen. Nicht, weil sie musste, sondern weil es sie hinauszog. Sie hatte keinen Plan, keine Richtung – nur das Gefühl, dass sie nicht länger zwischen grauen Wänden und flimmerndem Bildschirm verharren konnte.

Die Straßen waren vertraut, fast einschläfernd in ihrer Normalität. Der Bäcker an der Ecke, das leerstehende Schaufenster mit den vergilbten Gardinen, der kleine Spielplatz, auf dem zwei Kinder mit roter Nase herumrannten. Isabella ging langsam, die Hände tief in den Taschen, und ließ ihre Schritte treiben.

Wo sie früher nur Leere gesehen hatte, fiel ihr jetzt das Lichtspiel auf dem nassen Asphalt auf. Die Reflexion eines rot-gelben Blattes, das sich in einer Pfütze spiegelte. Das rhythmische Klackern ihrer eigenen Absätze auf dem Pflaster. Ein alter Baum mit knotigen Ästen, der sich wie eine Figur aus einem alten Märchen in den grauen Himmel reckte – ein stiller Wächter, übersehen und doch irgendwie majestätisch.

Sie blieb stehen, sah sich um. Die Welt war dieselbe. Aber irgendetwas in ihr war in Bewegung geraten. Dann kam sie an einem Auto vorbei und sah sich selbst im Fenster. Die Frau, die sie da sah, war unscheinbar, ohne Frisur, blass und ein wenig zu dick. Sie war nicht hässlich, aber auch nicht hübsch. Sie beschloss sich zu ändern, radikal, wenn es sein musste.

Unwillkürlich musste sie an Sergio denken. An seine Worte über die kleinen Dinge – das feuchte Moos, das Knacken der Zweige unter den Füßen, der Nebel, der sich wie Erinnerung über das Land legte. Sie erinnerte sich an ein Video, in dem er still durch einen alten Wald wanderte, ohne Musik, nur mit den Geräuschen der Natur. Er hatte daruntergeschrieben: „Manchmal beginnt die Rückkehr zu sich selbst mit einem Schritt ins Schweigen.“

Isabella spürte eine seltsame Nähe zu ihm, obwohl sie ihn nicht kannte. Aber es war nicht nur er – es war die Sehnsucht nach etwas anderem, etwas Tieferem. Etwas Echtem.

Sie bog in einen kleinen Seitenweg ein, der zu einem alten Friedhof führte. Früher wäre sie achtlos vorbeigegangen. Heute trat sie durch das quietschende Eisentor, ging zwischen den moosbedeckten Grabsteinen hindurch, als würde sie nach etwas suchen.

Die Luft war feucht, beinahe süßlich. Der Wind streifte ihre Wange, als wollte er sie erinnern. An was? An sich selbst?

Sie setzte sich auf eine Bank neben einer verwitterten Statue, bis sie fror. Keine Benachrichtigungen.

Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich nicht wie eine Zuschauerin ihres Lebens, sondern wie jemand, der sich langsam daran erinnerte, wie es sich anfühlt, wirklich da zu sein.

Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

In der Woche darauf ging sie zu einem Frisör, ließ sich das lange Haar abschneiden. Sie trug nun einen flotten Kurzhaarschnitt, der sie völlig veränderte.

Wie immer besuchte sie am Sonntag ihre Mutter. Die Wohnung ihrer Mutter roch nach Zimt, Nelken und altem Teppich. Isabellas Mutter hatte wie jedes Jahr zur Adventszeit gebacken, und der Geruch war so vertraut, dass er in Isabella ein diffuses Gefühl aus Kindheit, Enge und stiller Rebellion weckte. Sie saßen am Küchentisch, zwischen Lebkuchen, Stollen und Porzellanschüsseln mit Goldrand. Draußen fielen nasse Schneeflocken, schwer und lautlos gegen die Fensterscheiben.

„Du warst in letzter Zeit so… abwesend“, sagte ihre Mutter, während sie mit einem Messer die Butter auf ein Stück Christstollen strich. „Ist alles in Ordnung auf der Arbeit? Und was ist mit deinen schönen Haaren passiert?“

Isabella zögerte. Dann sagte sie leise: „Ich habe mich verändert, Mama. Meine Frisur war langweilig und ich denke darüber nach, zu reisen.“

Die Hand ihrer Mutter hielt inne. „Reisen? Jetzt? In deinem Alter? Allein?“

„Ich bin achtundzwanzig, Mama, kein Teenager auf Interrail.“

„Aber du hast einen festen Job, ein sicheres Einkommen. Man wirft das nicht einfach weg, nur weil einem ein bisschen langweilig ist.“

„Es geht nicht um Langeweile.“ Isabellas Stimme wurde fester. „Es geht darum, dass ich das Gefühl habe, ich… ich existiere nur noch. Ich funktioniere. Ich will wissen, wie es ist, wirklich zu leben.“

Die Mutter seufzte, legte das Messer beiseite. „Isabella, du bist vernünftig. Du hast es immer geschafft, dir was aufzubauen. Dieses ‚wirklich leben‘ klingt romantisch, aber am Ende bringt es dich auch nicht weiter. Was, wenn du dort allein bist? Wenn du scheiterst?“

„Und was, wenn ich bleibe und mich nie bewege? Wenn ich mit siebzig aufwache und merke, dass ich alles verpasst habe, weil ich Angst hatte? Und außerdem komme ich ja wieder. Ich habe gar nicht vor dort zu bleiben.“

„Überlege dir das gut, Isabella!“

„Ich weiß nicht, warum du so geworden bist. Aber ich bin nicht du. Ich will einfach weg. Neue Orte sehen, Menschen treffen, neue Eindrücke sammeln. Verstehst du das nicht? Warst du denn nie jung?“

„Doch und du bist das Ergebnis. Deinetwegen lebe ich hier.“

„Mutter, schieb es nicht wieder auf mich! Okay? Du hast nie erzählt, was damals passiert ist. Aber ich bin nicht schuld.“

Ein Moment herrschte Stille.

Dann sagte die Mutter leise, fast unhörbar: „Sicherheit ist kein Fehler.“

„Aber Stillstand ist auch kein Leben“, entgegnete Isabella.

Abspann:
„Manchmal beginnt Veränderung nicht mit einem Streit, sondern mit einem Satz, der endlich gesagt wird.“

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Kapitel 8 – Neue Fragen

Vorspann

Eine Tasse Kaffee, ein Gespräch am Rand, ein Satz, der bleibt. Während draußen der Regen fällt, beginnt in Isabella etwas zu wachsen: die Ahnung, dass Sprache ein Weg sein könnte. Nicht zurück zu Sergio – sondern zu sich selbst.

<<– Zurück zu Kapitel 7-Die Sprache dazwischen

Zuerst hatte sie sich eine Sprachlern-App heruntergeladen. Sie wusste nicht genau, was sie erwartete, aber der Gedanke, Sergio vielleicht besser verstehen zu können – und vielleicht auch sich selbst – hatte sie angetrieben. Anfangs waren es nur ein paar Minuten am Abend, manchmal auch nur während einer Kaffeepause. Aber diese Minuten wurden zu einer Gewohnheit, einer stillen Flucht vor der Stille ihres Alltags.

Die App gab ihr eine Struktur. Jeden Tag gab es neue Lektionen: Vokabeln, einfache Sätze, Grammatikübungen. Isabella kämpfte sich durch das Lernen, oft frustriert, weil die Wörter in ihrem Kopf vermischten und sich nicht so recht ordnen wollten. Es war ein ständiger Kampf gegen die Zweifel: Wird sie es je schaffen, wirklich zu verstehen, was Sergio schreibt? Wird sie eines Tages in der Lage sein, ihm zu antworten, ohne sich dabei hilflos zu fühlen?

Aber es war auch etwas anderes, das sie bei jeder Übung antrieb. Es war die Vorstellung, dass sie ihm eines Tages in seiner Sprache nahe sein könnte, dass sie vielleicht durch diese Sprache ein Stück von dem verstehen würde, was ihn zu dem machte, was er war. Ihr Herz pochte schneller, als sie versuchte, die einfachen Sätze zu sprechen, die sie sich mühsam beibrachte.

„¿Cómo estás?“ – Wie geht es dir?

Jeden Tag wiederholte sie solche Sätze, versuchte, die Worte richtig auszusprechen, auch wenn sie sich selbst seltsam dabei vorkam. Aber mit jeder Wiederholung wuchs ein kleines Gefühl der Sicherheit. Und mit jedem Tag wurde sie ein Stückchen mutiger. Die App gab ihr nicht nur die Sprache, sie gab ihr auch eine neue Perspektive – nicht nur auf Sergio, sondern auf ihr eigenes Leben. Auf die Dinge, die sie in all der Zeit übersehen hatte, auf die Welt jenseits ihrer grauen Routine.

Eines Abends, nach einer besonders langen Sitzung, als sie sich müde, aber zufrieden auf das Sofa fallen ließ, wischte sie durch die Lektionen und stieß auf eine einfache Phrase: „El camino es más importante que el destino“ – Der Weg ist wichtiger als das Ziel. Sie starrte auf die Worte. War das nicht genau das, was sie auf irgendeine Weise in Sergios Blog gelesen hatte? Vielleicht hatte er nie diese Worte so direkt gesagt, aber es war die Botschaft, die er in seinen Erzählungen von seiner Suche durch den Nebel vermittelte.

Isabella hatte plötzlich das Gefühl, dass auch sie auf ihrem eigenen Weg war, wenn auch noch auf einer Reise, die sie sich selbst erst erschaffen musste. Ihre Reise hatte gerade erst begonnen, und obwohl sie sich immer noch in den Anfängen befand, fühlte es sich an, als hätte sie einen entscheidenden Schritt in eine Richtung gemacht, von der sie nie gewusst hätte, dass sie sie gehen würde.

Am nächsten Tag saß sie wieder in ihrem Büro, während die Stunden wie immer zäh verstrichen. Aber in ihrem Inneren wusste sie: Sie war nicht mehr nur die Isabella von gestern. Sie war jemand, der sich verändert hatte – auch wenn es nur durch kleine, unauffällige Schritte war, die sie in ihrer Stille tat.

Es war ein grauer Nachmittag, der in die vertrauten Routinen des Büroalltags einzutauchen schien. Isabella saß in der Kaffeeküche, allein, wie so oft. Die anderen Kollegen schütteten sich ihre Kaffeetassen voll, unterhielten sich in kleinen Grüppchen, lachten über den neuesten Klatsch oder die neuesten Pläne fürs Wochenende. Isabella nahm einen schnellen Schluck aus ihrer Tasse, dann starrte sie eine Weile auf das Kaffeepulver, das sich langsam im Becher absetzte. Ihre Gedanken drifteten, wie so oft, in eine andere Richtung.

Doch an diesem Tag war es anders. Ein Gespräch am anderen Ende der Küche brachte sie zurück in die Gegenwart. Daniela, eine Kollegin, die immer ein wenig lauter und lebendiger war als die anderen, stand mit einer Hand an der Wand und erzählte von ihrem letzten Urlaub in Kroatien.

„Es war einfach traumhaft“, sagte sie, während sie mit einer Hand auf den Becher deutete. „Weißt du, dieses Gefühl, das du hast, wenn du an einem ganz anderen Ort bist, in einer fremden Stadt, einer neuen Kultur. Es ist wie ein Neustart. Du bist für eine Weile nicht mehr die, die du jeden Tag bist, verstehst du?“

Isabella zuckte zusammen, als sie die Worte hörte, als hätten sie einen versteckten Funken in ihr entzündet. Sie hatte sie oft gehört, diese Worte über das Reisen, aber sie hatten nie die gleiche Bedeutung für sie gehabt. Sie hatte nie etwas anderes gesucht, als sich durch die Tage zu schleppen, sich von Aufgabe zu Aufgabe zu hangeln. Aber jetzt… jetzt war etwas anderes in ihr. Ein kleiner Funke.

„Ja“, sagte sie leise und ließ ihre Worte eher ins Leere fallen, als sie wirklich für jemand anderen gedacht waren. „Vielleicht… vielleicht ist das, was ich brauche. Ein Neustart.“

Daniela schaute sie neugierig an. „Ach, du auch? Was hält dich davon ab?“

Isabella zögerte. Eigentlich wusste sie die Antwort. Ihr Leben war so fest und unverrückbar wie der graue Himmel, den sie jeden Morgen vom Fenster ihres Büros aus betrachtete. Reisen – das war für andere, nicht für sie. Sie hatte nie die Gelegenheit dazu gehabt, nie die Freiheit, wirklich zu träumen. Aber irgendetwas in ihr regte sich, als sie diese Frage hörte. Ein flüchtiger Gedanke, ein winziger Impuls.

„Ich… ich weiß nicht“, antwortete sie und versuchte, das Thema mit einem kurzen Lächeln abzuschließen. „Ich glaube, ich habe nie wirklich darüber nachgedacht. Aber es gibt da jemanden, von dem ich immer wieder lese… ein Reiseblogger aus Spanien.“

Daniela blinzelte überrascht. „Oh, wirklich? Was schreibt er?“

„Er… er geht auf eine Reise durch Spanien, sucht nach seiner Familiengeschichte. Es klingt… magisch. Weißt du, er spricht immer davon, wie er in den Nebelwäldern spaziert, auf den Wegen, die seine Vorfahren gegangen sind. Es ist… irgendwie faszinierend, wie er diese Verbindung zu seinem Land findet.“

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Kapitel 7 – Die Sprache dazwischen

Vorspann:
„Isabellas Welt beginnt sich zu verschieben. Zwischen Fehlern, Rückfragen und zögernden Worten wächst ein zarter Faden – und die Bereitschaft, sich auf den Weg zu machen.“

<< — Zurück zu Kapitel 6 – Die erste Nachricht

Er hatte geantwortet.

Langsam, fast zögerlich öffnete sie die Nachricht. Sie hatte sich nicht viel erwartet – vielleicht ein kurzes, höfliches „Danke“ oder gar nichts. Aber das, was sie dann las, ließ ihren Atem stocken:

„Ich danke dir für deine Worte. Sie haben mich berührt. Der Waldweg, den ich beschrieben habe, ist ein Ort der Erinnerung für mich, aber auch ein Ort des Suchens. Ich hoffe, du findest auch deinen eigenen Pfad, der dich zu dem führt, was du suchst.“

Isabella starrte auf den Bildschirm. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Hatte er das geschrieben? Und was meinte er mit „deinen eigenen Pfad finden“? Es fühlte sich an, als wäre sie plötzlich in einer Geschichte, die nicht mehr nur von ihm handelte, sondern auch von ihr. Als hätte er sie in seinen Worten gesehen, als hätte er ihre Sehnsüchte erkannt, auch ohne sie zu kennen.

In diesem Moment war es, als würde sie von der Zeit selbst eingeholt werden. Die Geräusche der Kaffeeküche, das Gespräch ihrer Kolleginnen über das Wochenende, das Lachen und die Hektik – all das war plötzlich weit entfernt, verschwommener, leiser. Sie war nur noch hier, mit diesem kurzen Satz von Sergio, der mehr sagte, als sie erwartet hatte.

Schnell tippte sie eine Antwort, aber ihre Finger zitterten so sehr, dass sie den Text immer wieder löschte. Wie antwortete man auf etwas, das einen so unerwartet tief traf? Schließlich ließ sie es einfach bei einem einfachen, ehrlichen Satz:

„Danke für deine Worte. Sie haben etwas in mir angestoßen.“

Isabella drückte auf „Absenden“, legte das Handy zur Seite und atmete tief durch. Ihre Gedanken waren noch immer wirr, aber sie wusste, dass etwas in ihr begonnen hatte, sich zu verändern. Vielleicht war es der Beginn von etwas, das sie nicht ganz fassen konnte, aber es fühlte sich an, als würde sie gerade einen ersten Schritt in eine Richtung machen, die sie schon lange vermieden hatte.

Als sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandte, hatte sie das Gefühl, dass der Nebel, der solange ihr Leben verhüllt hatte, ein wenig dünner geworden war.

Die nächsten Tage vergingen in einer seltsamen Mischung aus Routine und Erwartung. Isabella fand sich immer wieder dabei, nach den Nachrichten von Sergio zu sehen, als wäre ihr Tag nicht vollständig, wenn sie nicht ein kleines Stück von ihm auf ihrem Bildschirm entdeckte.

Die Kommunikation war anfangs vorsichtig und zurückhaltend, doch die Worte, die sie austauschten, begannen, eine Verbindung zu spinnen. Es war jedoch nicht einfach, vor allem wegen der Sprachbarriere. Isabella, die nur ein paar Grundkenntnisse in Spanisch hatte, kämpfte sich durch die Nachrichten, die immer wieder unklar blieben. Und Sergio, dessen Englisch zwar gut war, aber nicht perfekt, konnte oft nur schwer ausdrücken, was er wirklich sagen wollte. Isabellas Englisch war nicht besser als ihr Spanisch. Die Missverständnisse waren häufig und zwangen sie dazu, ihre Nachrichten immer wieder zu überdenken und umzuschreiben.

Trotz dieser Hürden schafften sie es, sich in einfachen Sätzen mitzuteilen. Jeder Austausch war wie ein kleines Abenteuer, bei dem Isabella sich manchmal fühlte, als würde sie ein Rätsel lösen. Sie lachte über ihre eigenen Versuche, sich in Spanisch auszudrücken, und gleichzeitig fühlte sie sich von der Authentizität seiner Worte angezogen. Es war, als würde jeder Satz, den sie las, sie ein Stück mehr in seine Welt ziehen.

In einer seiner ersten E-Mails fragte Sergio sie nach ihrem Leben, ihren Träumen, nach dem, was sie antreibt. Sie antwortete, indem sie von ihrem Bürojob und dem alltäglichen Trott erzählte, aber auch von dem Gefühl, dass mehr in ihr steckte, als sie sich zutraute zu leben. Es war schwer, sich ganz zu öffnen, besonders in einer Sprache, die nicht ihre eigene war, aber sie versuchte es trotzdem.

„Ich habe das Gefühl, dass ich in meinem Leben einen Weg verloren habe“, schrieb sie in ihrer Nachricht. „Ich bin mir nicht sicher, wo er ist oder wie ich ihn finden kann. Aber du… du gehst auf deiner Reise, und das beeindruckt mich sehr.“

Sergios Antwort kam schneller als erwartet. Sie las seine Worte, die sich fast wie ein Puzzle anfühlten, da sie in seinem Spanisch oft ein wenig aufräumen musste. Aber sie konnte den Schmerz und die Sehnsucht hinter seinen Zeilen fühlen.

„Ich verstehe. Ich habe meine eigene Suche auch nicht gefunden, Isabella. Vielleicht ist das Leben wie ein Weg durch den Nebel. Wir können nur den nächsten Schritt sehen, aber nicht wissen, wohin er uns führt. Aber wir müssen weitergehen.“

Isabella starrte auf den Bildschirm. Seine Worte waren so einfach, so ehrlich, aber sie trugen eine Schwere in sich, die sie tief berührte. Sie wollte mehr wissen, wollte mehr verstehen, aber die Sprache war ein ständiges Hindernis. Die Worte, die sie lesen konnte, reichten nur bis zu einem gewissen Punkt, dann musste sie den Rest erahnen.

Sie nahm sich Zeit, eine Antwort zu formulieren, die mehr war als nur ein paar kurze Sätze. Sie wollte ihm etwas von sich zeigen, etwas, das sie selbst kaum fassen konnte.

„Vielleicht ist das der Grund, warum ich deinen Blog lese“, schrieb sie. „Du gehst durch den Nebel, du suchst etwas, das du noch nicht gefunden hast, und das fühlt sich so nah an, als könnte ich es auch suchen. Vielleicht ist es nicht der Weg, der wichtig ist, sondern die Bereitschaft, sich auf die Reise zu begeben.“

Isabella drückte auf „Absenden“ und lehnte sich zurück. Sie wusste, dass das, was sie schrieb, nicht perfekt war, aber es war wahr. Und vielleicht war es das, was zählte.

Es gab noch immer viele Missverständnisse in ihren Nachrichten, und oft musste sie Geduld mit sich selbst und mit ihm haben, aber irgendwie fühlte sie sich, als würden sie sich ein kleines Stück näherkommen – trotz der Barrieren. Und vielleicht war es genau das, was sie gerade brauchte.

Die Stunden vergingen wie im Flug, während Isabella sich heimlich auf den Weg in eine neue Welt machte. Jeden Abend, nach dem Erledigen ihrer abendlichen Routine – der leeren Wohnung, dem mikrowellenfertigen Abendessen und den Programmen im Fernsehen, die sie immer mehr nur noch passiv nebenbei verfolgte – zog sie an ihren Schreibtisch zurück, um mit dem Spanischlernen zu beginnen.

Abspann:
„Vielleicht ist es nicht das Verstehen, das Nähe schafft – sondern der Wunsch, gehört zu werden.“

🌿 Hat dich dieses Kapitel berührt, irritiert oder neugierig gemacht?
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