Kapitel 11

Ein Park im Vorfrühling, eine Wiese mit blühenden Krokussen, ein Kaninchen hoppelt durchs Bild, im Hintergrund noch unbelaubte Bäume

Kapitel 11 – Karten im Kopf

Isabella beginnt zu träumen – und der Traum nimmt Gestalt an. Doch zwischen dem leisen Versprechen Spaniens und der kalten Stimme ihrer Gegenwart bleibt sie gefangen. Was, wenn die Karten im Kopf mehr sind als bloße Gedankenflucht?

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Sie blieb manchmal einfach mitten im Raum stehen, drehte sich langsam im Kreis – nicht um zu kontrollieren, ob alles ordentlich war, sondern um zu spüren, wie anders es sich anfühlte. Als gehöre dieser Ort nun tatsächlich zu ihr – nicht nur als Adresse, sondern als zuhause.

Die Nacht war still, fast zu still. Draußen hing der späte Januar über Gelsenkirchen wie ein grauer Vorhang, schwer von feuchter Kälte. In Isabellas Schlafzimmer brannte keine Lampe mehr. Nur der matte Lichtschein der Straßenlaterne fiel durch die Gardine auf die Bettdecke, unter der Isabella unruhig lag.

Sie schlief irgendwann ein – schwer, tief, wie in einen See eingetaucht. Und dann war sie plötzlich dort.

Im Wald.

Wieder dieser Weg. Der schmale, von Moos gesäumte Pfad, der sich wie eine Erinnerung durch die dichten, feuchten Bäume kroch. Nebel hing zwischen den Ästen, als atmete der Wald selbst – langsam, geheimnisvoll. Die Geräusche waren gedämpft, jeder Schritt auf dem weichen Boden war wie eine zarte Berührung.

Isabella ging barfuß, spürte das Kühle der Erde unter ihren Sohlen, den Duft von Laub, Pilzen, feuchtem Holz. Es war derselbe Ort aus dem Foto. Der Pfad, der sie seit Tagen nicht mehr losließ.

Plötzlich hörte sie etwas. Leichtes Laufen. Schritte.

Vorne auf dem Weg erschien eine Gestalt – klein, schmal. Ein Junge, höchstens sieben Jahre alt, mit dunklem Haar, einem blauen Pullover, zerschlissenen Turnschuhen. Er drehte sich nicht um. Aber Isabella wusste sofort: Es war Sergio. Oder besser – der Junge, der er einmal gewesen war.

Er ging zügig, fast schwebend, ohne sich zu verirren. Isabella rief nicht. Sie folgte einfach.

Der Nebel wurde dichter, kroch tiefer. Der Junge bog plötzlich ab, nach links, wo der Weg sich verlor zwischen Farnen und Wurzeln. Isabella versuchte, ihm zu folgen – doch als sie den nächsten Schritt machte, löste sich der Boden unter ihren Füßen auf.

Da war kein Weg mehr. Nur Nebel. Nur Schweigen. Und das Gefühl, zu fallen, ganz langsam, ohne Aufprall.

Sie schreckte hoch.

Erste Karten im Kopf

Der Winter zog sich zurück, und mit ihm wich auch die bleierne Schwere aus Isabellas Gedanken. In den Parks sprießten erste Knospen an kahlen Ästen, und zwischen den grauen Häuserzeilen Gelsenkirchens zeigte sich gelegentlich ein satter, überraschender Lichtstreifen. Die Luft war milder geworden. Nicht freundlich, aber versöhnlich.

Isabella saß an ihrem kleinen Küchentisch, eine dampfende Tasse Tee zwischen den Händen, während ihr Blick über die geöffnete Internetseite schweifte. Ein Flugvergleichsportal. Spanien. Allein dieses Wort ließ es warm in ihr werden.

Sie hatte sich nichts vorgenommen, nur „mal geschaut“, wie sie sich selbst sagte. Doch ihr Suchverlauf sprach eine andere Sprache. Galicien, Asturien, Aragón – Regionen, von denen sie noch vor wenigen Monaten kaum etwas gewusst hatte. Jetzt klangen sie wie Versprechen.

Sergio hatte in einem seiner Blogeinträge die „ruhige Wildheit der spanischen Landschaft“ beschrieben. Die Zeile war ihr geblieben. Sie wiederholte sie leise vor sich hin, wie einen Reim aus der Kindheit.

Sie stellte sich vor, wie sie selbst dort stehen könnte. Auf einem Hügel vielleicht, mit Blick auf das Meer oder in einem kleinen Dorf, die Kamera in der Hand, der Wind in den Haaren. Niemand, der sie erwartete. Nichts, was sie zurückhalten würde. Nur sie selbst – und ein Stück fremde Erde unter ihren Füßen.

Es war nur ein Gedanke. Noch nicht greifbar. Noch nicht real.

Aber er kehrte wieder. Täglich. Und er war nicht mehr still.

Die kalte Stimme

Montagmorgen. Die Kaffeemaschine im Großraumbüro zischte mechanisch, während sich die grauen Bildschirme einer nach dem anderen einschalteten.
Isabella saß an ihrem Schreibtisch, das Gesicht ausdruckslos, der Cursor blinkte vor ihr wie eine winzige, nervöse Mahnung.

In ihrem Kopf rauschte Spanien – ein Gedanke, der sie seit Tagen begleitete wie ein leiser, beständiger Chor.
Doch er verstummte, als sich die Tür zum Büro der Abteilungsleitung öffnete.

„Frau Hartmann? Könnten Sie bitte kurz reinkommen?“
Die Stimme von Frau Klenke war sachlich, aber schneidend wie ein kalter Windzug.
Isabella stand auf, spürte sofort dieses alte Ziehen im Bauch – das, was kam, war selten gut.
Plötzlich schien es, als lägen alle Blicke auf ihr. Die Stimmen im Raum verklangen wie nach einem Stromausfall. Irgendwo fiel ein Kuli zu Boden, das Geräusch hallte unangenehm nach.

„Ich habe mir Ihre letzten Auswertungen angeschaut.“
Frau Klenke hielt den Blick auf ihren Monitor gerichtet.
„Es sind mir ein paar Fehler aufgefallen – kleinere, aber wiederholt. Haben Sie im Moment Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren? Sie wirken oft abwesend.“

Isabella öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Erst wich die Farbe aus ihrem Gesicht, dann stieg sie ihr heiß in die Wangen.
„Ich… vielleicht war ich etwas unaufmerksam. Es tut mir leid“, sagte sie leise, ihre Stimme brüchig.

Schon in der Schule hatte sie diesen Blick gefürchtet – kein Zorn, nur die kühle Feststellung, nicht genug zu sein.
Ihre Schultern zogen sich unwillkürlich zusammen, als könne sie die Worte so kleiner machen.

Frau Klenke nickte knapp. „Ich weiß, dass Sie zuverlässig sind. Aber wenn das so bleibt, müssen wir reden. Es ist wichtig, dass wir uns aufeinander verlassen können.“

Das Gespräch war kurz, ein Warnschuss.
Als Isabella wieder an ihren Platz zurückkehrte, starrte sie auf den Bildschirm – und sah nur noch verschwommene Zahlen und Fenster.
Irgendwo in ihr nagte ein leiser, bohrender Zweifel.

Der Gedanke an Spanien wirkte plötzlich lächerlich.
Wie hatte sie glauben können, einfach wegzukönnen?
Sie, die in Excel-Tabellen lebte und sich von Aktenbergen begraben ließ.

Eine Närrin, schalt sie sich.
Am Ende war sie doch nur ein Nichts, das die Frisur gewechselt hatte.
Wie hatte sie nur an eine andere Möglichkeit glauben können?

Der Abend kam, ohne dass sie es bemerkt hatte.
Draußen glänzte der Asphalt noch feucht vom kurzen Schauer, und das Licht der Straßenlaterne zog lange, schmale Schatten über den Gehweg.
Auf dem Couchtisch stand ein halbleer gegessener Teller neben einer Teetasse, in der der Tee längst kalt geworden war. Das Handy hing stumm an der Steckdose, als hätte es auch keine Lust mehr, sich zu regen.

Der Fernseher lief nebenher, war mehr Hintergrundrauschen als Unterhaltung.
Bis die Bilder plötzlich vertraut wirkten.

Ein andalusisches Landhaus im goldenen Abendlicht.
Eine Frau am Herd, das Haar locker hochgesteckt, die Schürze makellos.
Ein großer Tisch stand gedeckt, als würde gleich eine Familie von zwölf Personen eintrudeln – pünktlich und ohne Streit.
Die Haustür öffnete sich, ein Mann trat herein, küsste die Frau, zwei Kinder wirbelten um sie herum, als wäre es ihre einzige Aufgabe, glücklich auszusehen.

Die Kamera fing das Gelb der Wände ein, das tiefe Blau des Himmels, und man konnte fast glauben, der Geruch von warmem Brot und Olivenöl wehte bis hierher.
Dann wandte sich die Frau zur Kamera, lächelte wie jemand, der nie in seinem Leben den Abwasch machen musste, und sprach ihren Werbespruch.

Isabella bemerkte, dass sie den Löffel in der Hand hielt, über einem halbleeren Teller, in dem die Nudeln längst klebten. Neben ihr an der Steckdose hing das Handy, der Bildschirm dunkel.
Für einen winzigen Moment war sie dort – im weichen, goldenen Licht.

Dann wechselte der Spot.
Eine knallende Tür im Treppenhaus holte sie zurück ins Wohnzimmer, wo der Geruch nach Regen und Asphalt durch das gekippte Fenster zog.
Spanien war wieder weit weg. Ein Land auf der Karte, das man nur mit dem Auge berührte.

Abspann
Alles beginnt mit einem Traum

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