Kapitel 18 – Ein Netz aus Stimmen
Vorspann
Das Dorf lebt nicht nur in seinen Häusern, Gassen und Plätzen – es lebt in den Stimmen, die durch die Luft getragen werden. Worte wie Funken, die sich festsetzen, Gerüchte wie Fäden, die Menschen miteinander verknüpfen. Zwischen Wahrheit und Erfindung entsteht ein unsichtbares Netz, das jede und jeden in Sanluz de Montarroyo umfängt.
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Nächtliches Gespräch unter Sternen
Es war spät in der Nacht, als Isabella und Sergio einen kleinen Hügel in der Nähe der Stadt hinaufstiegen. Die Luft war kühl, aber nicht unangenehm, und der Himmel war so klar, dass es schien, als ob die Sterne nur darauf warteten, gesehen zu werden. Sie hatten den Tag in der Altstadt von Oviedo verbracht und sich von den schmalen, verwinkelten Gassen und den historischen Gebäuden verzaubern lassen. Doch jetzt, unter dem weiten, sternenübersäten Himmel, war alles still. Der Tag, die Gespräche, die Entdeckungen – sie fühlten sich fern an, als wären sie in einer anderen Welt.
„Ich habe es nie gemocht, nachts unterwegs zu sein“, gestand Isabella, als sie sich auf einen Felsen setzte, der den höchsten Punkt des Hügels markierte. Sie zog die Jacke enger um sich und schaute nach oben, wo der Himmel von zahllosen Sternen erleuchtet war. „Es gibt etwas an der Dunkelheit, das mich immer nervös gemacht hat.“
Sergio setzte sich neben sie, seine Hände in den Taschen vergraben. „Es gibt immer diese Angst, nicht zu wissen, was kommt. Aber vielleicht ist das gerade das, was den Moment so besonders macht. Es gibt uns Raum, um zu atmen, ohne dass uns etwas an die Vergangenheit bindet.“
Isabella nickte, doch in ihrem Inneren spürte sie eine Unruhe, die sie nicht ganz ablegen konnte. „Ich frage mich oft, ob ich jemals wirklich etwas in meinem Leben geändert habe. Vielleicht bin ich einfach zu sehr auf Sicherheit bedacht. Immer in meiner Komfortzone. In diesem kleinen, vorhersehbaren Leben. Aber dann bin ich hier, und alles fühlt sich anders an. Ich fühle mich fast… verloren, als ob ich nicht mehr weiß, wer ich bin.“
Sergio schaute sie nachdenklich an. Die Sterne schienen sein Gesicht zu erleuchten, und in seinem Blick lag etwas, das Isabella an die Weite der Nacht erinnerte – unendlich, tief und doch irgendwie tröstlich.
„Du bist nicht verloren, Isabella“, sagte er leise. „Es ist normal, sich manchmal so zu fühlen, vor allem, wenn man sich selbst von allem trennt, was man kennt. Aber die Wahrheit ist: Du musst dich nicht finden. Du darfst dich immer wieder neu erschaffen. Und dafür braucht es keinen perfekten Plan. Nur den Mut, weiterzugehen. Die Angst ist nur ein Teil des Prozesses.“
Isabella schloss die Augen für einen Moment, ließ die kalte Luft ihre Wangen berühren, spürte, wie der Wind durch ihre Haare strich. Sie hatte nie viel über Mut nachgedacht – immer nur über Sicherheit, den klaren Plan, den nächsten Schritt. Doch hier, unter den Sternen, mit Sergio an ihrer Seite, fühlte sie sich nicht mehr so festgefahren.
„Was ist mit dir?“, fragte sie nach einer Weile. „Hast du keine Angst?“
Sergio seufzte leise, als ob er die Frage schon lange erwartet hatte. „Natürlich habe ich Angst. Aber das Problem ist, dass ich immer vor dieser Angst weggelaufen bin. In meine Reisen, in die Geschichten meiner Familie. Ich dachte, wenn ich nur genug über die Vergangenheit herausfinde, würde ich wissen, wer ich bin. Aber die Wahrheit ist, dass ich nie wirklich angekommen bin. Ich suche immer weiter, immer tiefer. Aber manchmal frage ich mich, ob ich mich jemals wirklich finden kann.“
Isabella spürte, wie sich die Worte in ihr vergruben. Sie sah die Wahrheit in seinem Blick – die gleiche Unsicherheit, die sie selbst kannte, aber auf eine andere Art. Vielleicht war ihre Reise nicht nur eine nach Spanien, sondern auch eine nach innen, zu Dingen, die sie lange übersehen hatte.
„Es ist verrückt, oder?“, sagte sie schließlich, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Wir reisen, wir suchen, wir finden Dinge, aber am Ende… sind wir immer noch wir selbst. Die Ängste bleiben. Vielleicht kann man sie nicht einfach ablegen.“
„Vielleicht nicht“, stimmte Sergio zu. „Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht versuchen können, mit ihnen zu leben. Und vielleicht ist es genau das, was uns wirklich verändert. Die Akzeptanz, dass wir nie alles unter Kontrolle haben.“
Isabella sah zu ihm hinüber, und in der Dunkelheit war es schwer zu sagen, ob er wirklich ruhig war oder ob auch er in diesem Moment genauso unsicher war wie sie. Doch in diesem Augenblick schien es, als ob sie sich beide gerade auf die gleiche Reise begeben hatten – nicht nach außen, sondern nach innen, zu den wahren Ängsten, die sie noch nicht verstanden hatten.
„Ich glaube, ich habe nie wirklich zugelassen, dass ich mich verliere“, sagte sie leise. „Ich habe immer versucht, die Kontrolle zu behalten. Aber jetzt… vielleicht ist es okay, nicht immer alles zu wissen. Vielleicht muss ich einfach anfangen, den Moment zu leben.“
Sergio nickte langsam, als er ihre Worte verstand. „Vielleicht müssen wir uns zuerst selbst vertrauen, um in der Lage zu sein, uns von allem zu befreien. Ich habe das nie getan. Und vielleicht… vielleicht ist das der nächste Schritt.“
Für einen Moment saßen sie schweigend nebeneinander, die Stille der Nacht umhüllte sie wie ein sanfter Mantel. Sie fühlte sich weniger allein, weniger in der Dunkelheit verloren. Es war, als ob sie in diesem Gespräch, unter dem Sternenhimmel, einen Teil von sich selbst wiedergefunden hatte. Sie waren sich so nah, dass sie den Geruch seiner Haut wahrnahm, Patschuli, Erde und Vanille.
„Wir werden sehen, wohin uns das führt“, sagte sie schließlich, ein kleines, fast schüchternes Lächeln auf ihren Lippen.
Sergio sah sie an, seine Augen im Schein der Sterne sanft und warm. „Ja. Aber was auch immer passiert, wir müssen weitergehen. Wir haben noch viel vor uns.“
Wiedererkennung
Der Wind blies kühl und frisch durch die Hügel von Galicien, als Isabella und Sergio einen abgelegenen Wanderweg entlanggingen, der sich durch das verlassene Dorf schlängelte. Es war ein Ort, der der Zeit entrückt schien: Die Häuser standen leer, die Fenster blickten mit leeren Augen in die Landschaft, und das Gras hatte sich wie ein weiches Kissen über die zerfallenen Mauern gelegt. Es war, als ob dieser Ort sich selbst vergessen hatte, ein Ort, an dem selbst die Erinnerung an die Menschen, die hier einst lebten, langsam zu verblassen begann.
Isabella trat vorsichtig durch das hohe Gras und blickte sich um. Die Stille war fast greifbar. Nur das Rauschen des Windes in den Bäumen und das entfernte Zwitschern eines Vogels durchbrachen die Ruhe. Es war ein Ort, an dem man sich leicht verlieren konnte, an dem die Zeit stillzustehen schien.
„Es ist seltsam“, sagte sie schließlich, „dieser Ort fühlt sich fast… lebendig an. Als ob er noch immer seine eigene Geschichte erzählt, aber wir sie nicht mehr verstehen.“
Sergio nickte, doch seine Augen waren auf einen schmalen Pfad in der Nähe gerichtet, der sich wie ein schmaler, moosbedeckter Tunnel durch das Dickicht zog. Der Pfad war nur schwach erkennbar, fast als ob die Natur ihn in ihrer ruhigen Weise in den Boden gezeichnet hatte. Sergio blieb plötzlich stehen, sein Blick fest auf den Weg gerichtet. Er hob eine Hand und berührte vorsichtig das Moos, das sich üppig über den Boden legte, als wollte er etwas spüren – etwas, das er schon einmal gesehen hatte.
„Das… das ist der Pfad“, murmelte er fast unhörbar.
Isabella drehte sich zu ihm um. „Welcher Pfad?“
„Der aus meinem Blog“, erklärte Sergio, seine Stimme war leiser, als er es beabsichtigt hatte, als ob er sich nicht ganz sicher war, ob er sich irrte. „Der Waldweg aus Galicien. Dieser Pfad… es ist, als würde ich ihn wiedererkennen. Der Nebel, das Moos, die Bäume…“
Er ließ die Hand wieder sinken und trat einen Schritt vor. Isabella sah ihn an, ein wenig verwirrt, doch auch fasziniert von der Intensität in seinem Blick. Sie folgte ihm, ohne ein Wort zu sagen, und gemeinsam gingen sie den schmalen Pfad entlang, der sich in den Wald hinein wandt.
Der Weg war von dichtem Moos bedeckt, und der Duft der feuchten Erde stieg ihnen in die Nase. Alles wirkte vertraut und zugleich neu, als ob sie auf einem unsichtbaren Band zwischen der Gegenwart und einer anderen Zeit wanderten. Die Bäume standen wie alte Wächter beiderseits des Pfades, ihre Äste knarrten im Wind, und das Rauschen des Waldes klang beinahe wie ein Flüstern, das Isabella nicht ganz entschlüsseln konnte.
Sergio ging langsamer, berührte immer wieder das Moos, das den Boden bedeckte, und schloss für einen Moment die Augen, als wolle er in den alten Erinnerungen versinken, die dieser Ort in ihm hervorrief. Isabella stand still hinter ihm und wartete, unsicher, ob sie ihn stören sollte.
„Es ist, als ob ich hier schon einmal war“, sagte er schließlich, seine Stimme war fast ein Flüstern. „Der Nebel, der Weg… es fühlt sich an, als würde alles an einen bestimmten Moment erinnern. An etwas, das ich nicht ganz begreifen kann.“
Er atmete tief ein, als würde er die Luft in sich aufnehmen wollen, die ihm so vertraut war und doch so fremd. Für einen Moment war es still zwischen ihnen. Der Pfad führte weiter, aber Sergio schien nicht weitergehen zu wollen. Er stand einfach da, seine Hand noch immer auf dem Moos, seine Augen geschlossen.
Isabella trat einen Schritt näher und berührte sanft seinen Arm. „Bist du sicher, dass es dieser Pfad ist?“
„Ich weiß es nicht ganz sicher“, antwortete er, öffnete die Augen und sah sie an, „aber es fühlt sich so an, als ob er mich ruft. Als ob ich hierhergehöre. Als ob ich diesen Weg schon einmal gegangen bin, bevor ich überhaupt wusste, dass er existiert.“
Isabella nickte. Sie verstand, dass es nicht nur der physische Weg war, den er meinte. Es war mehr. Der Pfad in seinen Gedanken, die Erinnerungen an die Vergangenheit, die wie ein gelebter Traum auf ihn wirkten, hatten jetzt eine Form angenommen. Ein unsichtbarer Faden verband ihn mit diesem Ort, und Isabella konnte den tiefen Eindruck spüren, den er hinterließ.
„Vielleicht“ sagte sie leise, „ist es ein Ort, an dem man Antworten findet. Oder Fragen, die man nie gestellt hat.“
Sergio blickte einen Moment lang nachdenklich auf den Pfad, der sich vor ihnen erstreckte, und dann wieder hinauf zu den Bäumen, die wie stille Zeugen die Geschichte der Vergangenheit bewahrten. Er nickte langsam.
„Vielleicht ist das der Weg, den ich gehen musste, um zu verstehen, wer ich wirklich bin. Vielleicht ist dieser Pfad der Schlüssel.“
Der Nebel begann sich langsam zu senken, und eine kühle Brise strich durch die Bäume. Der Wald war voller Leben, aber auch voller Geheimnisse, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden. Sergio schien einen Teil von sich selbst gefunden zu haben, und in diesem Moment wusste Isabella, dass auch sie auf ihrer eigenen Reise einen Schritt weitergekommen war.
Der Pfad vor ihnen war offen, doch sie wussten beide, dass die Antworten nicht immer einfach zu finden waren. Manchmal musste man warten, auf das richtige Timing, auf den richtigen Moment. Und vielleicht war dieser Moment genau jetzt.
Mit einem letzten Blick auf den Pfad, der so vertraut und doch so fremd war, ging Sergio weiter, und Isabella folgte ihm, bereit, die nächste Etappe ihrer eigenen Reise zu gehen.
Abspann
Kapitel um Kapitel wächst dieses Netz weiter – manchmal sanft und tröstlich, manchmal scharf und verletzend. Doch wer genau hinhört, entdeckt darin nicht nur das Getuschel der Nachbarn, sondern auch die Geschichten, die das Dorf zusammenhalten. Und wie jede Erzählung in Encina Alta führen sie uns tiefer hinein, Schritt für Schritt.
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