Kapitel 6

Kapitel 6 – Die erste Nachricht

Vorspann:
„Ein kurzer Kommentar, ein unsichtbarer Klick – mehr braucht es nicht, um etwas in Bewegung zu setzen. Isabella ahnt noch nicht, was sie damit entfesselt.“

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Akt II

An diesem Dienstagmorgen, als Isabella in der Weite des Großraumbüros saß und der monotone Klang der Tastaturen und das Rauschen der Klimaanlage sie wie in einem grauen Nebel umgaben, konnte sie den Drang, Sergios Blog zu öffnen, kaum unterdrücken. Es war wie ein unsichtbares Band, das sie immer wieder zu seinem Profil zog, selbst inmitten der drögen Arbeit. Ihre Finger schwebten fast automatisch über die Tasten, als sie den Browser öffnete, sich den Gedanken an die Folgen aus dem Kopf schlug und die Adresse tippte.

Das Internet war der einzige Raum, in dem Isabella sich sicher fühlte. Hier, in der Anonymität des Cyberspace, konnte sie für einen Moment jemand anderes sein, jemand, der nicht in einem grauen Büro saß, sondern in einer Welt voller Möglichkeiten. Vielleicht war es auch eine Art Flucht, aber zu dieser Stunde hatte sie das Gefühl, dass sie einfach nur mehr von der Welt brauchte. Mehr von der Welt, die Sergio sah, mehr von der Welt, die sie in ihrem Leben nicht mehr fand.

Der Bildschirm zeigte sofort das vertraute Bild: der neblige Waldweg in Galicien, der wie ein stilles Geheimnis vor ihr lag. Darunter war der neue Beitrag, der von einem alten Dorf in Aragón sprach, das Sergio mit seiner Familie besucht hatte. Ein kurzer Blick auf den Text und die Bilder ließ Isabella noch tiefer in die Geschichte eintauchen. Sie scrollte weiter, vergaß völlig die Zeit und die Geräusche um sich herum. Sie verlor sich in den Worten, in den Emotionen, die Sergio in seinen Beiträgen teilte, in seiner Suche nach der Vergangenheit und seinem eigenen Erbe.

Es war, als wäre er der einzige Mensch, der in diesem Moment nicht nur existierte, sondern lebte – mit einer Intensität, die sie in ihrem eigenen Leben nie gekannt hatte. Seine Worte hatten die Kraft, sie an Orte zu bringen, die sie nie betreten hatte. Der Blick auf den Bildschirm, das Klicken der Maus, und in der Stille ihres Büros fühlte sie sich plötzlich lebendig, als wäre sie Teil von etwas viel Größerem.

Ein Blick zur Uhr zeigte ihr, dass schon eine Stunde vergangen war, und das Gefühl von Schuld kroch langsam in ihr auf. Sie war noch nicht einmal mit der Arbeit auf ihrem Schreibtisch fertig. Doch statt sich wieder den Aufgaben zu widmen, kippte sie ihren Stuhl nach hinten und seufzte. Ihre Gedanken begannen zu wandern. Warum fühlte sie sich so verbunden mit einem Menschen, den sie nie gesehen hatte? Warum konnte sie sich nicht losreißen, auch wenn sie wusste, dass es unprofessionell war, diesen Blog während der Arbeitszeit zu lesen? Sie riskierte eine Abmahnung oder Schlimmeres.

Es war der Gedanke an den Nebel, an den Waldweg, der sie immer wieder zu ihm zog. Diese Bilder, die so vertraut und doch fremd waren, sprachen eine Sprache, die sie in ihrem Leben nie gelernt hatte. Was, wenn sie selbst nie einen Waldweg in Nebel gehüllt betreten hatte? Was, wenn sie nie den Mut gehabt hätte, ihren eigenen Weg zu finden? Hatte sie es in ihrer kleinen Welt in Gelsenkirchen so sehr vermisst, dass sie bei den Geschichten dieses fremden Mannes Trost fand? Vielleicht war es nicht nur die Neugier auf seine Reisen, sondern der Wunsch, selbst etwas zu erleben, sich selbst zu finden, irgendwo, an irgendeinem dieser geheimen Orte.

Isabella stand abrupt auf und ging zur Kaffeeküche, wo ihre Kolleginnen bereits über das neueste Büroklatsch redeten. Ihre Worte prallten an ihr ab, als sie ihre Tasse füllte. Ihre Gedanken waren noch immer bei Sergio und dem Bild des Nebelwaldes. Während sie an ihrer Tasse nippte, fragte sie sich, was es wohl für ihn bedeutete, all diese Orte zu bereisen, all diese Geschichten zu erzählen. Hatte er nie das Bedürfnis gehabt, sich niederzulassen, wie sie es tat? Oder war es gerade die ständige Bewegung, die ihn suchend und lebendig hielt?

Mit einem weiteren Blick auf die Uhr nahm sie sich vor, bis zum Feierabend durchzuhalten. Aber der Gedanke an Sergio war nicht mehr zu ignorieren. Und als sie zurück an ihren Schreibtisch ging, wusste sie eines ganz genau: Sie musste mehr über diesen Mann erfahren. Sie musste wissen, wohin er ging, was er suchte. Sie musste verstehen, warum sie ihn in einem so persönlichen Raum ihres Lebens spürte – als hätte er die Sehnsucht geweckt, die sie selbst nie benennen konnte.

Und in diesem Moment, während sie mit ihren Fingern über die Tastatur tippte, formte sich bereits der Entschluss in ihrem Kopf: Sie würde ihm schreiben.

Isabella starrte auf das Bild, das den nebligen Waldweg zeigte, den Sergio so oft beschrieben hatte. Es hatte etwas Mystisches, beinahe Magisches. Der Nebel schien den Pfad zu verschlingen, während die Bäume wie stumme Zeugen der Vergangenheit standen. Sie hatte es unzählige Male betrachtet, jedes Detail aufgenommen und sich dabei gefragt, was es wohl bedeutete, dort zu gehen – diesen Weg entlang, durch den dichten Nebel, als würde er eine Erinnerung berühren, die längst vergessen war.

Jetzt, in der Stille ihres Büros, fühlte sie einen plötzlichen Drang, etwas zu sagen. Aber was konnte sie zu diesem Bild schon beitragen? Was hatte sie zu erzählen, das in irgendeiner Weise zu seiner Reise passte?

Zögerlich tippte sie ein paar Worte in das Kommentarfeld unter dem Bild, den Cursor über dem „Absenden“-Button schwebend. Es war keine große Weisheit, keine tiefgründige Erkenntnis, nur ein Satz, der vielleicht mehr über sie selbst aussagte, als sie es wollte:

„Dieser Waldweg fühlt sich an, als würde er zu einem Ort führen, den ich niemals betreten habe, aber immer gesucht habe.“

Es war kurz, fast unspektakulär, aber es war ehrlich. Sie drückte die Tasten, fühlte sich fast schüchtern dabei. Was, wenn er ihre Nachricht einfach übersehen würde? Was, wenn er sie nie lesen würde? Es war nicht so, dass sie wirklich etwas erwartete, doch in ihrem Inneren hoffte sie doch, dass ihre Worte etwas in ihm anrühren könnten. Sie drückte auf „Absenden“, atmete tief durch und lehnte sich zurück in ihrem Stuhl.

Die nächsten Minuten verbrachte sie damit, nervös auf das Display ihres Handys zu starren, das sie wieder in ihrer Hand hielt. Sie öffnete die Instagram-App erneut, nur um zu sehen, ob er online war, als ob sein Name dort ein Zeichen sein könnte, dass er die Nachricht gelesen hatte. Doch nichts. Keine neue Benachrichtigung, kein Kommentar, keine Nachricht.

Isabella fühlte sich fast erleichtert. Vielleicht war es besser so. Vielleicht war es besser, sich nicht zu viel von ihm zu erwarten. Was hatte sie ihm schon zu sagen? Sie war nur eine anonyme Leserin seines Blogs, eine Fremde, die von seinen Erlebnissen berührt war. Was hatte jemand wie er mit jemandem wie ihr zu tun?

Trotzdem konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass etwas in ihr durch den Kommentar in Bewegung geraten war. Eine Unsicherheit mischte sich mit einer zarten Hoffnung, die sie nicht begreifen konnte. Sie fühlte sich verwundbar – als hätte sie ein kleines Stück von sich selbst preisgegeben, ohne zu wissen, was daraus entstehen würde. Aber tief in ihr wuchs die leise Vorstellung, dass dieser Funke der Veränderung vielleicht doch aus einer unerwarteten Ecke kommen könnte. Vielleicht war der Moment, den sie soeben erschaffen hatte, der erste Schritt in eine Richtung, die sie nie zuvor in Betracht gezogen hatte.

Der nächste Tag begann wie jeder andere. Isabella wachte auf, der Blick aus dem Fenster fiel auf den dunklen Himmel, der den Horizont wie ein schwerer Vorhang verschloss. Sie stand auf, erledigte die ersten routinierten Bewegungen des Morgens, setzte sich in die überfüllte Straßenbahn und fuhr zur Arbeit – all das wie im Autopilot-Modus, ohne viel darüber nachzudenken.

Doch als sie in der Kaffeeküche stand und die Tasse in der Hand drehte, blieb ihr Blick plötzlich an ihrem Handy hängen, das auf dem Tisch lag. Eine Benachrichtigung. Sie hatte sie fast vergessen. Der Kommentar, den sie gestern hinterlassen hatte. Ihre Finger zitterten leicht, als das Display aufleuchtete und sie den Namen „Sergio Menendez Clavero“ las. Ihr Herz setzte einen Schlag aus.

Abspann:
„Manchmal reicht ein einziger Satz, um die Stille zu durchbrechen. Und manchmal beginnt Veränderung genau dort, wo niemand hinsieht.“

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