Kapitel 9

Kapitel 9 – Zwischen Zimt und Aufbruch

Vorspann:
„Zimt, Wut, Erinnerung. Zwischen dem warmen Duft der Vergangenheit und dem frostigen Schweigen ihrer Mutter beginnt Isabella, ihren eigenen Weg zu gehen.“

<<– Zurück zu Kapitel 8 – Neue Fragen

„Klingt spannend“, sagte Daniela und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. „Hast du dir mal überlegt, vielleicht auch so eine Reise zu machen?“

Isabella schüttelte unwillkürlich den Kopf. „Ich weiß nicht. Vielleicht ist es das, was mich an ihm so anspricht – diese Suche nach etwas, das größer ist als der Alltag. Aber ich… ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll. Es ist wie… als müsste ich den ganzen Kram hinter mir lassen und neu anfangen. Und das fühlt sich ein bisschen beängstigend an.“

Daniela lachte leise und legte ihre Hand auf Isabellas Arm. „Versteh mich nicht falsch, Isabella, aber ich denke, du brauchst das. Du bist immer so ruhig, so zurückhaltend. Vielleicht ist es an der Zeit, etwas mehr zu wagen. Glaube mir, ein bisschen Abenteuer kann niemandem schaden.“

Isabella nickte, auch wenn sie sich nicht ganz sicher war, ob sie bereit war, diesen Schritt zu gehen. Die Worte klangen nicht so weit weg wie noch vor einigen Wochen. Vielleicht war Daniela nicht ganz falsch. Vielleicht brauchte sie wirklich ein bisschen mehr Abenteuer in ihrem Leben, ein bisschen mehr Farbe. Und vielleicht war es genau dieser Funke – dieses Gefühl von Möglichkeit –, der in ihr zu brennen begann.

Als die Mittagspause zu Ende ging, nahm Isabella ihre Tasse, trank den letzten Schluck und stand auf. Die Unterhaltung mit Daniela war noch ein wenig in ihren Gedanken hängen geblieben. Ein kleiner Keim von Veränderung. Sie wusste, dass es nicht sofort geschehen würde, aber vielleicht, nur vielleicht, war der Gedanke an einen Neustart nicht mehr so weit entfernt, wie er es einmal gewesen war.

„Vielleicht irgendwann“, murmelte sie in sich selbst, als sie zurück an ihren Schreibtisch ging.

Aber tief in ihrem Innern wusste sie, dass dieser „irgendwann“ nicht mehr so weit in der Zukunft lag.

Am Samstagnachmittag schob sich ein blasser Lichtstreifen durch die dichte Wolkendecke über Gelsenkirchen. Es war dieser typische Novembertag – kühl, feucht, farblos. Und doch war etwas anders. Isabella hatte sich ohne besonderen Grund ihren Mantel angezogen, einen Schal umgeworfen und war hinausgegangen. Nicht, weil sie musste, sondern weil es sie hinauszog. Sie hatte keinen Plan, keine Richtung – nur das Gefühl, dass sie nicht länger zwischen grauen Wänden und flimmerndem Bildschirm verharren konnte.

Die Straßen waren vertraut, fast einschläfernd in ihrer Normalität. Der Bäcker an der Ecke, das leerstehende Schaufenster mit den vergilbten Gardinen, der kleine Spielplatz, auf dem zwei Kinder mit roter Nase herumrannten. Isabella ging langsam, die Hände tief in den Taschen, und ließ ihre Schritte treiben.

Wo sie früher nur Leere gesehen hatte, fiel ihr jetzt das Lichtspiel auf dem nassen Asphalt auf. Die Reflexion eines rot-gelben Blattes, das sich in einer Pfütze spiegelte. Das rhythmische Klackern ihrer eigenen Absätze auf dem Pflaster. Ein alter Baum mit knotigen Ästen, der sich wie eine Figur aus einem alten Märchen in den grauen Himmel reckte – ein stiller Wächter, übersehen und doch irgendwie majestätisch.

Sie blieb stehen, sah sich um. Die Welt war dieselbe. Aber irgendetwas in ihr war in Bewegung geraten. Dann kam sie an einem Auto vorbei und sah sich selbst im Fenster. Die Frau, die sie da sah, war unscheinbar, ohne Frisur, blass und ein wenig zu dick. Sie war nicht hässlich, aber auch nicht hübsch. Sie beschloss sich zu ändern, radikal, wenn es sein musste.

Unwillkürlich musste sie an Sergio denken. An seine Worte über die kleinen Dinge – das feuchte Moos, das Knacken der Zweige unter den Füßen, der Nebel, der sich wie Erinnerung über das Land legte. Sie erinnerte sich an ein Video, in dem er still durch einen alten Wald wanderte, ohne Musik, nur mit den Geräuschen der Natur. Er hatte daruntergeschrieben: „Manchmal beginnt die Rückkehr zu sich selbst mit einem Schritt ins Schweigen.“

Isabella spürte eine seltsame Nähe zu ihm, obwohl sie ihn nicht kannte. Aber es war nicht nur er – es war die Sehnsucht nach etwas anderem, etwas Tieferem. Etwas Echtem.

Sie bog in einen kleinen Seitenweg ein, der zu einem alten Friedhof führte. Früher wäre sie achtlos vorbeigegangen. Heute trat sie durch das quietschende Eisentor, ging zwischen den moosbedeckten Grabsteinen hindurch, als würde sie nach etwas suchen.

Die Luft war feucht, beinahe süßlich. Der Wind streifte ihre Wange, als wollte er sie erinnern. An was? An sich selbst?

Sie setzte sich auf eine Bank neben einer verwitterten Statue, bis sie fror. Keine Benachrichtigungen.

Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich nicht wie eine Zuschauerin ihres Lebens, sondern wie jemand, der sich langsam daran erinnerte, wie es sich anfühlt, wirklich da zu sein.

Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

In der Woche darauf ging sie zu einem Frisör, ließ sich das lange Haar abschneiden. Sie trug nun einen flotten Kurzhaarschnitt, der sie völlig veränderte.

Wie immer besuchte sie am Sonntag ihre Mutter. Die Wohnung ihrer Mutter roch nach Zimt, Nelken und altem Teppich. Isabellas Mutter hatte wie jedes Jahr zur Adventszeit gebacken, und der Geruch war so vertraut, dass er in Isabella ein diffuses Gefühl aus Kindheit, Enge und stiller Rebellion weckte. Sie saßen am Küchentisch, zwischen Lebkuchen, Stollen und Porzellanschüsseln mit Goldrand. Draußen fielen nasse Schneeflocken, schwer und lautlos gegen die Fensterscheiben.

„Du warst in letzter Zeit so… abwesend“, sagte ihre Mutter, während sie mit einem Messer die Butter auf ein Stück Christstollen strich. „Ist alles in Ordnung auf der Arbeit? Und was ist mit deinen schönen Haaren passiert?“

Isabella zögerte. Dann sagte sie leise: „Ich habe mich verändert, Mama. Meine Frisur war langweilig und ich denke darüber nach, zu reisen.“

Die Hand ihrer Mutter hielt inne. „Reisen? Jetzt? In deinem Alter? Allein?“

„Ich bin achtundzwanzig, Mama, kein Teenager auf Interrail.“

„Aber du hast einen festen Job, ein sicheres Einkommen. Man wirft das nicht einfach weg, nur weil einem ein bisschen langweilig ist.“

„Es geht nicht um Langeweile.“ Isabellas Stimme wurde fester. „Es geht darum, dass ich das Gefühl habe, ich… ich existiere nur noch. Ich funktioniere. Ich will wissen, wie es ist, wirklich zu leben.“

Die Mutter seufzte, legte das Messer beiseite. „Isabella, du bist vernünftig. Du hast es immer geschafft, dir was aufzubauen. Dieses ‚wirklich leben‘ klingt romantisch, aber am Ende bringt es dich auch nicht weiter. Was, wenn du dort allein bist? Wenn du scheiterst?“

„Und was, wenn ich bleibe und mich nie bewege? Wenn ich mit siebzig aufwache und merke, dass ich alles verpasst habe, weil ich Angst hatte? Und außerdem komme ich ja wieder. Ich habe gar nicht vor dort zu bleiben.“

„Überlege dir das gut, Isabella!“

„Ich weiß nicht, warum du so geworden bist. Aber ich bin nicht du. Ich will einfach weg. Neue Orte sehen, Menschen treffen, neue Eindrücke sammeln. Verstehst du das nicht? Warst du denn nie jung?“

„Doch und du bist das Ergebnis. Deinetwegen lebe ich hier.“

„Mutter, schieb es nicht wieder auf mich! Okay? Du hast nie erzählt, was damals passiert ist. Aber ich bin nicht schuld.“

Ein Moment herrschte Stille.

Dann sagte die Mutter leise, fast unhörbar: „Sicherheit ist kein Fehler.“

„Aber Stillstand ist auch kein Leben“, entgegnete Isabella.

Abspann:
„Manchmal beginnt Veränderung nicht mit einem Streit, sondern mit einem Satz, der endlich gesagt wird.“

Hat Dich dieses Kapitel berührt, irritiert oder neugierig gemacht?
Dann teile Deine Gedanken gern in den Kommentaren. Wenn Du anderen davon erzählen möchtest, hilfst Du Encina Alta dabei, sich weiter zu entfalten – durch ein Like, einen Repost oder einen Hinweis an Freund:innen.

Neue Kapitel erscheinen jeden Sonntag.
Folge dem Weg – Schritt für Schritt, Wort für Wort.
Zur Übersicht aller Kapitel →

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner