Roman

Isabella am chaotischen Schreibtisch, ein Glas Wein

Kapitel 4 – Die Nacht, in der sie ihn fand

Vorspann:

Isabella klickt. Nur ein Video. Dann noch eins.
Was als beiläufige Suche beginnt, wird zu einer Reise ins Innere – und der Moment, in dem sich zum ersten Mal etwas verändert.
Ein Mann spricht über seinen Großvater.
Ein Bild flackert über den Bildschirm.
Und plötzlich ist da ein Ziehen, ein Kloß im Hals – ein Anfang.

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Sie griff zur Fernbedienung, schaltete den Fernseher aus, stand auf und setzte sich an den kleinen Schreibtisch in der Ecke ihres Wohnzimmers. Der Laptop erwachte mit einem sachten Surren zum Leben, und bald glühte das vertraute Weiß der Suchmaschine über den Bildschirm.

„Sergio Menendez Clavero“, tippte sie ein.

Die ersten Treffer kannte sie bereits: sein Instagram-Profil, der Blog, einige Fotobeiträge in Reiseportalen. Doch dann fiel ihr Blick auf einen Link zu YouTube – „Menendez Viajero – Offizieller Kanal“. Ein Hauch von Neugier zog ihr die Schultern straff – was würde sie auf diesem Kanal wohl entdecken? Für einen Moment hielt sie inne, erinnerte sich an das verschwommene Foto aus dem Blog, an das Gefühl, das sie beim Lesen von Sergios Worten nicht losgelassen hatte. Vielleicht würde sie in den Videos mehr über ihn und seine Geschichte erfahren, vielleicht Antworten finden, die sie gar nicht gesucht hatte. Mit klopfendem Herzen klickte sie auf den Link.

Das Kanalbild zeigte ihn an einem Berghang, die Kamera in der Hand, hinter ihm ein weiter Horizont, durchzogen von Licht und Wolken. Sie klickte auf das neueste Video. Es begann mit einer ruhigen Kamerafahrt durch einen nebligen Wald – der gleiche Pfad wie auf dem Foto im Blog, diesmal in Bewegung. Vogelrufe, das sanfte Rascheln von Blättern, das ferne Tropfen von Wasser, und ein feiner Duft von feuchtem Moos lag in der Luft. Ein kühler Windhauch strich über ihre Haut, ließ sie für einen Moment frösteln. Seine Stimme aus dem Off war ruhig, leicht rau, mit einem weichen kastilischen Akzent.

Sie verstand kein Spanisch, aber sie las die Untertitel. Obwohl sie kein Spanisch verstand, halfen ihr die sorgfältig geschriebenen Untertitel, dem Inhalt zu folgen und die Bedeutung der Worte zu erfassen.

Während sie das Video betrachtete, spürte sie, wie die Ruhe des Waldes langsam auf sie überging und ihr Herz einen Moment lang leichter wurde.

„Ich war sieben, als ich zum ersten Mal diesen Weg entlangging. Mein Großvater hatte mir Geschichten erzählt, aber es war mein Urgroßvater, der in diesen Wäldern verschwand. Franco, der Krieg… vieles wurde nicht gesagt. Nur Schweigen. Ich gehe heute für ihn – vielleicht auch für mich.“

Isabella spürte, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle bildete. Sie lehnte sich zurück, starrte auf den Bildschirm, als könnte sie durch das Glas hindurch einen Teil dieser Geschichte begreifen. Das Bild wechselte: ein altes Schwarzweißfoto eines jungen Mannes in Uniform, eingeblendet über dem rauschenden Wald. Dann ein Blick über ein Tal in Galicien, Wolken, die sich an den Hängen verfingen, wie Gedanken, die nicht zu fassen waren.

Das Video endete still – keine Musik, kein Abspann. Nur Nebel. Und sein letzter Satz:

„Ich will wissen, woher ich komme. Vielleicht finde ich so heraus, wohin ich gehe.“

Isabella starrte noch eine Weile auf das dunkle Fenster, in dem gerade eben noch seine Stimme erklungen war. Dann klickte sie auf das nächste Video, und das nächste. Die Zeit verlor sich. Und zum ersten Mal seit langer Zeit spürte sie etwas, das wie ein leises Ziehen an ihrer Seele wirkte – nicht laut, nicht bedrohlich, sondern wie der erste Atemzug nach einem langen, grauen Winter.

Die Stunden verstrichen unbemerkt.

Isabella saß wie festgewachsen an ihrem kleinen Schreibtisch, die Lampe über ihr warf ein blasses Licht auf die Tastatur, während der Rest der Wohnung in Dunkelheit versank. Draußen war es längst tiefe Nacht geworden, doch in ihr war ein neues Leuchten erwacht – ein fiebriges, ruheloses Licht, das sie durch Links, Videos, Blogeinträge und Bilder trieb wie durch ein Labyrinth aus Stimmen, Erinnerungen und Orten, die nichts mit ihrem Leben zu tun hatten – und doch alles damit.

Sie klickte sich durch Sergios YouTube-Archiv, las seine älteren Blogbeiträge, folgte ihm virtuell durch die schroffen Berge Asturiens, die trockenen Hügel Aragóns und die Nebelwälder Galiciens. Immer wieder tauchte das Motiv auf – ein schmaler Pfad, eingefasst von Moos und nassem Laub, fast wie ein Portal in eine andere Welt. Jedes Bild, jedes Wort, jede kleine Erzählung von Kindheit, Verlust und Suche rührte an etwas in ihr, das sie lange verdrängt hatte.

Sie vergaß, Wasser zu trinken, vergaß, den Laptop an den Strom zu hängen, bis der Bildschirm kurz flackerte und sie hastig das Kabel einstöpselte. Die Welt außerhalb des flimmernden Monitors verlor an Bedeutung. Das Büro, die grauen U-Bahn-Fahrten, die leeren Gespräche, die sterile Wohnung – sie erschienen ihr wie die Kulisse eines fremden Lebens.

In einem älteren Video erzählte Sergio von einem einzigen Foto seines Urgroßvaters – aufgenommen wenige Jahre vor dessen Verschwinden. Die Kamera hielt auf das vergilbte Bild. Der Blick des Mannes war ernst, beinahe wachsam. „Ich frage mich oft,“ sagte Sergio leise, „ob er ahnte, dass er nie zurückkehren würde. Ich frage mich, ob er Angst hatte. Und ob jemand auf ihn gewartet hat.“

Da, ganz unvermittelt, platzte in Isabella etwas auf.

Die Tränen kamen zuerst langsam, beinahe widerwillig – doch dann brach alles hervor. Schluchzen schüttelte ihren Körper, unkontrolliert, hemmungslos. Sie lehnte sich nach vorn, vergrub das Gesicht in den Händen, die Schultern bebten, der Atem stockte. Es war kein gezielter Schmerz, eher ein Strom aus Sehnsucht, Verlust und einer tiefen, stillen Erkenntnis: dass sie selbst nie gewartet hatte. Auf niemanden. Und dass auch niemand auf sie gewartet hatte.

Sie war 28 Jahre alt und hatte es nie geschafft, länger bei jemandem zu bleiben. Immer wieder hatte sie gehofft, diesmal würde es anders werden – dass sie vielleicht endlich genug wäre, dass jemand bleiben wollte. Doch jedes Mal zerbrach etwas, bevor es wirklich ernst werden konnte. Mal hatte man ihr gesagt, sie sei zu langweilig, zu festgefahren in ihren Gewohnheiten, mal war sie angeblich nicht spontan genug. Sogar hässlich oder dick hatte man sie genannt. Jedes dieser Worte brannte sich tief in ihr fest, ließ sie nachts an sich zweifeln und überlegte, ob sie je jemandem wirklich genügen würde. Sie fragte sich oft, ob es an ihr lag, ob sie zu wenig gab oder zu viel verlangte – und manchmal spürte sie, wie sich eine leise Angst in ihr ausbreitete, dass sie nie jemanden finden würde, der bleiben wollte.

Sie erinnerte sich an ihren ersten Freund Stephan. Sie waren nur wenige Monate zusammen gewesen, doch schon früh hatte sich ein Gefühl von Distanz eingeschlichen. Oft hatte sie seine Spontaneität und Rastlosigkeit verunsichert, während er ihre ruhige Art manchmal als Bremse empfand. Als er schließlich ging, war sie 19 Jahre alt. „Ich will keine Freundin, die innerlich eine alte Jungfrau ist. Ich will eine, die das Leben genießen kann“, hatte er gesagt. Seine Worte trafen sie unerwartet hart – als hätte er etwas in ihr offengelegt, das sie selbst kaum benennen konnte. Was meinte er damit? War sie wirklich so zurückhaltend, so anders als andere? Noch Jahre später hallte dieser Satz in ihr nach, tauchte in Momenten der Unsicherheit wieder auf und ließ sie an sich zweifeln. Die Trennung hatte sie damals tief getroffen, nicht nur wegen des Verlusts, sondern auch, weil sie das Gefühl hatte, dass ihr etwas Grundlegendes fehlte – etwas, das sie erst viel später zu suchen begann.

Sie wusste nicht, wie lange sie so saß. Vielleicht Minuten, vielleicht eine Stunde. Irgendwann versiegten die Tränen, hinterließen ein leeres, klares Gefühl – wie nach einem Gewitter. Der Bildschirm zeigte das Ende des Videos. Nebel über Bäumen. Kein Ton. Nur Stille.

Isabella atmete tief ein. Dann schloss sie langsam den Laptop. Der Morgen war nicht mehr fern. Und etwas in ihr war zum ersten Mal in Bewegung geraten.

Isabella saß immer noch an ihrem Schreibtisch, die Handflächen flach auf dem Laptop, aber ihre Gedanken liefen weiter, unaufhaltsam. Sie dachte an all die Orte, die Sergio bereiste, an all die Geschichten, die er erzählte, an das, was er suchte und fand – oder auch nicht. Und plötzlich, inmitten der Stille ihres kleinen, leeren Zimmers, war da dieses Bild in ihrem Kopf, das wie ein unwillkommener, aber faszinierender Gedanke auftauchte.

Was wäre, wenn sie Teil von Sergios Leben wäre?

Der Gedanke kam wie ein Blitz und ließ sie für einen Moment still in der Dunkelheit verharren. Sie stellte sich vor, wie es wäre, gemeinsam durch die nebligen Wälder Galiciens zu gehen, den schweren, feuchten Boden unter ihren Füßen zu spüren, die kühle Luft einzuatmen, die Geschichten zu hören, die er in den leeren Raum zwischen ihnen legte. Vielleicht wären sie zusammen durch diese alten Dörfer gewandert, hätten in den verblassten Gemäuern vergangener Zeiten die Spuren seiner Familie entdeckt. Vielleicht hätte sie sich an seiner Seite verloren und wiedergefunden, genauso wie er selbst es in seiner Suche tat. Vielleicht hätte sie seine Hand gehalten, ohne Worte – nur durch das Teilen der Erinnerung an verlorene Menschen, verlorene Zeiten.

Und dann stellte sie sich vor, wie sie nicht nur eine Freundin von Sergio wäre, sondern die Frau, mit der er sein Leben teilte. Sie hatte die Bilder von ihm gesehen, auf denen er ganz bewusst seinen Körper gezeigt hatte, den muskulösen Oberkörper und auf einem Bild war er beim Schwimmen in einem See zu sehen, nackt im Sonnenschein. Isabella atmete tiefer, als sie an das Bild dachte. Sergio war älter als sie, etwa Ende 30, aber er war attraktiv. Bisher waren die Männer in ihrem Leben anders gewesen, schlaffer, weicher. In Sergio sah sie einen völlig anderen Typus Mann.

In ihrer Vorstellung war sie nicht mehr die Frau, die durch überfüllte U-Bahn-Wagen zu einem sterilen Büro in Gelsenkirchen fuhr, nicht mehr diejenige, die nach Feierabend in einer leeren Wohnung vor einem noch leereren Fernseher saß. Sie war jemand anderes, jemand, der mit ihm in diese fremde Welt eintauchte – eine Welt voller unerzählter Geschichten und längst verblasster Spuren. Gemeinsam gingen sie durch die feuchten Nebel des Waldes, in denen jeder Schritt wie eine Reise ins Unbekannte erschien und der Boden unter ihren Füßen nach nasser Erde roch. Vielleicht begleitete sie ihn nicht nur durch die Nebel, sondern auch durch die Schatten seiner eigenen Vergangenheit, in die er sich so verzweifelt zurückzuwagen schien. Sie spürte seine Unsicherheit – das leise Zögern in seinen Bewegungen, die unausgesprochenen Fragen in seinem Blick – und ein Gedanke formte sich in ihr: Sie wollte ihm Halt geben, wollte jemand sein, bei dem er sich fallenlassen konnte. In diesem Moment, zwischen Nebel und Erinnerung, verband sie mehr als nur das Gehen; es war das stille Versprechen, füreinander da zu sein – auch dann, wenn Worte fehlten.

Wenn ein Satz hängen geblieben ist,
wenn etwas in dir nachhallt,
dann schreib es gern hier unten.
Keine Pflicht. Nur, wenn du magst.

Die nächsten Kapitel kommen
immer sonntags, wenn der Nebel noch tief hängt.

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Eichenwald im Nebel mit Lichtstrahl

Kapitel 3 – Alltag in Grau

Vorspann

„In den geordneten Räumen ihrer Wohnung hallt Isabellas Stille lauter als jeder Fernseher. Routine tarnt die Leere – doch etwas regt sich darunter.“

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Mit einem leisen Seufzer legte sie das Handy zur Seite und schloss die Augen. Der Gedanke an den Nebel, der die Straßen, die Wälder und ihre eigenen Gedanken umhüllte, ließ sie nicht mehr los. Es war der Nebel, der sie schließlich in diese neue Welt geführt hatte. Und vielleicht – dachte sie – war es der Nebel, der sie eines Tages auch wieder herausführen würde.

Isabellas Wohnung war wie ein leeres Gehäuse, das den täglichen Trott stumm erduldete. Beim Betreten wurde man von einer sauberen, aber leblosen Stille empfangen. Die Möbel hatte sie beinahe wahllos zusammengekauft, helle, einfache Holzmöbel, die in makellosem Zustand waren, aber so neutral, dass sie fast vergessen wirkten. Sie hatte ein graues Sofa gewählt, dessen Kissen ordentlich in einer Reihe lagen, die aber nie benutzt wurden. Ein glatter, glänzender Esstisch, auf dem nie ein Krümel lag, weil sie ihn immer sofort säuberte, und Stühle, die unberührt am Tisch standen. Überall war alles in schlichten Tönen – Weiß, Hellgrau und Blaugrau – als hätte ein Designer mit wenig Fantasie das Leben der Besitzerin in einem einzigen Atemzug zusammengestellt. Es sah aus wie einer dieser Instagram tauglichen Beige-Moms.

Es gab keine Farben, keine persönlichen Akzente, die dem Raum eine Seele verliehen. Keine Bilder an den Wänden, keine Karten von Orten, die sie besucht hatte, keine Fotografien von Familienmitgliedern oder Freunden. Die Wände waren nackt, bis auf einige wenige neutrale Deko-Elemente – eine minimalistische Uhr, deren Zeiger in monotoner, regelmäßiger Bewegung den unaufhörlichen Takt des Lebens maß, das irgendwann keine Bedeutung mehr hatte.

In einer Ecke stand ein schmales Bücherregal, vollgestopft mit ungelesenen Ratgebern und einem Sammelsurium an Nachschlagewerken aus dem Internet. Doch der Staub auf den Buchrücken ließ darauf schließen, dass der Platz nie für echte Literatur, sondern eher für eine Ästhetik genutzt wurde – eine, die vorgab, Wissen zu enthalten, ohne es wirklich zu begehren. Isabella beachtete weder das Regal noch seinen Inhalt.

Sie hatte auch keine Pflanzen. Haustiere waren gar nicht in ihrem Gedankenrepertoire. Es gab nichts Lebendiges, das eine Verbindung zum Raum oder zu ihr selbst herstellen konnte. Die Luft war immer frisch, beinahe zu frisch, aber es war die Kälte eines Raumes, der nie in Besitz genommen wurde. Kein Duft von etwas Gebackenem, keine Kerzen, kein frisch gewaschener Duft, der von der Wäsche der Woche ausgeht. Alles war so akkurat, so ordentlich, dass es beinahe unangenehm wirkte. Der Raum hatte keine Geschichte, kein Leben. Alles, was sie an Erinnerungen mitbrachte, trug sie in ihrem Inneren und verschloss es in der Leere des Raumes.

Die Küche, die an den Wohnbereich angrenzte, war genauso unpersönlich. Ein kleiner Tisch, der eher funktional als einladend wirkte, umringt von vier ebenso wenig bequemen Stühlen. Der Kühlschrank summte leise vor sich hin, und die Regale waren mit durchsichtigen Plastikbehältern und neutralen Gläsern gefüllt – keine Marmelade im Glas von der Tante geerbt, keine Salzstreuer, die Geschichten von vergangenen Reisen erzählten. Alles war so klar und geradlinig, wie eine Bühne kurz vor dem Vorhang. Alles war für den Augenblick bereit – doch nichts war je wirklich lebendig.

Es war der perfekte Ort für Isabella, um sich zu verstecken. Um zu leben, ohne wirklich zu leben.

Isabella stand in der Küche, die leere Stille um sie herum fühlte sich fast greifbar an, während ihre Hände automatisch die Tiefkühlpizza aus dem Karton nahmen. Der Kühlschrank summte leise im Hintergrund, als sie das Plastik ablöste und die flache, runde Pizza auf das Backblech legte. Die rote Verpackung war fast das Einzige, was farbenfroher war als der Rest der Wohnung. Sie schob das Blech in den Ofen, ließ die Tür mit einem leisen Klick hinter sich zufallen und stellte den Timer auf 15 Minuten – noch eine einfache, vertraute Routine.

In der Zwischenzeit holte sie sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und goss sich ein Glas voll ein. Der Raum fühlte sich kühl an, der Boden war kalt unter ihren Füßen, als sie zurück ins Wohnzimmer ging. Der Fernseher war bereits eingeschaltet, das vertraute Rauschen von Nachrichten und Werbespots füllte den Raum, doch sie nahm es nur halb wahr. Ihr Blick streifte den Bildschirm, ohne wirklich zu sehen, was dort lief. Ihre Gedanken waren woanders, bei den Bildern von Sergio, bei seinen Geschichten und dem Wald in Galicien, bei der Sehnsucht nach etwas, das sie selbst nicht benennen konnte. Doch der Alltag hatte sie im Griff, und so musste sie sich auch weiterhin in den gewohnten Bahnen bewegen.

Als der Timer klingelte, stand sie auf und ging zurück in die Küche. Der Ofen hatte die Pizza gleichmäßig goldbraun gebacken, und ein verlockender, fettiger Duft stieg ihr in die Nase. Sie schnitt die Pizza in vier Teile, der Käse war noch blubbernd heiß, und der Teig hatte genau die richtige Konsistenz – nicht zu hart, aber auch nicht zu weich. Keine Überraschung, keine Freude. Nur Funktionalität. Es war immer das Gleiche, immer genau wie beim letzten Mal.

Mit einem Teller und einer Gabel in der Hand setzte sie sich auf das Sofa. Der Fernseher plärrte weiter, aber sie achtete nicht darauf. Der erste Bissen war wie ein gewohntes, fast unangenehmes Bedürfnis. Der Geschmack war fettig, salzig, aber leer – genauso wie das Leben, das sich nach und nach in den grauen Abenden wiederholte. Sie kaute mechanisch, der Blick auf dem Bildschirm verharrend, während sie von den Nachrichten zu den Werbeunterbrechungen wechselte. Es war, als würde sie die Zeit einfach über sich ergehen lassen, ohne wirklich teilzunehmen.

Der Fernseher zeigte eine Werbung für ein neues Auto, das in jeder Hinsicht perfekt war. Das glänzende Metall, die makellosen Sitze, die durchscheinende Qualität des Bildes. Isabella fragte sich für einen Moment, ob jemand das Gefühl von Lebendigkeit erleben konnte, das der Bildschirm so deutlich vorgaukelte. Sie nahm noch einen Bissen, dann noch einen, und irgendwann war die Pizza verschwunden. Der Teller war leer, und sie stellte ihn zur Seite, ohne ihn wirklich wahrzunehmen.

Der Fernseher lief weiter. Aber Isabella saß nun einfach da, der Kopf leer, die Augen müde. Der Nebel in ihrem Geist war fast genauso wie der, den sie von Sergios Fotos kannte – ein Nebel, der sie immer wieder einhüllte, sie aber nie wirklich vorwärts führte.

Nach dem letzten Bissen der lauwarmen Pizza ließ Isabella die Gabel achtlos auf dem Teller liegen. Der Fernseher lief noch, irgendeine belanglose Casting-Show flimmerte über den Bildschirm, doch sie hörte nicht mehr hin. Etwas arbeitete in ihr. Es war ein leises Kribbeln, ein kaum greifbares Unbehagen, das sich unter der gewohnten Trägheit regte. Der Blogeintrag, den sie am Vormittag im Büro gelesen hatte – dieser neblige Waldpfad, Sergios Worte über seinen Urgroßvater – all das hatte sich wie ein kleiner Widerhaken in ihrem Innersten festgesetzt.

Abspann:
„Auch dieser Abend wird vorübergehen. Doch in Isabellas Innerem regt sich längst etwas, das sich nicht mehr wegwischen lässt — nicht einmal vom nächsten Morgen.“

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