Sanluz de Montarroyo

Die Kapelle von Sanluz de Montarroyo im romanischen Stil

800 Jahre Sanluz de Montarroyo

Die Kapelle von Sanluz

Der schmale Pfad windet sich langsam und sanft zwischen den uralten, knorrigen Olivenbäumen hinauf, kaum breiter als ein einzelner Schritt. Die Sonne steht tief am Himmel, wirft flaches, warmes Licht über die sanften Hügel und taucht die Landschaft in ein goldenes, friedvolles Glühen. In der Ferne ertönt das leise Läuten einer Glocke, zart und kaum hörbar, mehr im Herzen spürbar als in der Luft wahrnehmbar.

Ganz oben auf dem Hügel thront die kleine, schlichte Kapelle von Sanluz de Montarroyo, mit ihren Mauern aus hellem, warmem Sandstein und einem sanft abgerundeten Bogen aus rotem Ziegel, der von Wind und Zeit behutsam geglättet und weichgeschliffen wurde.
Zwischen den alten, abgenutzten Stufen wachsen ein paar wilde Kräuter, die sich trotzig ihren Platz erobert haben. Der sanfte Wind trägt den intensiven Duft von frischer, feuchter Erde mit sich, vermischt mit einem Hauch von etwas Vergangenem, das an eine längst verlorene Erinnerung erinnert und tief im Inneren berührt.

Drinnen herrscht eine angenehme Kühle, die den Raum auf eine beruhigende Weise durchdringt. Das Licht fällt sanft durch ein schmales Fenster und trifft auf den kalten Steinboden, als würde es dort etwas Vertrautes oder Verborgenes suchen, das nur darauf wartet, entdeckt zu werden.
Es gibt keinen Prunk und keinen Schmuck, nichts, was den Blick ablenkt – nur das leise Echo der Menschen, die hier vor vielen Jahrhunderten dasselbe taten: zur Ruhe kommen und still werden.
Manchmal ist genau das alles, was man braucht, um Frieden zu finden.

Ein einfaches Mahl bei Verwandten für André und Marta

Kapitel 21 – Ein Stück Heimat

Vorspann

Manchmal findet man die Wurzeln nicht dort, wo man sie vermutet.
Sergio besucht Verwandte, die er kaum kennt – und entdeckt in den stillen Gesten, den vertrauten Gerüchen und den Erinnerungen anderer ein Stück seiner eigenen Geschichte.

Zurück zu Kapitel 20 – Heimat in der Ferne

Ein Stück Heimat

Es war ein warmer Tag, die Sonne hing hoch am Himmel und tauchte die malerische Landschaft von Nordspanien in ein goldenes Licht. Isabella und Sergio fuhren auf einer schmalen, gewundenen Landstraße, die sich an Hügeln und Weiden entlang schlängelte. Die Straßen waren leer, nur vereinzelt fuhren sie an kleinen Dörfern vorbei, in denen die Häuser dicht aneinandergebaut waren, als wollten sie sich gegenseitig wärmen.

„Ich hoffe, sie sind zu Hause“, sagte Sergio, seine Stimme klang ein wenig angespannt. „Meine Verwandten wohnen hier in der Nähe. Es sind Menschen, die ich nur sehr selten sehe. Sie haben mir nie viel über die Familie erzählt. Ich weiß nicht, ob sie sich noch an mich erinnern.“

Isabella nickte, obwohl sie wusste, dass er sie wahrscheinlich mehr für seine eigene Unsicherheit als für sie selbst beruhigte. Sie hatte gelernt, dass er nicht nur auf der Suche nach den Spuren seines Urgroßvaters war, sondern auch nach Verbindungen zu den Menschen, die er auf seinem Weg verloren hatte.

Als sie an einem kleinen, mit Efeu überwucherten Haus anhielten, zögerte Sergio kurz, bevor er die Tür öffnete und klopfte. Es dauerte nicht lange, bis ein älterer Mann mit silbernem Haar und einem warmen, aber skeptischen Blick öffnete. „Sergio? Der Junge aus Barcelona?“ Der Mann schien überrascht, aber auch erfreut, ihn zu sehen.

„Ja, Onkel Andrés“, sagte Sergio und umarmte den Mann. „Ich dachte, es wäre schön, euch wieder einmal zu sehen. Ich habe lange nicht mehr vorbeigeschaut.“

Der Onkel trat zur Seite, um sie eintreten zu lassen. „Du bist also der junge Mann, der aus der Ferne gekommen ist, um nach seinen Wurzeln zu suchen“, sagte er mit einem Lächeln. „Komm rein, kommt rein. Deine Tante Marta ist drinnen und wird sich freuen, dich zu sehen.“

Isabella folgte Sergio hinein und blickte sich in der alten, mit rustikalen Möbeln eingerichteten Wohnung um. Der Raum roch nach Holz und Gewürzen, und an den Wänden hingen Bilder von Familie und vergangenen Zeiten. Es war wie ein Fenster in eine Welt, die sie nur aus Erzählungen kannte. Die Menschen hier waren einfach, aber ihre Wärme war spürbar, auch wenn es eine ruhige, fast zurückhaltende Wärme war.

Tante Marta, eine Frau in den späten Sechzigern mit grauem Haar und einem freundlichen, aber etwas fragenden Blick, begrüßte sie herzlich. Sie ließ Isabella Platz an einem Tisch, der mit einem einfachen Mittagessen gedeckt war – frisches Brot, Käse, Oliven und ein paar gegrillte Würstchen. Es war kein festliches Mahl, aber es fühlte sich dennoch wie ein Moment der Verbindung an.

„Ich habe oft von dir gehört, aber dich noch nie gesehen“, sagte Tante Marta zu Sergio, während sie ihm eine Tasse Kaffee einschenkte. „Dein Urgroßvater war ein stolzer Mann. Wir haben nicht viel über ihn gesprochen, aber er hat uns immer von seinen Reisen erzählt. Du weißt, wie das damals war… In den 40er Jahren war nicht viel Platz für große Träume.“

Isabella lauschte interessiert, als sie spürte, dass diese Gespräche hier etwas anderes bedeuteten. Für Sergio war dies mehr als nur ein Besuch bei Verwandten – es war ein Teil seiner Reise, ein Versuch, die Lücken in der Geschichte seiner Familie zu füllen. Doch für Isabella war es ebenso eine Reise, und sie fühlte sich irgendwie wie eine stille Beobachterin, die in das Leben eines anderen eintauchte, während sie gleichzeitig nach ihrem eigenen Platz suchte.

Der Nachmittag verging in entspannten Gesprächen über alte Zeiten, Geschichten von der Gegend und von der Familie, die sie über die Jahre hinweg verloren hatten. Sergio stellte viele Fragen, und Tante Marta und Onkel Andrés antworteten geduldig, manchmal mit einem Lächeln, das ihre Erinnerungen auflebte. Es war, als ob all die Jahre der Abwesenheit plötzlich unbedeutend wurden. In diesem Raum, bei diesen Menschen, fühlte sich alles richtig an.

„Wir sind alle ein Stück von dem, was war“, sagte Onkel Andrés nach einer Weile. „Manchmal ist es schwer, das zu erkennen, wenn man die Menschen nicht mehr sieht. Aber es ist immer noch da, in uns.“

Isabella spürte, wie sich etwas in ihr regte. Es war das Gefühl von Zugehörigkeit, das sie in den letzten Monaten immer mehr entdeckt hatte. Die Menschen, mit denen sie jetzt zusammen war, fühlten sich auf eine Art wie ihre Familie an, ohne dass sie je den gleichen Ursprung teilen mussten. Es war nicht nur die gemeinsame Zeit, sondern das stille Verständnis, das sie verband.

Als sie sich verabschiedeten, bedankte sich Sergio für den Besuch. Tante Marta drückte ihm fest die Hand und sah ihm tief in die Augen. „Wir sehen uns nicht oft, aber du bist immer willkommen, Sergio. Die Türen hier sind immer für dich offen.“

Isabella konnte sehen, wie wichtig dieser Moment für Sergio war, wie viel er von diesen kurzen Begegnungen mit seiner Familie erhoffte. Doch auch sie selbst fühlte eine leise Berührung der Verbundenheit, nicht nur mit den Menschen hier, sondern mit der Welt, die sich vor ihr ausbreitete.

Als sie sich auf den Rückweg machten, sagte sie leise: „Ich habe das Gefühl, dass du ein Stück deiner Geschichte hier gefunden hast.“

Sergio nickte, doch seine Augen waren nachdenklich. „Ja“, sagte er. „Aber ich weiß noch nicht, ob das genug ist. Vielleicht ist die Geschichte nicht nur das, was uns verbindet, sondern auch das, was wir daraus machen.“

Isabella spürte eine leise Ergriffenheit, als sie gemeinsam durch die sanften Hügel fuhren. Es war nicht nur seine Reise, auf die sie ihn begleitet hatte. Es war auch ihre eigene Reise, die sie Schritt für Schritt, Tag für Tag, immer mehr verstand. Und vielleicht, dachte sie, war das der wahre Beginn von allem.

Abspann

Zwischen Brot, Kaffee und alten Familiengeschichten entsteht etwas, das bleibt: das Gefühl, dazuzugehören, auch wenn man längst fortgegangen ist.
Für Isabella wird deutlich, dass Heimat kein Ort ist – sondern die Menschen, die uns einen Platz in ihrer Erinnerung geben.

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Sergio und Isabella in einem Restaurant. Auf dem tisch stehen verschiedene Tapas und sie haben Rotwein vor sich.

Kapitel 17 – Auf den Spuren der Vergangenheit

Vorspann:
Ein verregneter Nachmittag führt Isabella und Sergio tiefer hinein in die Geschichte seiner Familie. Alte Dokumente und vergilbte Fotos öffnen Türen zu Geheimnissen, die seit Generationen verborgen liegen – und gleichzeitig wächst eine Nähe zwischen den beiden, die niemand vorausgeahnt hätte.

Hier geht es zurück zu Kapitel 16 – Stein und Stille!

Auf den Spuren der Vergangenheit

Es war ein regnerischer Nachmittag, als Sergio sie bat, ihm bei etwas zu helfen, das er schon lange vor sich herschob. Sie saßen in seinem kleinen Arbeitszimmer, das mehr nach einem chaotischen Archiv als einem Büro aussah. Überall lagen alte Papiere, Bücher, und Karten. Der Geruch von Staub und altem Papier hing in der Luft, während draußen der Regen gegen das Fenster trommelte.

„Es geht um meinen Urgroßvater“, begann er, während er eine vergilbte Fotografie aus einer Box holte. Es zeigte einen jungen Mann in einem Anzug, schmal und ernst, mit einem langen, dunklen Bart. „Er verschwand 1947, während des Bürgerkriegs. Niemand weiß, was mit ihm passiert ist.“

Isabella nahm das Bild in die Hand und betrachtete es aufmerksam. „Warum weiß niemand, was passiert ist?“

„Er war in der Armee der Republik, aber seine Einheit wurde aufgelöst, als Franco die Macht übernahm. Danach gibt es keine Aufzeichnungen mehr. Er wurde nie gefunden. Niemand hat ihm nachgetrauert, niemand hat nach ihm gesucht.“ Seine Stimme wurde leiser, als er das letzte Wort sprach.

Isabella sah ihn an und spürte die Schwere seiner Worte. „Das ist… tragisch.“

„Ja“, sagte er und ließ sich auf den Stuhl sinken. „Aber es ist mehr als das. Es ist, als würde ein Teil der Geschichte meiner Familie fehlen, als könnte ich nicht wirklich verstehen, wer ich bin, wenn ich nicht weiß, was mit ihm passiert ist.“

Er schaute sie an, die Augen voller Hoffnung. „Ich habe einige Aufzeichnungen, alte Briefe, militärische Dokumente, aber ich komme nicht weiter. Vielleicht… vielleicht kannst du mir helfen?“

Isabella nickte, ohne zu zögern. „Klar. Wie genau kann ich dir helfen?“

Er holte eine Sammlung von Papieren hervor und breitete sie vor ihr aus. „Ich habe einige alte Adressbücher, die er damals benutzt haben muss, und es gibt ein paar Einträge über seinen Verbleib in einem Archiv in Barcelona. Aber ich komme nicht weiter und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“

„Lass uns das Schritt für Schritt durchgehen“, schlug Isabella vor. Sie hatte nie Interesse an Ahnenforschung gehabt, aber die Idee, etwas so Persönliches und Wichtiges für Sergio herauszufinden, berührte sie tief.

Sie verbrachten den Rest des Nachmittags damit, die alten Dokumente zu sortieren. Sergio half ihr, die spanischen Worte zu verstehen, und sie suchten online nach weiteren Hinweisen. Bei jeder neuen Entdeckung wuchs die Verbindung zwischen ihnen. Die Arbeit an diesem persönlichen Rätsel brachte sie näher zusammen, als Worte es je hätten tun können.

„Was, wenn wir nie herausfinden, was passiert ist?“, fragte sie leise, als sie ein weiteres, hoffnungsloses Archivdokument betrachteten.

„Dann bleibt die Geschichte für immer ein Teil von uns, auch wenn wir die Antworten nicht finden“, antwortete er, ohne sie anzusehen. „Aber ich kann nicht aufhören zu suchen.“

Isabella spürte eine unerklärliche Nähe, als sie über seine Schulter schaute, während er durch die nächsten Seiten blätterte. Sie wusste nicht, ob sie mehr für das Geheimnis seiner Familie empfand oder für Sergio selbst. Es war ein Gefühl, das sie nicht in Worte fassen konnte, aber es war da, zwischen ihnen, spürbar und ungesagt.

„Ich werde dir helfen, Sergio“, sagte sie schließlich und berührte leicht seine Hand. „Egal, wie lange es dauert.“

Er sah sie an, seine Augen weich und dankbar. „Danke. Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet.“

In diesem Moment war es nicht nur die Recherche, die sie zusammenbrachte. Es war das Gefühl, gemeinsam auf etwas Größeres hinzuarbeiten. Etwas, das sie beide verband – nicht nur durch die Geschichte, sondern durch ihre gemeinsame Reise in die Vergangenheit.

Ein gemeinsamer Moment

Es war ein Abend, an dem der Regen nachgelassen hatte, und die Luft draußen war frisch und kühl. Isabella und Sergio hatten sich dazu entschieden, nicht mehr weiter in den Dokumenten zu blättern. Stattdessen hatten sie ein kleines, gemütliches Restaurant in der Nähe ausgewählt, das für seine Tapas bekannt war – eine kleine, aber feine Oase im Herzen der Altstadt.

Sie saßen an einem runden Tisch in der Ecke, das Licht war gedämpft, und die Atmosphäre war entspannt. Isabella hatte das Gefühl, dass der Tag anstrengend gewesen war, aber auf eine gute Weise. Es war eine der ersten Nächte, in denen sie sich wirklich in Spanien angekommen fühlte. Nicht nur in einem neuen Land, sondern auch in einer neuen Lebensphase.

„Ich weiß nicht, ob du es je erwähnen hast, aber was isst du eigentlich am liebsten?“, fragte Isabella, als sie das Menü studierte.

Sergio sah auf, ein kleines Lächeln auf den Lippen. „Du wirst lachen, aber… Paella. Einfach. Nichts dabei.“

„Das ist nicht einfach“, sagte Isabella lachend. „Das ist ein Klassiker!“

„Ja, aber für mich ist es auch irgendwie… Erinnerungen. Als Kind, bei meinen Großeltern. Alles, was mit Paella zu tun hat, hat immer ein Stück meiner Kindheit. Du weißt, der Duft, der durch das Haus zieht. Aber eigentlich…“, er zögerte einen Moment, „eigentlich mag ich auch die einfachen Dinge: Brot, Oliven, Käse. Es muss nicht viel sein.“

Isabella nickte nachdenklich. „Ich verstehe. Ich habe nie viel Wert auf diese kleinen, aber besonderen Dinge gelegt. Vielleicht… habe ich sie nie richtig zu schätzen gewusst.“

Sergio sah sie aufmerksam an, als er das hörte. „Manchmal muss man erst weit weggehen, um das zu verstehen“, sagte er leise.

Kurz darauf brachte der Kellner die ersten Tapas. „Probier mal diese Albóndigas“, sagte Sergio, als er ihr einen kleinen Teller mit Fleischbällchen hinstellte. „Die sind unglaublich.“

Isabella nahm eine und probierte vorsichtig. „Mmmh… du hast recht. Die sind gut.“

Während sie aßen, redeten sie nicht nur über die Reise, sondern auch über alltägliche Dinge. Isabella erzählte von ihren Kollegen, die immer in Hektik lebten und nie wirklich Zeit für sich selbst fanden. Sergio lachte und erzählte von den eigenwilligen Charakteren in seiner Familie, von seinem Onkel, der stets darauf bestand, dass der „alte Weg“ der einzig wahre war, und seiner Tante, die immer mit einem Lächeln davon sprach, „die ganze Welt zu erobern“.

Das Gespräch fließend, begleitet von Lachen, das die Tischdecke füllte. Zwischen den Gängen fühlte sich die Atmosphäre locker an, beinahe so, als ob sie sich schon Jahre lang kannten.

„Es ist schon verrückt“, sagte Isabella nach einer Pause. „Ich habe das Gefühl, als würde ich mich in einem völlig anderen Leben wiederfinden. Als würde ich die letzten Jahre in Deutschland wie durch einen Nebel sehen. Wie ein anderer Mensch.“

Sergio nickte. „Manchmal braucht es einen Ort wie diesen, um wirklich zu verstehen, wer man ist. Oder wer man sein könnte.“

Sie spürte, dass in seinen Worten mehr lag als nur ein oberflächlicher Austausch. Etwas Unausgesprochenes, das sie beide in diesem Moment teilten. Eine Reise, die über das Entdecken von Orten hinausging. Es war eine Reise zu sich selbst, und sie waren einander dabei nicht mehr ganz so fremd.

„Ich glaube, ich habe nicht gewusst, wie viel ich vermisst habe“, sagte sie schließlich. „Wie wenig ich wirklich für mich selbst lebe.“

Sergio sah sie an, und sein Blick war warm, fast fürsorglich. „Es ist nicht zu spät, Isabella. Wir können immer noch lernen, was es bedeutet, wirklich zu leben.“

Sie hielt für einen Moment inne, dann nickte sie leise, als ob sie den stillen, aber mächtigen Hinweis in seinen Worten begriff. Etwas in ihr schwang mit, als ob sie gerade den ersten Schritt auf einem neuen Weg getan hatte. Die vertrauliche Nähe zwischen ihnen war gewachsen, nicht durch große Gesten oder Worte, sondern durch das stille Verständnis, das sich in diesem Moment zwischen ihnen aufbaute.

Der Abend neigte sich dem Ende zu, und als sie aus dem Restaurant traten, war die Nacht noch jung. Der Himmel war klar, und die Straßen von der feuchten Abendluft glitzernd. Isabella zog die Jacke enger um sich und ging neben Sergio, als sie den sanften Klang ihrer Schritte auf dem Kopfsteinpflaster hörte.

„Ich bin froh, dass wir heute Abend hier sind“, sagte sie, als sie ihn anblickte.

„Ich auch“, sagte er leise. „Vielleicht sind wir hier genau zur richtigen Zeit.“

In diesem Moment, bei dem stillen Erlöschen der Lichter der Stadt, fühlte sich alles richtig an. Es war nicht nur das Essen, nicht nur die Gespräche – es war der Moment, der sie beide verband. Die erste echte Vertrautheit.

Abspann:
Zwischen Archivrecherche und Tapas-Abend entsteht mehr als nur ein gemeinsames Projekt. Isabella und Sergio spüren, dass sie nicht nur nach Antworten in der Vergangenheit suchen – sondern auch nach ihrem Platz im Hier und Jetzt.

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Ein Strand im Sonnenuntergang, Felsen im Hintergrund, schwarzer Sand und sanfte Brandung

Kapitel 16 – Stein und Stille

Vorspann

Manchmal sind es stille Orte, die mehr bewegen als große Ereignisse. In diesem Kapitel begleite ich Isabella und Sergio zu einer alten Kapelle und weiter ans Meer – zwei Stationen, die für sie zu Wendepunkten werden. Vielleicht entdeckt ihr zwischen den Zeilen, was sich da verändert.

Zurück zu Kapitel 15 – Ein Platz, der nicht mehr leer ist

Stein und Stille

Die Kapelle lag versteckt auf einem Hügel, eingerahmt von wildem Ginster und alten Olivenbäumen. Ein unscheinbarer Bau aus grobem Stein, der sich in die Landschaft schmiegte, als sei er schon immer Teil von ihr gewesen. Der Weg dorthin war steil und schmal, und als sie die letzten Stufen erklommen, blieben beide für einen Moment schweigend stehen.

„Ich war als Kind oft hier“, sagte Sergio leise. „Meine Großmutter brachte mich her, wenn sie betete. Ich verstand nichts davon – aber ich mochte den Geruch. Wachs, Staub, altes Holz.“

Isabella trat vorsichtig ein. Die schwere Tür knarzte und gab den Blick frei auf einen kargen Raum mit einfachen Bänken und einer kleinen Figur der Virgen del Camino, deren Gesicht im Halbschatten lag. Nur ein paar Kerzen brannten. Es war kühl, still, fast ehrfürchtig.

Sie setzten sich nebeneinander in die letzte Reihe. Die Stille war so vollkommen, dass man das eigene Atmen hörte.

„Ich bin nicht religiös“, flüsterte Isabella.

„Ich auch nicht wirklich. Aber… manchmal glaube ich, Orte tragen Erinnerungen. Auch für die, die sie nicht selbst erlebt haben.“

Isabella fuhr mit der Hand über die raue Holzlehne der Bank. Sie dachte an das graue Büro, an die Neonlichter, an die Abende vor dem Fernseher. Und daran, wie weit das alles plötzlich entfernt schien.

„Es fühlt sich an wie… eine Schwelle“, sagte sie schließlich. „Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Zwischen hier und nirgendwo.“

Sergio nickte. „Vielleicht genau deshalb komme ich her. Um nicht ganz zu verschwinden.“

Sie sah zur Madonna. Ihre Züge waren schlicht, aber nicht hart. Es lag eine stille Güte darin, etwas Trostspendendes.

Isabella schloss die Augen. Und für einen Moment spürte sie etwas, das sie nicht benennen konnte – nicht Glaube, nicht Hoffnung. Aber Nähe. Als würde ein Teil von ihr, den sie lange nicht gespürt hatte, plötzlich aufatmen.

Als sie die Kapelle später verließen, war das Licht weicher geworden. Der Wind hatte sich gelegt. Und obwohl sie kein einziges Gebet gesprochen hatten, fühlte es sich an, als wäre etwas in Bewegung geraten.

Der Weg zum Meer

Am frühen Morgen brachen sie auf. Sergio hatte vorgeschlagen, ans Meer zu fahren – ein kleiner Ort, nicht in den Reiseführern, eine Bucht mit schwarzem Sand und kantigen Felsen, „wie aus einer anderen Welt“, hatte er gesagt.

Sie saßen in seinem alten Wagen, das Fenster auf seiner Seite halb geöffnet, Musik leise aus den Lautsprechern – etwas Spanisches, das sich für Isabella melancholisch und lebendig zugleich anfühlte. Die Straße wand sich durch Wälder und Hügel, und mit jedem Kilometer schien der Alltag weiter hinter ihr zu verschwinden.

„Warst du schon oft dort?“, fragte sie.

„Nur ein paar Mal. Aber jedes Mal denke ich: Ich muss zurück. Vielleicht, weil ich dort niemandem etwas beweisen muss.“

„Auch nicht dir selbst?“

Er lächelte kurz, ohne zu antworten.

Als sie ankamen, lag die Bucht verlassen unter einem graublauen Himmel. Das Meer atmete ruhig, in langen, rollenden Wellen. Keine Touristen, nur ein paar Möwen, die sich gegen den Wind stemmten.

Sie gingen nebeneinander am Wasser entlang. Isabella zog die Schuhe aus, tauchte ihre Füße ins kalte Meer und schrie leise auf, lachte dann – das erste freie Lachen, das Sergio von ihr hörte.

Später saßen sie auf einer flachen Felsplatte, teilten Brot, Oliven und Käse, den sie unterwegs gekauft hatten. Ihre Beine berührten sich flüchtig, ein fast zufälliger Kontakt – aber keiner von beiden wich zurück.

„Ich frage mich oft, ob ich zu viel laufe“, sagte Sergio irgendwann. „Ob es eine Grenze gibt zwischen Suchen und Fliehen.“

Isabella sah hinaus auf die glitzernde Wasseroberfläche. „Vielleicht ist es nur Flucht, wenn man gar nicht weiß, was man sucht.“

Er sah sie an, länger als nötig. „Und du? Was suchst du?“

„Ich weiß es noch nicht“, sagte sie ehrlich. „Aber ich glaube, ich fange gerade erst an.“

Ein Windstoß fuhr über das Wasser und ließ ihr Haar tanzen. Sergio hob die Hand, strich eine Strähne aus ihrem Gesicht – langsam, zögerlich. Und in diesem Moment war die Nähe nicht mehr zufällig, sondern gewollt.

Der Nachmittag verging wie im Flug. Als sie zurückfuhren, sagte keiner von beiden viel. Aber als Isabella am Abend in ihrem Zimmer die Salzkruste auf ihrer Haut spürte, wusste sie: Etwas hatte sich verändert.

Abspann

Zwischen Stein und Wasser, Stille und Bewegung, hat sich etwas gelöst. Noch ohne Namen, doch wie ein Versprechen, das im nächsten Kapitel weiterklingen wird.

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Spanische Marktszene im Sonnenschein: Stände mit Tomaten, Orangen, Paprika und Bananen, Menschen im Gespräch, im Vordergrund Isabella und Sergio, die einander zum ersten Mal begegnen.

Kapitel 14 – Zögernde Schritte

📖 Vorspann:
„Ankommen heißt noch nicht Zuhause sein. Doch zwischen Marktständen, Straßenmusik und vorsichtigen Gesten begegnen Isabella und Sergio einander wirklich.“

Kapitel 13 verpasst? Hier entlang!

Ankunft im Licht

Als das Flugzeug zur Landung ansetzte, wurde der Horizont klar. Die Wolkendecke war aufgerissen, und darunter erstreckte sich eine Landschaft, die in sattem Grün und weichen Hügeln leuchtete. Wälder, Felder, winzige Dörfer mit Terrakotta-Dächern – alles schien in sanftes Licht getaucht, als wolle es die Fremde willkommen heißen.

Isabella hielt den Atem an. Es war, als hätte sie ein Gemälde betreten.

Der Flughafen von Santander war klein und übersichtlich. Kaum hatte sie das Terminal verlassen, roch sie das Meer – salzig, frisch, mit einem Hauch von Algen und etwas, das sie nicht benennen konnte. Vielleicht war es die Freiheit.

Sie hatte nur einen kleinen Koffer dabei. Der Bus ins Stadtzentrum ruckelte über enge Straßen, vorbei an Palmen, alten Mauern und Häusern mit verwaschenen Fassaden, die Geschichten zu erzählen schienen. Die Fenster standen offen, das Licht fiel weich durch weiße Vorhänge. Menschen saßen draußen in Cafés, tranken Kaffee, lachten. Kein hektisches Drängen, kein grauer Trott.

Die Farben waren anders hier. Das Blau des Himmels wirkte tiefer, das Grün lebendiger. Selbst der Wind fühlte sich weich an.

Isabella stieg am zentralen Platz aus, ihre Knie noch etwas wacklig vom Flug. Ein Platz mit alten Kastanienbäumen, Kopfsteinpflaster, ein Brunnen in der Mitte. Kinder spielten, ein Straßenmusiker spielte Gitarre.

Sie blieb stehen und ließ den Moment in sich sinken.

Ich bin hier, dachte sie. Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich – nicht sicher, aber wach.

Dann zog sie ihr Handy aus der Tasche und schrieb eine kurze Nachricht:
„Bin angekommen. Alles fühlt sich echter an.“

Sergios Antwort kam nur wenige Minuten später:
„Willkommen. Ich zeig dir morgen mein Lieblingscafé. Wir treffen uns um 11 Uhr auf dem Markt.“

Isabella lächelte.
Der erste Tag war noch nicht vorbei – und es fühlte sich schon an wie der Anfang eines neuen Lebens.

Zwischen Ständen und Worten

Der Wochenmarkt lag auf einem kleinen Platz zwischen alten Steinhäusern. Schon von Weitem hörte Isabella das Stimmengewirr, das Rufen der Händler, das Krachen von Obstkisten. Die Luft war erfüllt vom Duft reifer Orangen, von gebratenem Fisch, frisch gebackenem Brot und der leichten Schärfe von Manchego-Käse. Menschen schoben sich dicht aneinander vorbei, es war lebendig, chaotisch, und doch wirkte alles harmonisch – ein gewachsener Rhythmus, zu dem sie noch keinen Zugang hatte.

Sie trug ihren Rucksack locker über der Schulter, das Handy in der Hand. „Ich bin gleich da“, hatte Sergio geschrieben. Ihr Herz klopfte schneller, als sie sich zwischen den Ständen bewegte, als suchte sie nach einem versteckten Signal.

Und dann sah sie ihn.

Er stand an einem Obststand, die Sonnenbrille in die Haare geschoben, ein Netz mit Zitronen in der Hand, das Handy lässig in der anderen. Kein Zweifel: Sergio Menéndez Clavero, der Mann von den Fotos. Nur wirkte er in echt noch etwas schlaksiger, lebendiger, wärmer. Seine Bewegungen waren ruhig, fast langsam – jemand, der sich Zeit nahm.

Isabella blieb kurz stehen.
Dann hob er den Blick – und erkannte sie sofort.

Ein Lächeln zog sich über sein Gesicht, offen, ohne Zögern. Er kam auf sie zu.
„Isabella?“ fragte er mit weichem Akzent.

„Ja…“ Ihre Stimme war leiser, als sie es geplant hatte. Sie lächelte zurück, ein bisschen unbeholfen.

Ein kurzer Moment, in dem beide nicht genau wussten, wie man sich begrüßt, wenn man sich eigentlich längst kennt, aber doch fremd ist. Schließlich gab er ihr einfach die Hand – seine warm, fest, ehrlich.

„Du bist wirklich gekommen.“

„Ich konnte nicht anders.“

Er lachte leise, fast überrascht. „Dann zeig ich dir jetzt meinen Lieblingsmarkt.“

Sie gingen nebeneinanderher, zwischen den Ständen. Er deutete auf getrocknete Tomaten, auf einen Stand mit alten Olivensorten, erklärte, wie man „pimientos de padrón“ richtig brät. Isabella hörte mehr als sie sprach – die Wörter klangen weich, rollten anders durch den Raum. Und dazwischen spürte sie etwas: Neugier, vorsichtige Vertrautheit. Keine Romantik, noch nicht – aber die Ahnung von etwas, das wachsen könnte.

Als sie schließlich gemeinsam auf einer kleinen Mauer saßen und Churros aßen, sagte Sergio, ohne sie anzusehen:
„Ich wusste nicht, ob du wirklich kommst. Aber ich bin froh, dass du’s getan hast.“

Isabella nickte. „Ich auch.“

In diesem Moment schien sogar der Lärm des Markts für einen Augenblick still zu stehen.

Zögernde Schritte

Isabella spürte ihre eigenen Hände zu deutlich, als sie nebeneinander durch die engen Gassen liefen. Jeder Schritt hallte leicht auf dem Pflaster wider, begleitet vom Summen der Stadt – Gesprächsfetzen, ein bellender Hund, irgendwo das metallene Klappern eines Rollladens. Sergio schien ebenfalls nicht ganz bei sich. Er nestelte an seinem Rucksackriemen, streifte sich immer wieder die Haare aus der Stirn, obwohl der Wind das längst erledigt hatte.

„Ich spreche kein Deutsch. Es ist seltsam, jetzt… mit dir zu sprechen“, sagte er schließlich auf Englisch. Sein Blick war kurz, fast scheu, aber freundlich.

„Dein Englisch ist besser als mein Spanisch“, entgegnete Isabella und lachte leise. Dann schob sie rasch ein „Gracias“ hinterher – ihr erster Versuch, mutig, unbeholfen.

Sergio lächelte schief. „Muy bien.“
Sie lächelte zurück, ein bisschen erleichtert.

Es war diese seltsame Zwischenzeit: nicht mehr anonym, aber noch keine Freunde. Sie wussten viel übereinander und doch war alles neu. Wie seine Stimme klang, wenn er ganz leise sprach. Wie sie an ihrem Ohrläppchen zupfte, wenn sie verlegen war.

„Ich weiß nicht genau, was du dir von dieser Reise erhoffst“, sagte er irgendwann, während sie an einer kleinen Kirche vorbeikamen, deren Türen offenstanden.
„Ich auch nicht“, gab sie ehrlich zurück. „Nur, dass ich da sein wollte, wo du warst.“

Er blieb stehen. Schaute sie an. Keine großen Worte. Nur ein Nicken, langsam. Dann gingen sie weiter. Zwei Menschen auf zögernden Schritten, nervös – aber mit einem kleinen, wachsenden Funken im Herzen: Neugier. Vielleicht auch etwas mehr.

📎 Abspann:
„Manchmal beginnt Nähe nicht mit großen Worten, sondern mit kleinen Gesten im Lärm einer fremden Stadt.“

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Blick aus dem Flugzeugfenster, die Wolken schimmern im Sonnenlicht

Kapitel 13 – Über den Wolken

📖 Vorspann:
„Ein letzter Kaffee im Büro, ein ehrliches Lächeln, dann der Sprung ins Ungewisse. Isabella steigt ins Flugzeug – und zum ersten Mal beginnt ihre Reise wirklich.“

Hier geht es zurück zu Kapitel 12- Bleib nicht stehen

Kapitel 13

Isabella lehnte sich zurück. Ein stilles Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Es war kein großer Triumph. Niemand hatte applaudiert, niemand hatte es bemerkt. Aber in ihr war etwas in Bewegung geraten. Kein Traum mehr, keine bloße Sehnsucht – sondern ein erster Schritt.

In zwei Monaten würde sie zum ersten Mal allein reisen. Nach Spanien. Nicht zu Sergio, nicht zu einem Ziel, das schon feststand – sondern auf einen Weg, der endlich ihr eigener war.

Abschied in der Kaffeeküche

Der letzte Arbeitstag vor dem Urlaub war überraschend still. Keine Überraschungen, keine Katastrophen, nur das leise Surren der Klimaanlage und das Tippen der Tastaturen. Isabella hatte die Stunden gezählt, nicht weil sie sich langweilte, sondern weil etwas Neues zum Greifen nah war.

In der Kaffeeküche goss sie sich ein letztes Mal für die Woche einen Becher Filterkaffee ein, als Daniela hereinkam. Die Kollegin, mit der sie sich in den letzten Monaten zaghaft angefreundet hatte – über Mittagspausen, geteilte Blicke im Büro, kleine Gespräche über Reisen und Bücher.

„Du siehst anders aus und das liegt nicht nur an deiner Frisur.“, sagte Daniela mit einem prüfenden Blick. „Irgendwie… heller.“

Isabella musste lachen. „Vielleicht liegt’s am Kaffee.“

„Du hast doch Urlaub, oder? Wohin geht’s?“

Isabella zögerte. Sie hatte niemandem genau erzählt, was sie plante. Nicht aus Geheimniskrämerei, sondern weil es sich so fragil angefühlt hatte, wie etwas, das zerbrechen könnte, wenn man zu früh darüber sprach.

Aber jetzt nickte sie.

„Spanien. Zwei Wochen.“

„Allein?“, fragte Daniela überrascht, aber ohne Spott.

„Ja.“ Isabella blickte in ihre Tasse, dann zu Daniela. „Ich muss etwas herausfinden.“

Daniela nickte langsam, als würde sie verstehen, auch wenn sie keine Fragen stellte. „Na dann… ich hoffe, du findest es.“

Ein Lächeln. Ein ehrlicher Moment zwischen zwei Frauen, die beide mehr zu fühlen schienen, als sie aussprachen.

„Pass auf dich auf“, sagte Daniela.

„Mach ich“, antwortete Isabella. Und innerlich fügte sie hinzu: Endlich.

Über den Wolken

Der Flughafen war laut und überfüllt, das Neonlicht grell und unbarmherzig. Menschen hetzten mit Rollkoffern über die glänzenden Böden, Ansagen hallten über Lautsprecher, Stimmen in vielen Sprachen, von fernes Leben, die sich kreuzten und wieder verloren.

Isabella saß am Gate, den Rucksack auf dem Schoß, das Ticket fest in der Hand. Ihre Finger zitterten leicht, obwohl sie es sich nicht eingestehen wollte. Auf dem Bildschirm über ihr stand: Flug EW2516 – Düsseldorf nach Santander – pünktlich.

Zum ersten Mal in ihrem Leben flog sie allein.

Ihr Herz klopfte wie bei einer Prüfung, deren Fragen sie nicht kannte. Was mache ich da eigentlich? flüsterte eine Stimme in ihr. Du gehörst hier nicht hin. Doch sie dachte auch an die Zeilen aus Sergios letztem Blogbeitrag. An den nebligen Pfad, an das Kind, das durch den Wald ging, an das Verschwinden seines Urgroßvaters, das ihn nie losgelassen hatte.

Jetzt verstand sie diesen Nebel ein wenig besser. Angst war nicht das Ende, sondern vielleicht der Anfang.

Als sie durch den Gang zum Flugzeug ging, spürte sie, wie ihr Magen sich zusammenzog. Die letzten Monate blitzten auf wie ein innerer Film: das Büro, die Tränen in der Nacht, das heimliche Spanischlernen, der erste Kommentar, der Traum im Nebel.

Dann hob das Flugzeug ab. Düsseldorf wurde kleiner, die Straßen zu Linien, die Häuser zu Schachteln, und bald verschluckten die Wolken alles.

Isabella blickte aus dem Fenster. Ihr Puls ging schneller, während die Turbinen dröhnten. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete. Aber da war dieses Gefühl – eine zarte Mischung aus Hoffnung und Angst.

Sie atmete tief ein. Ich bin unterwegs.

📎 Abspann:
„Manchmal ist ein Flug mehr als ein Flug – er ist das Versprechen, dass das Alte unten bleibt.“

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Ein startendes Flugzeug im Sonnenuntergang von einem Fenster aus gesehen

Kapitel 12 – Bleib nicht stehen

📖 Vorspann:
Ein Satz, eine Antwort – und plötzlich bewegt sich etwas. Isabella wagt den ersten unwiderruflichen Schritt hinaus aus ihrem alten Leben.

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Ein Lichtstreif im Posteingang

Isabella saß am nächsten Tag noch lange vor dem Bildschirm, obwohl ihre Aufgaben längst erledigt waren. Die Worte von Frau Klenke hallten in ihr nach wie ein Echo, das sich nicht abschütteln ließ. Fehler. Konzentration. Verlässlichkeit. Alles klang wie ein Urteil über ihr ganzes Leben, nicht nur über eine Tabelle.

Und dazwischen blitzten, wie aus einer anderen Welt, noch immer einzelne Bilder von gestern auf – das andalusische Landhaus im Abendlicht, der gedeckte Tisch, das Gelb der Wände.

Sie öffnete einen neuen Tab, fast automatisch. Sergios Blog war wie ein Zufluchtsort geworden – weit entfernt von fluoreszierendem Licht und künstlicher Höflichkeit. Doch heute war selbst sein letzter Beitrag über einen nebligen Morgen in den Bergen Aragoniens nicht genug, um die Unruhe in ihr zu beruhigen.

Nach langem Zögern klickte sie auf „Kontakt“. Eine kleine Nachricht, nur ein paar Sätze:

„Hola Sergio,
Ich wollte nur sagen, dass mich deine Texte in letzter Zeit sehr berühren. Ich habe heute einen dieser Tage, an denen man an allem zweifelt – besonders an sich selbst. Vielleicht kennst du das Gefühl.
Grüße aus dem kalten Gelsenkirchen,
Isabella“

Sie schickte die Nachricht ab, ohne zu erwarten, dass er antworten würde. Vielleicht war es kindisch, vielleicht auch mutig – sie wusste es nicht.

Sergio

Während Isabellas Nachricht ihren Weg durch Kabel und Server nahm, war Sergio in den Ausläufern der Pyrenäen unterwegs. Ein schmaler Pfad zwischen alten Steinmauern, Kies knirschte unter den Stiefeln, die Kamera filmte mit – für die Follower, die sein „authentisches Leben“ sehen wollten.

Später würde er daraus einen Zwei-Minuten-Clip machen: goldener Morgenhimmel, Atemwolken in der Kälte, ein nachdenklicher Satz über das Loslassen. Und darunter würden Kommentare eintrudeln: Herz-Emojis, Fragen nach seiner Jacke, Bitten um Tipps für günstige Flüge nach Spanien.

Er wusste, wie das Spiel lief. Gesponserte Ausrüstung, Werbeverträge mit Outdoor-Marken, Affiliate-Links unter jedem Beitrag. Es reichte für Miete, Kaffee und Wanderkarten – und dafür, Entscheidungen zu vermeiden.

Manchmal, wenn er in den Bergen unterwegs war, kam ihm eine Wanderung in den Sinn, die ihn vor Jahren fast bis an die französische Grenze geführt hatte. Der Pfad war schmal gewesen, gesäumt von Ginster und Wacholder, und endete an kaum noch sichtbaren Ruinen. Grundmauern, halb überwachsen. Terrassenfelder, längst nicht mehr bestellt. Auf einer alten, halb verwaschenen Karte hatte der Ort noch einen Namen getragen: Sanluz de Montarroyo.

Der Zettel mit dieser Karte lag irgendwo in derselben Schublade wie der kleine Messingschlüssel, den er nicht wegwerfen konnte.

Manchmal, spät abends vor dem Laptop, fragte er sich, ob er nicht lieber ein Familienleben hätte. Kein perfektes Bild, sondern Alltag ohne Filter. Aber dann schob er den Gedanken weg wie einen störenden Tab im Browser. Morgen war auch noch ein Tag, um Antworten zu finden.

Am nächsten Morgen, kurz vor Arbeitsbeginn, leuchtete eine neue E-Mail in ihrem Posteingang auf.

„Hola Isabella,
Ich kenne das Gefühl nur zu gut. Zweifel sind wie Nebel – sie machen alles undeutlich, aber manchmal zeigen sie auch, wo das Licht ist. Du bist auf dem Weg, das spürt man zwischen deinen Zeilen. Bleib nicht stehen.
Un abrazo desde el norte,
Sergio“

Isabella las die Zeilen mehrmals. Etwas in ihr verschob sich – leise, aber spürbar. Die Worte trafen einen wunden Punkt und heilten ihn im selben Atemzug.

Der Entschluss

Isabella hatte den ganzen Tag über ihre E-Mails geprüft, die akuten Probleme in der Arbeit beseitigt, die Zahlen abgeglichen und die Berichte fertiggestellt. Doch am Nachmittag, als sie die letzte Mail abschickte und die Zeit auf der Uhr sah, war es, als ob ein unsichtbares Gewicht von ihren Schultern genommen worden wäre.

Sie fuhr ihren PC herunter und lehnte sich zurück. Ihr Blick wanderte zu den grauen Wolken, die sich vor den Fenstern des Büros türmten. Das vertraute Gefühl der Erschöpfung kratzte an ihr, doch diesmal war etwas anders. Der Gedanke an ihre Routine, an das Büro, an den Alltag, der sie immer wieder in seine gewohnten Bahnen zog, konnte ihr nichts mehr nehmen. Sie spürte ein leises, aber immer stärker werdendes Bedürfnis: Etwas musste sich ändern.

Mit zitternden Händen griff sie nach ihrem Handy und öffnete ein Reiseportal. Ihre Finger tanzten über das Display, suchten nach günstigen Flügen nach Spanien. Sie hatte nie viel über Spontanität nachgedacht, hatte sich nie wirklich in den Wind geworfen, den sie immer nur in den Blogs anderer gesehen hatte.

Und doch war es jetzt die einzige Möglichkeit. Die einzige Chance, den leeren, grauen Rahmen ihres Lebens zu verlassen.

Der Bildschirm zeigte ihr günstige Flüge nach Santiago de Compostela – der historische Pilgerort, der in ihren Gedanken immer präsenter geworden war, je mehr sie sich in Sergios Texte vertieft hatte. Ein kleiner Gedanke, eine leise Ahnung: Hier könnte es beginnen. Hier könnte sie in diesem fremden Land, mit all den Fragen und dem Gefühl der Ungewissheit, den ersten Schritt in eine neue Richtung machen.

Mit einem tiefen Atemzug, als wollte sie die ganze Luft der alten Welt hinter sich lassen, klickte sie auf „Buchen“. Zwei Wochen. Sie würde einfach wegfahren. Ganz allein.

Der Flug war in zwei Monaten. Genug Zeit, um sich vorzubereiten, sich von allem zu lösen. Genug Zeit, um ihre Entscheidung zu verarbeiten – und vielleicht die Frage, ob sie überhaupt zurückkommen wollte.

Das Gefühl war wild, unvermittelt, wie ein ungezähmter Sturm, der in ihr tobte. Aber es fühlte sich richtig an.

Der Gedanke, dass sie sich dieser Reise stellen würde, erfüllte sie mit einer seltsamen Mischung aus Nervosität und Erwartung.

Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Zwei Wochen Mut

Es war ein Mittwoch, kurz vor Feierabend, als Isabella in der Teeküche stand und ihre leere Tasse anstarrte. Der Pfefferminzduft war längst verflogen, übrig geblieben war nur der bittere Nachgeschmack ihrer Entscheidungslosigkeit. Die Worte ihrer Chefin von letzter Woche klangen noch nach – als wäre sie jemand, der gerade noch so „funktionierte“, aber innerlich längst abwesend war.

Doch da war auch Sergios letzte Nachricht. Kurz, herzlich, und doch kraftvoll. „Bleib nicht stehen.“ Sie hatte diesen Satz abgeschrieben, auf einen Zettel neben ihrem Bildschirm geklebt. Und nun war er mehr als nur ein Satz.

Zurück am Platz, klickte sie auf das Intranet. Urlaubsanträge. Die Seite war nüchtern, bürokratisch, grau – wie fast alles in diesem Gebäude. Sie hielt kurz inne, ihr Finger schwebte über der Maus. Dann ein Klick. Kalenderansicht. Zwei Wochen im Frühling. Sie wählte die Tage aus, trug den Grund ein: „Privatreise“.

Ein letzter Blick, ein tiefer Atemzug.

„Absenden.“

Ein Fenster erschien: „Ihr Urlaubsantrag wurde erfolgreich übermittelt.“

📎 Abspann:
„Manchmal beginnt eine Reise nicht am Flughafen, sondern in einer einzigen Nachricht.“

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Ein Wanderer steht auf einem Bergpfad und blickt einem einzelnen Wolf entgegen, der wenige Meter entfernt den Weg versperrt. Dramatisches Licht, felsige Landschaft, gespannte Atmosphäre.

Wolf von Aragón

Der Wolf von Aragón
Knapp unterhalb der französischen Grenze lag ein Tal, das kaum noch jemand betrat. Der Pfad war überwuchert, der Wind roch nach Wacholder und feuchtem Stein. Sergio ging langsam, nicht wegen der Steigung, sondern weil hier jede Bewegung wie ein Eingriff wirkte – als müsste man um Erlaubnis bitten, weiterzugehen.

Zwischen den Büschen tauchten Grundmauern auf, so niedrig, dass man sie für zufällig liegende Steine halten konnte. Reste von Terrassenfeldern, längst vom Ginster zurückerobert. Eine Bruchstelle in einer Mauer trug noch einen Schriftzug, halb von Moos verdeckt: Sanluz de Montarroyo.

Er stand eine Weile davor, las die Buchstaben, als könnte das allein etwas zurückholen. Da knackte es im Unterholz. Sergio hob den Kopf – und sah ihn: einen Wolf, grau, mager, reglos, die Augen auf ihn gerichtet. Für einen Moment war die Welt still, nur Wind im Wacholder. Kein Knurren, kein Fliehen, nur dieses unergründliche Ansehen, als hätte das Tier entschieden, ihn zu prüfen. Dann wandte es sich ab, verschwand zwischen den Steinen, als wäre es nie da gewesen.

In seiner Familie hatte man ihn manchmal den „Wolf von Aragón“ genannt – halb spöttisch, halb ehrfürchtig. Nun war er sich nicht sicher, ob der Name ihn gefunden hatte oder er den Namen.

Plötzlich fiel ihm ein alter Schlüssel ein – verrostet, längst unbrauchbar. Als Kind hatte er ihn oft in den Händen gedreht, während sein Großvater ihm Geschichten erzählte: dass dieser Schlüssel einst zu einer Kapellentür gehört habe. Dass er, Sergio, der Nachkomme eines tapferen Ritters sei, der eine arabische Prinzessin geheiratet und eben jene Kapelle gebaut habe.

Manchmal, wenn er älter war, fragte er sich, ob sein Großvater die Geschichte selbst geglaubt hatte – oder ob sie nur eine hübsche Erfindung war, um einen rostigen Schlüssel zu retten. Aber als Junge hatte er nicht gefragt. Er hatte einfach zugehört und die Bilder im Kopf wachsen lassen.

Er machte ein Foto – nicht für den Blog, nicht für Sponsoren. Dieses Bild gehörte nicht ins Netz. Es gehörte dorthin, wo er sich selbst noch suchte.

Auf dem Rückweg kam ihm der Gedanke, dass er hier vielleicht länger bleiben könnte. Nicht für immer, aber lang genug, um zu sehen, ob man zwischen bröckelnden Steinen und verwehten Pfaden etwas findet, das näher an Zuhause ist als jede Wohnung in der Stadt.

In seiner Familie hatte man ihn manchmal den „Wolf von Aragón“ genannt – halb spöttisch, halb anerkennend. Weil er rastlos war, schwer zu fassen, nie ganz irgendwo ankam. Ein Tier, das Spuren hinterlässt, aber sich nie zähmen lässt. Sergio lächelte kurz bei dem Gedanken. Vielleicht war es gar nicht so falsch, dass ausgerechnet er hier stehengeblieben war, an einem Ort, der sich selbst gegen das Vergessen wehrte.

Entscheidungen konnten warten.

📜 Autorenkommentar

Manche Legenden tragen mehr Gewicht als jeder Beweis.
Sergio spricht selten über diese Geschichte. Vielleicht, weil er nicht weiß, ob sie wahr ist. Vielleicht, weil er ahnt, dass es keine Rolle spielt. In seinem Leben war dieser Schlüssel immer mehr als Metall – er war ein Versprechen, das keiner einlösen musste.

Isabella am chaotischen Schreibtisch, ein Glas Wein

Kapitel 4 – Die Nacht, in der sie ihn fand

Vorspann:

Isabella klickt. Nur ein Video. Dann noch eins.
Was als beiläufige Suche beginnt, wird zu einer Reise ins Innere – und der Moment, in dem sich zum ersten Mal etwas verändert.
Ein Mann spricht über seinen Großvater.
Ein Bild flackert über den Bildschirm.
Und plötzlich ist da ein Ziehen, ein Kloß im Hals – ein Anfang.

« Zurück zu Kapitel 3- Alltag in Grau

Sie griff zur Fernbedienung, schaltete den Fernseher aus, stand auf und setzte sich an den kleinen Schreibtisch in der Ecke ihres Wohnzimmers. Der Laptop erwachte mit einem sachten Surren zum Leben, und bald glühte das vertraute Weiß der Suchmaschine über den Bildschirm.

„Sergio Menendez Clavero“, tippte sie ein.

Die ersten Treffer kannte sie bereits: sein Instagram-Profil, der Blog, einige Fotobeiträge in Reiseportalen. Doch dann fiel ihr Blick auf einen Link zu YouTube – „Menendez Viajero – Offizieller Kanal“. Ein Hauch von Neugier zog ihr die Schultern straff – was würde sie auf diesem Kanal wohl entdecken? Für einen Moment hielt sie inne, erinnerte sich an das verschwommene Foto aus dem Blog, an das Gefühl, das sie beim Lesen von Sergios Worten nicht losgelassen hatte. Vielleicht würde sie in den Videos mehr über ihn und seine Geschichte erfahren, vielleicht Antworten finden, die sie gar nicht gesucht hatte. Mit klopfendem Herzen klickte sie auf den Link.

Das Kanalbild zeigte ihn an einem Berghang, die Kamera in der Hand, hinter ihm ein weiter Horizont, durchzogen von Licht und Wolken. Sie klickte auf das neueste Video. Es begann mit einer ruhigen Kamerafahrt durch einen nebligen Wald – der gleiche Pfad wie auf dem Foto im Blog, diesmal in Bewegung. Vogelrufe, das sanfte Rascheln von Blättern, das ferne Tropfen von Wasser, und ein feiner Duft von feuchtem Moos lag in der Luft. Ein kühler Windhauch strich über ihre Haut, ließ sie für einen Moment frösteln. Seine Stimme aus dem Off war ruhig, leicht rau, mit einem weichen kastilischen Akzent.

Sie verstand kein Spanisch, aber sie las die Untertitel. Obwohl sie kein Spanisch verstand, halfen ihr die sorgfältig geschriebenen Untertitel, dem Inhalt zu folgen und die Bedeutung der Worte zu erfassen.

Während sie das Video betrachtete, spürte sie, wie die Ruhe des Waldes langsam auf sie überging und ihr Herz einen Moment lang leichter wurde.

„Ich war sieben, als ich zum ersten Mal diesen Weg entlangging. Mein Großvater hatte mir Geschichten erzählt, aber es war mein Urgroßvater, der in diesen Wäldern verschwand. Franco, der Krieg… vieles wurde nicht gesagt. Nur Schweigen. Ich gehe heute für ihn – vielleicht auch für mich.“

Isabella spürte, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle bildete. Sie lehnte sich zurück, starrte auf den Bildschirm, als könnte sie durch das Glas hindurch einen Teil dieser Geschichte begreifen. Das Bild wechselte: ein altes Schwarzweißfoto eines jungen Mannes in Uniform, eingeblendet über dem rauschenden Wald. Dann ein Blick über ein Tal in Galicien, Wolken, die sich an den Hängen verfingen, wie Gedanken, die nicht zu fassen waren.

Das Video endete still – keine Musik, kein Abspann. Nur Nebel. Und sein letzter Satz:

„Ich will wissen, woher ich komme. Vielleicht finde ich so heraus, wohin ich gehe.“

Isabella starrte noch eine Weile auf das dunkle Fenster, in dem gerade eben noch seine Stimme erklungen war. Dann klickte sie auf das nächste Video, und das nächste. Die Zeit verlor sich. Und zum ersten Mal seit langer Zeit spürte sie etwas, das wie ein leises Ziehen an ihrer Seele wirkte – nicht laut, nicht bedrohlich, sondern wie der erste Atemzug nach einem langen, grauen Winter.

Die Stunden verstrichen unbemerkt.

Isabella saß wie festgewachsen an ihrem kleinen Schreibtisch, die Lampe über ihr warf ein blasses Licht auf die Tastatur, während der Rest der Wohnung in Dunkelheit versank. Draußen war es längst tiefe Nacht geworden, doch in ihr war ein neues Leuchten erwacht – ein fiebriges, ruheloses Licht, das sie durch Links, Videos, Blogeinträge und Bilder trieb wie durch ein Labyrinth aus Stimmen, Erinnerungen und Orten, die nichts mit ihrem Leben zu tun hatten – und doch alles damit.

Sie klickte sich durch Sergios YouTube-Archiv, las seine älteren Blogbeiträge, folgte ihm virtuell durch die schroffen Berge Asturiens, die trockenen Hügel Aragóns und die Nebelwälder Galiciens. Immer wieder tauchte das Motiv auf – ein schmaler Pfad, eingefasst von Moos und nassem Laub, fast wie ein Portal in eine andere Welt. Jedes Bild, jedes Wort, jede kleine Erzählung von Kindheit, Verlust und Suche rührte an etwas in ihr, das sie lange verdrängt hatte.

Sie vergaß, Wasser zu trinken, vergaß, den Laptop an den Strom zu hängen, bis der Bildschirm kurz flackerte und sie hastig das Kabel einstöpselte. Die Welt außerhalb des flimmernden Monitors verlor an Bedeutung. Das Büro, die grauen U-Bahn-Fahrten, die leeren Gespräche, die sterile Wohnung – sie erschienen ihr wie die Kulisse eines fremden Lebens.

In einem älteren Video erzählte Sergio von einem einzigen Foto seines Urgroßvaters – aufgenommen wenige Jahre vor dessen Verschwinden. Die Kamera hielt auf das vergilbte Bild. Der Blick des Mannes war ernst, beinahe wachsam. „Ich frage mich oft,“ sagte Sergio leise, „ob er ahnte, dass er nie zurückkehren würde. Ich frage mich, ob er Angst hatte. Und ob jemand auf ihn gewartet hat.“

Da, ganz unvermittelt, platzte in Isabella etwas auf.

Die Tränen kamen zuerst langsam, beinahe widerwillig – doch dann brach alles hervor. Schluchzen schüttelte ihren Körper, unkontrolliert, hemmungslos. Sie lehnte sich nach vorn, vergrub das Gesicht in den Händen, die Schultern bebten, der Atem stockte. Es war kein gezielter Schmerz, eher ein Strom aus Sehnsucht, Verlust und einer tiefen, stillen Erkenntnis: dass sie selbst nie gewartet hatte. Auf niemanden. Und dass auch niemand auf sie gewartet hatte.

Sie war 28 Jahre alt und hatte es nie geschafft, länger bei jemandem zu bleiben. Immer wieder hatte sie gehofft, diesmal würde es anders werden – dass sie vielleicht endlich genug wäre, dass jemand bleiben wollte. Doch jedes Mal zerbrach etwas, bevor es wirklich ernst werden konnte. Mal hatte man ihr gesagt, sie sei zu langweilig, zu festgefahren in ihren Gewohnheiten, mal war sie angeblich nicht spontan genug. Sogar hässlich oder dick hatte man sie genannt. Jedes dieser Worte brannte sich tief in ihr fest, ließ sie nachts an sich zweifeln und überlegte, ob sie je jemandem wirklich genügen würde. Sie fragte sich oft, ob es an ihr lag, ob sie zu wenig gab oder zu viel verlangte – und manchmal spürte sie, wie sich eine leise Angst in ihr ausbreitete, dass sie nie jemanden finden würde, der bleiben wollte.

Sie erinnerte sich an ihren ersten Freund Stephan. Sie waren nur wenige Monate zusammen gewesen, doch schon früh hatte sich ein Gefühl von Distanz eingeschlichen. Oft hatte sie seine Spontaneität und Rastlosigkeit verunsichert, während er ihre ruhige Art manchmal als Bremse empfand. Als er schließlich ging, war sie 19 Jahre alt. „Ich will keine Freundin, die innerlich eine alte Jungfrau ist. Ich will eine, die das Leben genießen kann“, hatte er gesagt. Seine Worte trafen sie unerwartet hart – als hätte er etwas in ihr offengelegt, das sie selbst kaum benennen konnte. Was meinte er damit? War sie wirklich so zurückhaltend, so anders als andere? Noch Jahre später hallte dieser Satz in ihr nach, tauchte in Momenten der Unsicherheit wieder auf und ließ sie an sich zweifeln. Die Trennung hatte sie damals tief getroffen, nicht nur wegen des Verlusts, sondern auch, weil sie das Gefühl hatte, dass ihr etwas Grundlegendes fehlte – etwas, das sie erst viel später zu suchen begann.

Sie wusste nicht, wie lange sie so saß. Vielleicht Minuten, vielleicht eine Stunde. Irgendwann versiegten die Tränen, hinterließen ein leeres, klares Gefühl – wie nach einem Gewitter. Der Bildschirm zeigte das Ende des Videos. Nebel über Bäumen. Kein Ton. Nur Stille.

Isabella atmete tief ein. Dann schloss sie langsam den Laptop. Der Morgen war nicht mehr fern. Und etwas in ihr war zum ersten Mal in Bewegung geraten.

Isabella saß immer noch an ihrem Schreibtisch, die Handflächen flach auf dem Laptop, aber ihre Gedanken liefen weiter, unaufhaltsam. Sie dachte an all die Orte, die Sergio bereiste, an all die Geschichten, die er erzählte, an das, was er suchte und fand – oder auch nicht. Und plötzlich, inmitten der Stille ihres kleinen, leeren Zimmers, war da dieses Bild in ihrem Kopf, das wie ein unwillkommener, aber faszinierender Gedanke auftauchte.

Was wäre, wenn sie Teil von Sergios Leben wäre?

Der Gedanke kam wie ein Blitz und ließ sie für einen Moment still in der Dunkelheit verharren. Sie stellte sich vor, wie es wäre, gemeinsam durch die nebligen Wälder Galiciens zu gehen, den schweren, feuchten Boden unter ihren Füßen zu spüren, die kühle Luft einzuatmen, die Geschichten zu hören, die er in den leeren Raum zwischen ihnen legte. Vielleicht wären sie zusammen durch diese alten Dörfer gewandert, hätten in den verblassten Gemäuern vergangener Zeiten die Spuren seiner Familie entdeckt. Vielleicht hätte sie sich an seiner Seite verloren und wiedergefunden, genauso wie er selbst es in seiner Suche tat. Vielleicht hätte sie seine Hand gehalten, ohne Worte – nur durch das Teilen der Erinnerung an verlorene Menschen, verlorene Zeiten.

Und dann stellte sie sich vor, wie sie nicht nur eine Freundin von Sergio wäre, sondern die Frau, mit der er sein Leben teilte. Sie hatte die Bilder von ihm gesehen, auf denen er ganz bewusst seinen Körper gezeigt hatte, den muskulösen Oberkörper und auf einem Bild war er beim Schwimmen in einem See zu sehen, nackt im Sonnenschein. Isabella atmete tiefer, als sie an das Bild dachte. Sergio war älter als sie, etwa Ende 30, aber er war attraktiv. Bisher waren die Männer in ihrem Leben anders gewesen, schlaffer, weicher. In Sergio sah sie einen völlig anderen Typus Mann.

In ihrer Vorstellung war sie nicht mehr die Frau, die durch überfüllte U-Bahn-Wagen zu einem sterilen Büro in Gelsenkirchen fuhr, nicht mehr diejenige, die nach Feierabend in einer leeren Wohnung vor einem noch leereren Fernseher saß. Sie war jemand anderes, jemand, der mit ihm in diese fremde Welt eintauchte – eine Welt voller unerzählter Geschichten und längst verblasster Spuren. Gemeinsam gingen sie durch die feuchten Nebel des Waldes, in denen jeder Schritt wie eine Reise ins Unbekannte erschien und der Boden unter ihren Füßen nach nasser Erde roch. Vielleicht begleitete sie ihn nicht nur durch die Nebel, sondern auch durch die Schatten seiner eigenen Vergangenheit, in die er sich so verzweifelt zurückzuwagen schien. Sie spürte seine Unsicherheit – das leise Zögern in seinen Bewegungen, die unausgesprochenen Fragen in seinem Blick – und ein Gedanke formte sich in ihr: Sie wollte ihm Halt geben, wollte jemand sein, bei dem er sich fallenlassen konnte. In diesem Moment, zwischen Nebel und Erinnerung, verband sie mehr als nur das Gehen; es war das stille Versprechen, füreinander da zu sein – auch dann, wenn Worte fehlten.

Wenn ein Satz hängen geblieben ist,
wenn etwas in dir nachhallt,
dann schreib es gern hier unten.
Keine Pflicht. Nur, wenn du magst.

Die nächsten Kapitel kommen
immer sonntags, wenn der Nebel noch tief hängt.

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